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Das (weg-)hörende Herz

Eine Einsendung im Rahmen des Essaywettbewerbs zum Thema "Selbstmord"

    Jedes Leben beginnt mit der Geburt und endet unweigerlich mit dem Tod.[1] Die allermeisten Menschen sterben durch Altersschwäche oder andere unverschuldete Gründe. Aber: Solange der Mensch auf der Erde wandelt, so lange gibt es auch Menschen, die durch ihre eigene Hand aus dem Leben scheiden. Erste greifbare Hinweise und Erzählungen, die eine Annäherung an jenes viel bedachte, aber selten offen angesprochene Thema ermöglichen, ergeben sich aus antiken Quellen. Bereits 1990 hat der niederländische Althistoriker Anton van Hooff in seinem Band „Zelfdoding in de antieke wereld“[2] eine Einführung in jene uralten, überlieferten literarischen Zeugnisse, aber auch in allgemeine Motive zur Selbsttötung in der Antike vorgelegt.[3] Ebenso lassen sich im Alten und Neuen Testament Suizid-Darstellungen finden – in Texten also, die teilweise noch erheblich früher entstanden sind. Aus heutiger Sicht bemerkenswert: In einem moralischen Sinne werden diese Suizide in den meisten Fällen nicht bewertet.[4] Bereits dies lässt erahnen: Die öffentliche Bewertung der Selbsttötung unterlag allem Anschein nach in den letzten 2000 Jahren Menschheitsgeschichte einem Wandel. Dieser Wandel bedarf einer genaueren Betrachtung und Einordnung.

    Zunächst aber sollte der folgende Begriff geklärt werden: Selbstmord. Welch ein gewaltiger, welch ein leicht missverständlicher Begriff. In ihm kann eine abwertende Wahrnehmung jener Menschen anklingen. Dieser Begriff kann nicht immer wertfrei und insofern auch nicht immer für einen wertschätzenden Umgang geeignet sein: „Die stigmatisierende und auf eine Straftat hinweisende deutsche Bezeichnung Selbstmord wird nun häufiger zugunsten des Begriffs Suizid als Terminus technicus für die wissenschaftliche Betrachtung zurückgedrängt.“[5] Ebenso gilt es den Begriff „Freitod“ zu hinterfragen: „Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhdt.s findet man Freitod vor allem bei Schriftstellern, die die Freiheit betonen und die geltenden Moralvorstellungen kritisieren“.[6] Dabei bleibt unklar, wie frei der Mensch in seinen Entscheidungen wirklich ist – besonders oder gerade, wenn er sich in Ausnahmesituationen befindet. Es ist wohl wie bei allen heiklen oder wenigstens selten diskutierten Gegenständen – es braucht einen vorsichtigen, vielleicht sogar abwartenden Dialog: Billiger Populismus oder Polemiken können dem weiten Themenfeld des Suizids nicht gerecht werden.

    Bereits zuvor ist angeklungen: Selbsttötung, Suizid ist seit jeher ein Begleiter menschlicher Existenz – im Laufe der Äonen hat sich die Bewertung desselbigen durchaus gewandelt. Ausganspunkt aller fundierten Überlegungen muss die Antike sein. Schon damals wurde lebhaft über Recht und Unrecht, über die Legitimation des Suizids diskutiert – zwischen Akzeptanz und Ablehnung wandelten die damaligen Gedankengänge.[7] Aus heutiger Sicht erstaunlich ist die fehlende grundsätzliche Stigmatisierung. Innerhalb der Stoa etwa wurde der Suizid grundsätzlich toleriert, ja teilweise sogar akzeptiert: „Der bekannteste Vertreter war Seneca. Er wurde zum Inbegriff des Suizids im Altertum, der in ‚stoischer‘ Gelassenheit den Giftbecher austrank.“[8] Und Jann Schlimme hat in seiner Dissertation festgehalten: „Für Seneca ist der Zorn, die Wut […] der gefährlichste Affekt, der am ehesten durch die Stadttore hineinstürmt, da er jede Überlegung ausschließt, den Menschen überwältigt und […] fortzureißen droht.“[9] Diese Überzeugung Senecas ist faszinierend, impliziert sie doch, dass ein Suizid nur unter absolut rationalen Gesichtspunkten und wohl überlegt durchgeführt werden sollte – gewissermaßen frei von jeglichen externen Einflüssen. Wie frei, wie unabhängig kann ein Mensch wirklich entscheiden, der von dieser Welt Abschied nehmen möchte? Dies ist keine neue oder besonders innovative Frage, aber eine, die es immer wieder zu diskutieren gilt. Eine ähnliche Überzeugung klingt im Begriff des Bilanzsuizdis an – ein Mensch, der sich nach reiflicher und intensiver Diskussion aller Gründe für oder wider dieser weitreichenden Entscheidung für den Suizid entscheidet. Was in der Theorie leicht klingt, ist es in Wahrheit keinesfalls. Kann der Einzelne das Leben wirklich derart rational betrachten, um eine solche Entscheidung zu treffen? Eine Frage, die sich wohl kaum endgültig beantworten lassen wird, wenngleich die Idee eines absolut freiwilligen, eines rationalen Suizides, eben eines Bilanzsuizids doch unwahrscheinlich erscheint.[10] Unabhängig davon wird noch einmal klar, warum ein wertschätzender Dialog über Suizid so schwer möglich ist. Wie sich demjenigen, der bereit ist, alles von sich zu geben, annähern?

    Erst durch den Kirchenlehrer Augustinus von Hippo änderte sich in der Spätantike die allgemeine Bewertung des Suizids. In seinem Werk „De civitate Dei“ verurteilte er den Akt der Selbsttötung scharf.[11] Dabei verwob Augustinus die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Suizids mit jener nach der Sünde. Denn: Durch die Selbsttötung versündige sich der Mensch:[12] „Das Hauptargument, das Augustinus gegen den Suizid anführt, ist das der Schuld bzw. der Sünde.“[13] Zugleich leitete er aus dem fünften der zehn Gebote – „Du sollst nicht töten.“[14] – eine generelle Absage an den Suizid ab:[15] „An dem Rückgriff auf das 5. Gebot zeigt sich auch, daß Augustinus zwischen Töten und Selbsttötung zunächst keine konkrete Unterscheidung trifft, sondern beide Begriffe vielmehr gleichgesetzt werden.“[16] Diese Wahrnehmung der generellen Ablehnung des Suizids hat sich in der kollektiv-kulturellen Wahrnehmung des sog. Westens bis zum heutigen Tage gehalten. Und eigentlich stimmt es: Das Leben mit all seinen Facetten und Schattierungen ist in seinem Wert nur schwerlich zu fassen und von einzigartiger Besonderheit. Ein Suizid hingegen ist eine endgültige Entscheidung, dies es ganz ernsthaft zu durchdenken gilt. Ist es etwa wirklich möglich alle Konsequenzen, nicht nur für das Ich, sondern etwa auch für Nahestehende abzusehen?

    Ist es nicht so, dass eigentlich alle Überlegungen über die Legitimität des Suizides fehlgehen? Schließlich ist es eine Realität menschlicher Existenz, dass es seit Urzeiten jene gibt, die durch ihre eigene Hand aus dem Leben scheiden – unabhängig von moralischen Bewertungen. Diskussionen aus akademischen Elfenbeintürmen können an dieser Stelle nur schwerlich hilfreich sein – es braucht ganz praktische Ansätze, die den Umgang mit jenen thematisieren, die im Begriff sind, sich das Leben zu nehmen.[17]

    Ausgerechnet im Alten Testament, genauer im ersten Buch der Könige (1. Kön.) lassen sich Anregungen für einen angemessen-wertschätzenden Umgang mit Suizid finden: König Salomo wird in jenem Buch von Gott eine Bitte freigestellt.[18] Salomo erbittet sich ein „hörendes Herz“[19], damit er gut zu regieren verstehe.[20] Was aber meint jene auf den ersten Blick widersprüchliche Formulierung? Vielleicht ist es, wie die Journalistin Jacqueline Rath einmal für den Norddeutschen Rundfunk (NDR) geschrieben hat: „Ich glaube, ein hörendes Herz ist der Schlüssel zur Weisheit.“[21] Weisheit für alle Menschen aber wäre wohl ein, wenngleich hehres, zu hoch gegriffenes Ziel. Wichtiger scheint die folgende Bemerkung: „Und so ein Herz hat viel mit Zuhören und Hinterfragen, mit Offenheit und Interesse am Anderen zu tun.“[22] Es stimmt: Es braucht Empathie, das aufrichtige Gespräch der Menschen mit- und untereinander. Dann und nur dann können Irrungen und Wirrungen, Leid und manchmal Not im Leben von Mitmenschen erkannt werden. In Wahrheit werden an dieser Stelle deutlich größere Fragestellungen tangiert, die weit über dieses Essay hinausgehen – etwa: Welche Rolle soll der Einzelne in der Gesellschaft spielen? Oder: Steht das Individuum über dem Kollektiv oder ist es andersherum? Die Menschen müssen wieder einen Blick für den Anderen entwickeln. Es gilt die „(weg-)hörenden Herzen“ aufzuschließen!


    [1] Vgl. Peter Mösgen: Natürlicher Tod und Bilanzsuizid, in: Suizidprophylaxe 23 (1996), Heft 1, S. 20- 21, hier S. 20.
    [2] Anton van Hooff: Zelfdoding in den antieke Wereld. Van autothanasia tot suicide, Nijmegen 1990.
    [3] Vgl. Hartwin Brandt: Am Ende des Lebens. Alter, Tod und Suizid in der Antike, München 2010, S. 57.
    [4] Vgl. Horst J. Koch: Über Suizide und suizidale Syndrome in der Heiligen Schrift: Christen im Spannungsfeld der biblischen Lehre, in: NeuroGeriatrie 9 (2012), Heft 2, S. 79- 85, hier S. 80; Dagmar Hofmann: Suizid in der Spätantike. Seine Bewertung in der lateinischen Literatur, Stuttgart 2007, S. 42.
    [5] Hoffmann 2007, S. 11. Hervorhebungen im Original.
    [6] Jens Ostwald: Selbstmord? Suizid? Freitod? Selbsttötung?, in: Suizidprophylaxe 44 (2017), Heft 3, S. 87- 102, hier S. 90.
    [7] Vgl. Hofmann 2007, S. 24.
    [8] Thomas Haenel: Amok und Kollektivsuizid. Selbsttötung als Gruppenphänomen, München 2012, S. 10.
    [9] Jann E. Schlimme: Eine Untersuchung der philosophischen Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung in der europäischen Kulturgeschichte, Diss. phil., Hannover 2010, S. 57.
    [10] Vgl. Mösgen 1996, S. 20.
    [11] Vgl. Hoffmann 2007, S. 52.
    [12] Vgl. ebd., S. 53.
    [13] Vgl. ebd.
    [14] 2. Mose 20 ,13, EÜ.
    [15] Vgl. Hofmann 2007., S. 54.
    [16] Ebd.
    [17] Vgl. Koch 2012, S. 80.
    [18] Vgl. Benedikt XVI.: Rede Papst Benedikts XVI. im Deutschen Bundestag am 22. September 2011, in: bundestag.de, o. D., URL: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/benedict/rede-250244 (abgerufen n am: 30.10.2023).
    [19] 1. Kön. 3, 9, EÜ.
    [20] Vgl. ebd.
    [21] Jacqueline Rath: Kolumne: „Ein hörendes Herz“, in ndr.de, 13.08.2023, URL: https://www.ndr.de/kirche/Kolumne-Jacqueline-Rath-macht-sich-zum-Thema-Weisheit-Gedanken,kolumne1516.html (abgerufen am: 21.10.2023).
    [22] Ebd.