Trauer – oder: Die Philosophinnen und das Kaleidoskop

Die Phänomenologie untersucht die rationale Struktur spezifischer Erlebnistypen und ihrer zugehörigen gegenständlichen Korrelate. Und sie versucht darüber hinaus eine feinkörnige Beschreibung der Erlebnisqualität von Trauer zu geben.

    Gegenwärtig (und in den letzten Jahrzehnten intensiver denn je) wird Emotionsforschung im Stil akademischer Arbeitsteilung betrieben. Auch in Online-Foren steht interdisziplinär Interessierten ein breites Wissen zur Verfügung, das so leicht wie ein Kinder-Kaleidoskop zu bedienen ist, das eine Vielzahl verschiedener Sichtweisen und Bilder zeigt, die in geheimnisvoller Weise miteinander zusammenhängen oder auseinander erzeugt werden. So entsteht der Eindruck: Es geht um dasselbe, aber in bunter Vielfalt, in Variation. So nehmen wir (in mehr oder weniger popularisierter Form) zur Kenntnis, was Psychologen und Psychoanalytikerinnen, Soziologinnen, Hirnforscher, Kognitions- und Kunstwissenschaftler, Biologinnen, Anthropologen und andere über die genetischen, physiologischen, sozialen, tiefenpsychologischen und viele andere Aspekte der Trauer bzw. des Trauerverhaltens und der darin involvierten Botenstoffe, Symbolsysteme und Bewältigungsmechanismen herausgefunden haben. 
     
    Gelegentlich stellt sich die Frage, was die relevante Schnittmenge aus dem verfügbaren Wissen ist. Worauf kommt es an, um zu verstehen, was etwa Trauergefühle von solchen Gefühlen wie Mitleid, Wut oder Scham unterscheidet? Oder: was Trauer ist, für sich selber und überhaupt? Die Was-ist-Frage stellt sich umso dringlicher, je weniger ein Gefühl über die Benennung eines unmittelbaren Nutzens identifizierbar und fassbar ist; je weiter wir uns von der „Bodenhaftung“ einer evolutionären Betrachtung entfernen. Während der evolutionäre Nutzen von Angst und sexueller Eifersucht nachvollziehbar und argumentierbar scheint, ist durchaus fraglich, worin der so verstandene Nutzen von Traurigkeit oder Trauer (als ähnlicher, aber doch auch verschiedener Gefühle) liegen könnte. Was ist das Wesen der Trauer, gegeben die Vielzahl ihrer Manifestationen und die Vielzahl der theoretischen Zugänge und Interpretationen, gegeben das sozial und kulturell imprägnierte und in hohem Maße konventionalisierte Trauerverhalten? Zum Beispiel: Ist Trauer irrational im Sinne eines fehlenden evolutionären Nutzens bzw. einer vollständigen Zweckentbundenheit? Oder ist sie irrational, weil sie an dem von ihr gesetzten illusionären Zweck – der Restitution eines verlorenen Geliebten – scheitert und zwangsläufig scheitern muss? 
     
    Sobald wir die Was-ist-Frage in Verbindung mit der Worauf-kommt-es-an-Frage stellen, befinden wir uns im Arbeitsfeld der Phänomenologie: Was etwas ist, ist dann nicht als eine metaphysische Frage verstanden, sondern als Leitfaden für eine deskriptiv-apriorische Erkundung im Gesamtspektrum menschlicher Erfahrung. Denn das, worauf es ankommt, lässt sich nicht anonym, ohne irgendeinen Subjektbezug benennen. Was mit diesem ins Spiel kommt, sind spezifische Erkenntnisinteressen, Wertverpflichtungen, affektive Bindungen u. dgl. Eine Phänomenologie der Gefühle – die ich hier lediglich in Umrissen andeute – stellt die Was-ist-Frage mit Bezug auf Gefühle, indem sie diese dort aufnimmt, wo sie ursprünglich erfahren werden: im alltäglichen Ausdruck von und Umgang mit Gefühlen. Auf diesen Ausgangspunkt, sofern er nach bestimmten Strukturmomenten hin analysiert wird, weist der Anspruch der Phänomenologinnen zurück, möglichst phänomenadäquate Beschreibungen zu geben. Im Fall der Trauer heißt das: Die erlebte Dynamik dieses Gefühls, seine sozialen Implikationen und Bewertungen, seine Erlebnisqualität, sein „materialer“ Gehalt, seine Zeitgestalt und typisch zugehörigen Gründe so zu erfassen, wie sie aus Sicht der Trauernden die Bedeutsamkeit dieses Gefühls ausmachen. Dass letzteres bei der Erforschung der Gefühle den Primat erhält gegenüber paradigmen- oder theorieimmanent gesetzten Relevanzkriterien, unterscheidet den Zugang der Phänomenologie von einzelwissenschaftlichen Untersuchungen. Der Unterschied liegt nicht darin, dass sich die Phänomenologie darauf beschränkte das wiederzugeben, was Alltagshandelnde im Erleben ihrer Gefühle de facto bewusst haben. Als theoretische Analyse geht die Phänomenologie darüber hinaus, auch wenn sie ihre Zielsetzung an den vortheoretischen Erfahrungszusammenhang rückbindet.
     
    In der Exploration von Trauer wird das Alltagsbewusstsein z. B. dadurch überschritten, dass die Liebesvoraussetzung in allem Trauern – ohne zugrundeliegende liebende Beziehung zu x kann x nicht zum Objekt der Trauer werden – als ein unselbständiges Inhaltsmoment in einem entsprechend komplexen Akt des Trauerns ausgewiesen wird. Dieser Akt ist (gemäß Edmund Husserls III. Logischer Untersuchung) als ein fundierter Akt zu verstehen, d. h. als ein höherstufiger Akt, dem bestimmte Vorstellungs- oder Urteilsinhalte („fundierend“) zugrunde liegen müssen, welche überhaupt erst seinen gegenständlichen Bezug herstellen: Trauer zu empfinden, bedeutet über (den Verlust von) etwas bzw. um jemanden (sc. einen geliebten anderen) zu trauern. Mit anderen Worten: Die Liebe „am Grunde“ der Trauer muss jemanden/etwas adressieren; sie kann nicht unspezifiziert und ungerichtet sein. Der Bezug auf etwas/jemanden, welcher als ein Lieben näher qualifiziert ist, gehört a priori zum Wesen der Trauer. Dass es so ist, liegt in der Natur dieses Typs von intentionalem Erlebnis und kann nicht anders sein. Das fragliche (sein-)Können ist im logischen, nicht im psychologischen Sinn zu verstehen. Ebenso wie das Faktum, dass wir in manchen unaufmerksamen, übermüdeten oder pathologisch verzerrten Bewusstseinszuständen nicht imstande sind, logische Ableitungsregeln korrekt anzuwenden, nicht bedeutet, dass diese Regeln insofern kontingent wären, als ihre Geltung darin hinge, ob sie aktuell von einer Mehrheit der existierenden Denkerinnen richtig angewandt werden, so gilt auch mit Bezug auf Gefühlserlebnisse: Deren rationale Struktur ist a priori und als a priori geltend einsehbar. Zum Beispiel: Dass ein Trauern nur sein kann, wenn ein Akt entsprechender Komplexität vorliegt, wenn das Trauer-/Verlustgefühl in einem Lieben fundiert ist, welches seinerseits einen vorstellenden oder urteilenden Gegenstandsbezug in sich enthält, ist a priori einsehbar. Diese Struktur wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es z. B. tatsächlich vorkommt, dass jemand sich selber und anderen eine Trauer nur vorspielt (und womöglich erfolgreich vorspielt), die sie/er in Wahrheit gar nicht empfindet. Die Frage der Authentizität der Trauer ist unbestritten eine psychologische Frage, die anhand empirischer Versuchsanordnungen untersucht werden kann. Was immer das Ergebnis derartiger Untersuchungen ist – es kann nicht das in Frage stellen, was a priori zur Idee bzw. zum Wesen der Trauer gehört.
     
    Trauern erschöpft sich freilich nicht in dem, was „zuunterst“ fundierend mit im Spiel sein muss; sie erschöpft sich nicht darin, sich das Betreffende (einen Sachverhalt; eine Person) nur vorzustellen oder dessen Existenz und So-Sein bzw. von-mir-Geliebt-sein urteilend festzustellen. Trauern umfasst ein affektives Engagement und bestimmte Befindlichkeiten auf Seiten der Trauernden, die sich nicht wie im Fall eines in theoretischen Kontexten auftretenden Urteils auf Distanz stellen lassen. Wer trauert ist von einer Veränderung in der Welt nicht nur punktuell und intellektuell betroffen, sondern existenziell erschüttert und letztlich selber involviert – in das Geschehen in unabsehbarer Weise hineingezogen. Trauer ist die angemessene Antwort auf eine als desaströs empfundene Änderung in der Umwelt der Trauernden: ein/e Geliebte/r/s ist unwiederbringlich verloren gegangen. Auch wenn dieser Verlust mehr oder weniger unerwartet auftreten kann und mehr oder weniger dramatische soziale Folgewirkungen haben kann (wie die Debatte über disenfranchised grief deutlich macht), wird er uniform als grundstürzend und unkontrollierbar erlebt. Infolgedessen bleibt nichts mehr wie es war, auch nicht die, die über das Verlorene trauern. Der dialektische Zusammenhang von Verlust und Selbstverlust tritt dabei erst im Laufe eines Trauerprozesses zu Tage.
     
    Aus dieser dynamischen Perspektive stellt sich auch das oben unter statisch-analytischen Gesichtspunkten angesprochene Verhältnis von Liebe und Trauer in neuem Licht dar. Liebe erschließt positiv-werthafte Aspekte am Geliebten. Trauer, welche Liebe in eigentümlicher Weise in sich enthält, erschließt sukzessive die Bedeutsamkeit des Verlusts des Geliebten im weiteren Umfeld des eigenen Lebens, einschließlich der Bedeutung für das eigene Selbstverständnis: wer man (geworden) ist; wer man noch werden will oder glaubt nun nicht mehr werden zu können. In diesem Sinne ist Trauer ebenso entdeckerisch wie die ihr zugrundeliegende Liebe, obwohl Richtung und Erlebnisqualität des Entdeckens – aus Sicht der Trauernden: schmerzlich und einschneidend – divergieren. 

    Der naheliegende Einwand gegen eine gemäß Obigem als rationale Erfahrungsanalyse angelegte Phänomenologie der Trauer lautet: Haben wir nicht bloß das Kaleidoskop ein Stück weitergedreht, wenn wir uns einer Phänomenologie der Gefühle zuwenden? Was ändert sich an der nach wie vor bestehenden Dringlichkeit des Schnittmengen-Problems? Ist es nicht eine aussichtslose Idee zu meinen, die Phänomenologie könne das angehäufte einzelwissenschaftliche Wissen über Trauer bündeln, es synthetisieren und in ein einheitliches Gesamtverständnis verwandeln?

    Eine Phänomenologie der Gefühle stellt nicht den Versuch dar, sämtliches vorhandenes Wissen über Gefühle zu integrieren und in einer einheitlichen Weise zu interpretieren. Ebenso erhebt sie nicht den Anspruch, Vereinheitlichung über eine Einheitsmethode zur Erforschung von Gefühlen herbeizuführen, welche für alle anderen disziplinären Zugänge verbindlich wären. So vorzugehen brächte einen geradezu absurden Hegemonieanspruch der Philosophie zum Ausdruck und verkennte den Sinn arbeitsteiliger wissenschaftlicher Forschung. Ebenso beruht die Idee einer von der Philosophie post-hoc zu bewerkstelligenden Wissenssynthese auf einem Missverständnis: Eine Phänomenologie wie sie hier (in der Tradition Husserls) verstanden ist, ist kein kulturwissenschaftliches Meta-Konzept; sie verfolgt vielmehr philosophische Zielsetzungen – letztlich: die Sinnaufklärung und rationale Analyse aller möglichen Formen und Arten intentionaler Beziehungen zu Gegenständen und sämtlicher daran beteiligter Inhaltsmomente. Die Vision der Einheitsmethode bindet die Phänomenologie an ein Erkenntnisziel, das sachfremd und overdemanding ist (als würde ein dem vormalig logisch-positivistischen Einheitswissenschaftsprogramm vergleichbares Vorhaben verfolgt). Die Vision einer kultur(- oder geistes)wissenschaftlich aufzubereitenden Wissenssynthese lässt die Phänomenologie als underperforming erscheinen. Gemäß diesen Auffassungen wäre die Phänomenologie entweder eine falsche Art des Philosophierens oder gar kein Philosophieren.

    Die Phänomenologie im Allgemeinen und die Phänomenologie der Gefühle im Besonderen zielt weder auf eine materiale Kompilation von Wissensbeständen noch auf eine methodologisch begründete Vereinheitlichung wissenschaftlicher Theorien. Sie untersucht vielmehr, wie oben skizziert, die rationale Struktur spezifischer Erlebnistypen und ihrer zugehörigen gegenständlichen Korrelate. Und sie versucht darüber hinaus eine feinkörnige Beschreibung der Erlebnisqualität von Trauer (z. B. ihres Überwältigungscharakters) zu geben, welche sich möglichst der erstpersonalen Erlebnisperspektive alltäglicher Trauererfahrungen annähert. In diesem Sinn gründet das phänomenologische Interesse an der Integrität des ursprünglichen Phänomens darin, vortheoretische Erfahrung ernst zu nehmen und sie dennoch rational durchdringen zu wollen. Letzteres ist der Versuch, die sich in einer Vielzahl konkreter Trauererlebnisse instanziierende Idee der Trauer zu fassen, und sie möglichst zu originärer (anschaulicher) Gegebenheit zu bringen. Indem sie die Integrität des ursprünglichen Phänomens in Erinnerung ruft, plädiert die Phänomenologie indirekt auch für eine Selbstentgrenzung wissenschaftlicher Forschung, welche deren Autonomie nicht in Frage stellt – dafür, die Reichweite wissenschaftlicher Erklärungen oder Beschreibungen und die darin enthaltenen Idealisierungen stets von neuem reflektierend zu überschreiten.