Tierethik als praxisnahe Philosophie

Tierethik gilt als relativ praxisnah. Zu Recht? Ich behaupte, Tierethik drängt sich uns zwar besonders auf. Gleichzeitig ist sie aber mit vielen anderen scheinbar “praxisfernen” philosophischen Fragen verkettet.

    Eines der faszinierendsten philosophischen Bücher, das ich im Studium gelesen habe, war David Lewis' "On the Plurality of Worlds" (1) – über die Vielzahl der Welten. Die These des Autors: So wie es unsere Welt gibt, gibt es jede mögliche Welt. Nicht nur als Fiktion oder Vorstellung, sondern "in echt". Ich könnte fünf Arme haben – also gibt es Lewis' These zufolge irgendwo eine Welt, in der ich fünf Arme habe. Und eine, wo ich zusätzlich an der Decke gehe, ein grünes Fell habe und – kaum auszudenken! – Banking und Finance studiert habe. Bis zu welchem Punkt der Unähnlichkeit ist ein solches Monster noch ich? Laut Lewis alles eine Frage der Sprache – je nach Kontext hätte fast alles auch fast alles andere sein können. Der Philosoph Saul Kripke hätte ein Rührei sein können, wenn wir über ihn als physischen Gegenstand reden – wenn wir jedoch über ihn als berühmten Denker sprechen, dann hätte er kein Rührei sein können.

    Wenn ich Leuten von Lewis' Weltentheorie erzählte, wurde ich meist schräg angeschaut oder belächelt. Genau so etwas stellen sich wohl viele Leute unter "praxisferner" Philosophie vor – eine bestenfalls sympathisch-eigenwillige Verschwendung von Zeit, Geld und Arbeitskraft.

    Von Tierehtik kann ich erzählen, ohne schräge Blicke zu ernten. Die Leute in meinem Umfeld finden Tierethik "praxisnäher" als Lewis' Weltentheorie. Ich glaube, dass es da durchaus einen Unterschied gibt, den man jedoch nicht überbewerten sollte. Einerseits drängen sich uns gewisse Fragen der Tierethik im Alltag mit einer besonderen Dringlichkeit auf. Doch andererseits hängen philosophische Fragen wie ein grosses Netz zusammen, und oft muss man die "praxisfernen" Fragen beantwortet haben, um die "praxisnahen" angehen zu können.

    Was soll "praxisnah" überhaupt heissen? Wir beziehen im eigenen Handeln Stellung zu tierethischen Fragen. Entweder essen wir Tiere oder wir essen keine. Damit beantworten wir die Frage: Darf man Tiere essen – ja oder nein? Aber die blosse Tatsache, dass wir auf diese Weise Stellung beziehen, macht Tierethik noch nicht wichtig. Zum Vergleich: Indem wir Regenschirme benutzen, nehmen wir Stellung zur Frage, ob man das darf – deshalb brauchen wir noch lange keine Ethik des Regenschirms. Aber Tierethik hat noch weitere Eigenschaften: Es gibt grosse und begründete Uneinigkeit darüber, wie wir mit Tieren umgehen sollten. Wenn wir uns vernünftig positionieren wollen, haben wir also einen Bedarf an guten Argumenten für und gegen unsere gegenwärtige Praxis. Im Bezug auf Regenschirme haben wir das nicht. Zudem steht in der Tierethik viel auf dem Spiel – sehr viele andere sind von unseren Handlungen betroffen. Bei Regenschirmen ist das nicht so.

    Wir beziehen also im Handeln zu vielen Fragen der Tierethik Stellung, wir haben einen Bedarf an Argumenten und es steht viel auf dem Spiel. Insofern kann man Tierethik "praxisnah" nennen. Heisst das, dass man sich lieber mit Tierethik beschäftigen sollte statt mit Lewis' Weltentheorie? Ich denke, es ist komplizierter.

    Eine philosophische Frage kommt selten allein: Um eine von ihnen zu beantworten, muss man meist auch andere beantworten. Zum Beispiel beantwortet Peter Singer die Frage, ob man Tiere essen darf. Dafür macht er die philosophische Annahme, dass wir stets dasjenige tun sollten, was zum grössten Nutzen der grössten Zahl führt. Dieses Prinzip wiederum begründet er mit der Annahme, dass Moral eine Frage der Unparteilichkeit ist und man also eigene Interessen nicht über die der anderen stellen darf. Bei Singer sind also drei Fragen eng verknüpft: Darf man Tiere essen? Welches Handeln ist moralisch richtig? Was ist Moral? Nach diesem Schema gibt es in der Philosophie viele verkettete Fragen – und oft sind die Verbindungen erstaunlich. Plötzlich kann selbst Lewis' Weltentheorie mit der Frage zusammenhängen, ob wir Tiere essen dürfen. Zur Erinnerung: Lewis vertrat, dass Möglichkeit auch eine Frage der Sprache ist. Ob Saul Kripke auch ein Rührei hätte gewesen sein können, hängt davon ab, wie er thematisiert wird.

    Beim Tiere-Essen tun wir nichts anderes – laut dem amerikanischen Philosophen Shelly Kagan (2) – als die Interessen von Tieren den Interessen von Menschen unterzuordnen. Das ist laut Kagan Teil eines Musters: Wir schätzen Menschen grundsätzlich höher, selbst wenn ein Mensch zum Beispiel kognitiv nicht menschentypisch ist. Auch Kleinkinder oder Menschen mit geistiger Beeinträchtigung würden wir niemals essen – Tiere schon. Somit machen wir Kagan zufolge einen Unterschied zwischen Wesen, die geistig voll entwickelte Personen hätten sein können und Wesen, die das nicht hätten sein können. Kleinkinder und Menschen geistiger Beeinträchtigung hätten Personen sein können, die menschentypisch voll entwickelt sind. Schweine, Hühner und Kühe nicht. Und darum bekommen sämtliche Menschen bevorzugte Behandlung, aber kein einziges Tier, so Kagan. (3)

    Und damit sind wir bei der Frage, ob ein Schwein auch eine menschentypische, voll entwickelte Person hätte sein können. Kagan sagt: Nein. Mit Lewis müssten wir aber sagen: Das ist eine Frage des sprachlichen Kontexts. Wenn wir von einem Schwein als empfindungsfähiges Individuum sprechen, das von seiner eigenen Behandlung betroffen ist, dann hätte dasselbe Schwein vielleicht durchaus auch ein sprechendes, Pläne schmiedendes Schwein sein können. Also müssten wir mit Lewis die Schweine ebenfalls zu den Wesen zählen, die menschentypisch voll entwickelte Personen hätten sein können. Also dürfen wir sie nach Kagans Auffassung nicht essen.

    Fragen wie "darf ich Tiere essen?" sind in einem gewissen Sinn "praxisnah": Wir müssen dazu Stellung beziehen, wir haben einen Bedarf an guten Argumenten und es steht viel auf dem Spiel. Und für die Beantwortung solcher Fragen können manchmal auch Theorien ins Spiel kommen, die auf den ersten Blick nicht besonders praxisnah scheinen. Allein schon deshalb sollte man sich mit dem Belächeln "praxisferner" Philosophie zurückhalten.

     


     

    Quellen

    1. Lewis, David (2001/1986). On the Plurality of Worlds. Wiley. Retrieved from https://books.google.ch/books?id=U96lhqfqcl0C
    2. Kagan, S. (2016). What’s Wrong with Speciesism? (Society of Applied Philosophy Annual Lecture 2015). Journal of Applied Philosophy, 33(1), 1–21.
    3. Man muss fairerweise festhalten, dass Kagan diese Position nicht selbst vertritt, sondern sie nur darstellt.

    Frage an die Leserschaft

    Welch andere "praxisnahe" Phänomene treffen wir in unserem Alltag an, die auch philosophisch relevant sind? (Z.B. Foodwaste)