Die folgende Frage wird fast nie gestellt: Was haben Essen und Philosophieren miteinander zu tun?
Als erstes denkt man vielleicht an Tierethik; an die Debatte darüber, ob Fleisch essen moralisch legitim sein kann, oder auch an Gerechtigkeitstheorien, und an die Schande, dass Essen noch immer kein garantiertes Grundrecht ist. Zweifellos sind das alles auch philosophische Themen und verbinden das Essen mit der Philosophie.
Aber diese Verbindung ist indirekt: Beim Vegetarismus geht es ja primär um die Behandlung der Tiere bevor sie auf dem Teller landen. Das Fleisch auf dem Teller ist kein Lebewesen mehr, sondern tote Materie und das Hauptargument gegen das Essen dieser Materie ist, dass es zu noch mehr toter Materie führt. Auch bei der ungerechten Verteilung von Nahrung geht es nicht primär um die Nahrung selbst, sondern eben um die Verteilung. Hier soll es aber um die direkte Verbindung gehen. Fragen wir also nochmals: Was haben Essen und Philosophieren miteinander zu tun?
Zunächst sind "essen" und "philosophieren" Verben und bedeuten als solche Tätigkeiten. Jetzt können wir weiter Fragen: Haben diese Tätigkeiten etwas gemeinsam? Ist die eine vielleicht sogar eine Art der anderen – könnte Essen manchmal sogar Philosophieren sein? Daran knüpfen sich Nietzsches fragen: "Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Gibt es eine Philosophie der Ernährung?" (Nietzsche 1897: 8)1.
Zumindest die erste Frage können wir teilweise bejahen – wie viele Fäuste nicht schon geflogen sind, weil davor literweise Alkohol geflossen ist. Daher wäre es nicht schlecht, es wie die Gäste von Platons Symposion anzugehen, die sich darauf einigen, es nicht auf den Rausch anzulegen, sondern nur zum Vergnügen zu trinken (Platon 1855: 176 St. 3 A)2. Wenn nur der Rausch nicht auch ein Vergnügen wäre…
In Bezug auf die zweite Frage könnte man nun Ernährungspyramiden zeichnen, die perfekte Anzahl Kalorien pro Tag berechnen und eine ausgewogene Kombination von Vitaminen und Proteinen ermitteln usw. Aber ist dann die Ernährungswissenschaft eigentlich eine Teildisziplin der Philosophie? Oder haben wir hier eine falsche Abzweigung genommen?
Tatsächlich kommt das Wort "Diät" ursprünglich vom altgriechischen díaita, das so viel bedeutet wie Lebensführung. Daher könnte man steil behaupten: Lebensführung ist Teil der Ethik und diese Teil der Philosophie. Also ist eine Diät halten Ethik betreiben. Oder eben: philosophieren. Und immerhin: Wie viel Selbstbeherrschung es doch erfordern kann, die Schokolade nicht zu essen! Und wie viel Disziplin, eine Diät durchzuziehen! Wird hier nicht der Charakter geschult? Übt man sich hier nicht in der Lebensführung?
Nehmen wir einmal an, dass eine Diät halten auch philosophieren ist, ohne damit zu akzeptieren, dass die Ernährungswissenschaft Teil der Philosophie ist. Bezüglich unserer Frage kommen wir damit aber auch nicht weit, denn "auf Diät sein" bedeutet ja nicht dasselbe wie "essen", weil man auch essen kann, ohne auf Diät zu sein.
Suchen wir bei einem anderen Philosophen um Hilfe: Feuerbachs "Der Mensch ist, was er isst" kennen fast alle. Aber was für eine seltsame Formulierung! Bin ich denn Broccoli, weil ich Broccoli esse?…Eigentlich müsste es doch lauten: Der Mensch ist, wie er isst. Das verspricht schon mehr: Wer am Mittag nur 5 Minuten Zeit hat, um sich schnell schnell etwas in den Magen zu pressen, ist vielleicht, wie er isst: gehetzt, gestresst – ohne jeden Genuss.
Gehen wir vom Individuum zur Gesellschaft und fokussieren die Schweiz – wie essen wir eigentliche Tiere? Dass es einmal Tiere waren, würde ein Alien niemals erraten und einem Kind muss man es erst erklären: Da sind kleine, rechteckige und dünne Scheiben, eingepackt in einem Plastik, und auf dem Plastik eine Grafik von einer lieben Kuh, frei in den Alpen, oder einem stolzierenden und glücklichem Huhn. Manchmal hat dann auch das Fleisch von einem bestimmten Tier die Form eines anderen – Schweinefleisch verwandelt sich zu einem kleinen und freundlichen Bären, er lacht uns an und kann es kaum abwarten: bitte iss mich!
Wie seltsam und weltfremd. Vielleicht sind wir ja wirklich wie wir essen? Abwesend, unbewusst, vom Leben und der Gesellschaft so überfordert, dass wir die Welt nicht sehen. Wer denkt sich beim ersten Biss in ein fleischbelegtes Brot schon: Ich esse da gerade etwas, das einmal ein Lebewesen war? Aber wahrscheinlich ist dieser Gedankengang auch ein Luxus, selbst im Alltag der Schweizer:innen.
Vielleicht finden wir die Verbindung zwischen Philosophie und Essen gerade im Alltag: Essen ist alltäglich und Philosophieren ist es auch, und nicht nur für die, die eine Diät halten – irgendwann fragen sich alle einmal: Was soll ich tun? Philosophie ist nicht eine seltene Blume, die nur auf einem ganz bestimmten Berg blüht, genau dann, wenn die Sterne richtig stehen – Philosophie ist alltäglich. Vielleicht können Menschen gar nicht anders als philosophieren, genauso wie sie nicht anders können als zu essen.
Aber auch das beantwortet nicht unsere Frage und statt einer Antwort drängen sich nur noch mehr Fragen auf: Was ist eigentlich die Rolle der Erzeuger:innen in der Entwicklung der Menschheit, der Zivilisierung? Gibt es nun so etwas wie moralische Folgen der Nahrungszunahme? Ist eine Diät halten wirklich philosophieren – und allgemeiner: kann man philosophisch essen?
Fragen dieser Art wollen wir in unserem Projekt "Essen und Philosophie" nachgehen. Wir wollen gemeinsam Essen und Philosophieren und dabei über die Verbindung der beiden nachdenken; noch mehr Fragen stellen, und weitere Anhaltspunkte in der Geschichte und Philosophiegeschichte finden.
Quellen
1) Friedrich, Nietzsche (1897).Fröhliche Wissenschaft. C.G. Naumann.
2) Platon (1855). Symposium. In: Platon (1855). Platon's Werke. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl.