Es ist "ein primitives Verhalten..., die schmerzende Stelle des Andern zu pflegen..." (540) ; "Was aber will das Wort 'primitiv' hier sagen ? Doch wohl, dass die Verhaltungsweise vorsprachlich ist : dass ein Sprachspiel auf ihr beruht, dass sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens" (541) (Wittgenstein 1970, S. 396). Wer Schmerzen hat, braucht Pflege und Behandlung. Das heisst nicht, dass jeder pflegefähig und pflegewillig ist, schon weil er dafür genetisch vorprogrammiert wäre. Es heisst vielmehr, dass der Umgang mit dem Schmerz eine kulturelle Praxis im Umgang mit Leiblichkeit ist. "Natur bringt Kultur hervor, die Natur verändert", schreibt Eagleton (2001, S. 7). Der Organismus, die Erregungs-, Bedarfs- und Bedürfnisregulierung, Sensibilität, Schmerz und andere Empfindungen sind "Natur". Wer Schmerzen und Beschwerden hat, ist angewiesen auf Hilfe und Behandlung. So entstehen Kulturen des Pflegens und Behandelns. Menschliche Praxis ist alltägliches Handeln, das den Kulturprozess kontinuierlich im Hier und Jetzt selbstorganisierten Tuns hervorbringt, das sich als implizites Können, als "Lebensformen" (Wittgenstein 2001), als "Knowing How" (Ryle 1949) geltend macht. Was Pflegende und Ärzte mit Kranken tun, sind Handlungsmuster, die auf Lebensformen verweisen, in denen wir uns bewegen, die wir reproduzieren, aber auch in Raum und Zeit verwandeln und variieren. Praxis ist Knowing How. Praxis erwirbt man im Prozess der frühen Sozialisation, im Vollzug, im Beziehungsfeld. Formen kultureller Praxis zeichnen sich durch das Zusammenspiel bestimmter Erwartungen und Verpflichtungen aus. Pflegendes und ärztliches Handeln beispielsweise sind Engagements im Dienst der Erhaltung des Objekts. Der Patient erfährt im günstigen Fall Linderung und Heilung.
Was den Umgang mit dem Kranksein als kulturelle Praxis betrifft, kann man wichtige Aspekte zusammenstellen :
- Kranksein stellt ein besonderes Selbst- und Weltverhältnis her.
- Kranksein ist Leiden : Man erwartet vom Kranken, dass Leiden zum Ausdruck kommt. Man erwartet vom Kranken, dass Auseinandersetzung mit dem Leiden stattfindet.
- Das Leiden verpflichtet den Nächsten zum Beistand.
- Man rechnet damit, dass dem Kranksein Defizienzen, Beeinträchtigungen, Schädigungen zugrunde liegen.
- Der Kranke ist geschwächt. Sein geistiges Leben formt sich in besonderer Weise im Zeichen der Schwäche.
- Der Kranke hat Pflegebedarf.
- Der Kranke hat Behandlungsbedarf unter Einsatz von professioneller Expertise.
- Der Kranke hat Anspruch darauf, von bestimmten professionelle und privaten Pflichten entlastet zu sein.
- Kranksein fordert heraus zur dauerhaften oder vorübergehenden Neuorientierung im eigenen Leben.
- Kranksein bringt die Vergänglichkeit und Gefährdung des Lebens zum Ausdruck. Das wird zur bleibenden Erfahrung.
- Der Kranke ist - in seiner besonderen Lebenslage - ein Mitteilender, ein Botschafter und ein Dialogpartner.
Kranksein ist Gegenstand des Erzählens
Als Mitteilender und als Mitteilungswilliger erzählt der Kranke von dem, was ihn trifft oder getroffen hat, von der Krankheit zum Tode oder vom Ringen mit dem Leiden, das ihn verändert. Das Krankheitsnarrativ als Chronik, Dokumentation, Manifest, Zeugnis und autobiografische Selbstvergewisserung ist aktuell. Selbstzeugnisse von Menschen, die an Aids, Herzinfarkt oder Krebs leiden, die Erfahrungen haben mit Organtransplantation, sind verbreitet. Kranke als Chronisten ihrer Krankheit sind im Medienzeitalter Legion. Berichte von Personen, deren Angehörige an Altersdemenz leiden, finden in den Print- und visuellen Medien derzeit vermehrte Beachtung.
Vom Kranksein erzählen, oder in der Rolle des Kranken, aber auch in der Rolle des Arztes oder Heilers, hat eine lange Tradition. Die Wunder Jesu im christlichen neuen Testament sind Heilungsgeschichten. Dort heilen Glauben und Liebe. Das ist heute, bei neuer Aufmerksamkeit für die Arzt-Patient-Beziehung, die Pflegebeziehung, im Zeitalter der Psychotherapie, Psychosomatik und den "Medical Humanities", durchaus aktuell.
Kranksein als Empfänglichkeit
Kranke sind Personen, die gerade als Leidende, in ihrem Rückzug von Engagement und ihrer Auseinandersetzung mit einer von der Krankheit veränderten Lebenslage empfänglich sind für Eindrücke, Botschaften, Einsichten, Erfahrungen, die anderen verschlossen bleiben. das überlieferte Bild von Kranksein als Empfänglichkeit für das Ausser-Ordentliche hat eine grosse Tradition. Kranksein als sprichwörtlicher Bildungsprozess wird and den Freuden und Leiden des Hans Castorp gezeigt, der schlicht und gesund auf dem Zauberberg ankam, dann aber nach dem Willen von Thomas Mann lungenkrank zum neuen Menschen wurde.
Thomas Mann konnte Krankheit als Bildungsprozess darstellen, weil er von der Tradition der Schöpfung im Geist des Erleidens profitiert. Schöpferisch werden im Geist des Erleidens ist ein mächtiges Bild der Überlieferung. Es ist als Geburtsphantasie erkennbar : Ein anderes bemächtigt sich des eigenen Leibes, zehrt am eigenen Leib, der sich verändert und beschwerlich wird. Dann drängt etwas heraus, unter Qual und Not und Todesgefahr. Da ist eine Schöpfung, neu, noch zart und schutzbedürftig, das Beachtung und Pflege braucht und vielleicht eine ganz eigenen Zukunft hat.
_____________________________________________________________________________ Literatur
- Eagleton, T. (2001). Was ist Kultur? Eine Einführung. München: Beck.
- Ryle, G. (1949). The Concept of Mind. Chicago: University of ChicagoPress. (2000: With an introduction by Daniel Dennett).
- Wittgenstein, L. (1970). Zettel. In Schriften 5. (Hrsg. Anscombe, G.E.M. & G.H. von Wright. Suhrkamp: Frankfurt a. M.; engl. Original 1958).
- Wittgenstein, L. (2001). Philosophische Untersuchungen Kritisch-genetische Edition. Hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.