Die Juristin Charlotte E. Blattner hat den diesjährigen Marie Heim-Vögtlin-Preis des Schweizerischen Nationalfonds SNF für ihre Dissertation zum Tierrecht erhalten. Im Interview erklärt sie, wie Staaten Tiere über Landesgrenzen hinweg schützen können und welche Bedeutung der Preis des SNF für sie als Frau im Wissenschaftsbetrieb hat.
Frau Blattner, in Ihrer Dissertation haben Sie gezeigt, wie Staaten Tiere über die Landesgrenzen hinweg schützen könnten – durch extraterritoriales Recht. Was wird darunter verstanden?Die extraterritoriale Jurisdiktion bezeichnet das Recht eines Staates, in gewissen Bereichen und unter bestimmten Umständen nationales Recht über sein Territorium hinaus anzuwenden. Mit der Handelsliberalisierung in den 1970ern und 1980ern gewann es global an Bedeutung, etwa im Wettbewerbs-, Straf-, und Menschenrecht. Ziel des extraterritorialen Rechts ist, Regelungslücken zu füllen und Rechtsunsicherheiten zu begegnen.
Im Tierrecht war das Konzept bisher unerforscht und kaum genutzt – mit gravierenden Folgen. In den letzten Jahrzehnten hat der internationale Handel mit Tieren und Tierprodukten exponentiell zugenommen. Zwischen 1986 und 2016 hat sich die Fleischproduktion vervierfacht, jene mit Eiern und Milch mehr als verdreifacht. Das Recht hat auf diese Entwicklungen kaum reagiert. Deshalb besteht heute grosse Rechtsunsicherheit darüber, welcher Staat wann Tiere schützen kann.
Staaten befinden sich zudem in gegenseitiger Konkurrenz um Produzenten und Investoren, um Jobs und Steuereinnahmen zu sichern. Diesen Wettbewerb gewinnt, wer ein günstiges Produktionsumfeld bietet, also jene Staaten, die ihr Tierschutzniveau senken, die Einführung von Tierrechten ablehnen oder gar bestehendes Recht nicht umsetzen. So entsteht ein globales «race to the bottom», also ein Unterbietungswettlauf mit fortwährendem Abbau von Tierschutzstandards.
«Das Recht begreift Tiere grundsätzlich immer noch als Sachen, an denen Menschen Eigentum haben und welche diesen zur Verfügung stehen. Es verliert sich im 'Micromanagement' und bestimmt Tötungsmethoden oder legt Mindestmasse für Bodenflächen zur Haltung fest», erklärt die Juristin. © Pixabay
Wie kann diesen Herausforderungen begegnet werden?Unterschiedliche Anwendungsformen der extraterritorialen Jurisdiktion können dieser Entwicklung begegnen und den Tierschutz auf nationaler und internationaler Ebene stärken. Dadurch erlangen Staaten wieder die Rechtssicherheit darüber, wie und wann sie Tiere innerhalb ihrer Grenzen schützen können. Zudem zeigt das Konzept vernünftige Wege auf, Tiere über die Grenze hinweg und damit global zu schützen. Denn die internationale Verstrickung von Mensch und Tier durch Transport, Handel und Produktion ist nicht zu erfassen, wenn wir uns nur auf jeden einzelnen Staat verlassen, dass er seine Tierschutzgesetze im Inland anwendet. Faktische Verstrickung erfordert eine rechtliche Verstrickung: Bei Zweifeln etwa über die Zuständigkeit bei Tierexporten wendet man mindestens das Recht eines der involvierten Länder an und nicht, wie jetzt, gar kein Recht.
Das Tierrecht ist ein junges Rechtsgebiet. Sie sprechen von Vorurteilen …Die Welt, so scheint es, ist vom Menschen für den Menschen geschaffen. Tiere und ihre Bedürfnisse spielen dabei kaum eine Rolle – ethisch, sozial und rechtlich betrachtet. Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache: Im Kanton Luzern leben mehr Schweine als Menschen; weltweit gibt es dreimal so viele Hühner wie Menschen. Trotzdem wird das Tierrecht als Nischengebiet verstanden und Bestrebungen, unsere Beziehungen mit Tieren rechtlich besser zu beleuchten, gelten gemeinhin als wenig dringlich. Es schwingen Vorurteile der «Tierliebe» und «Gemeinnützigkeit» mit. Damit werden das Tierrecht und dazu Forschende akut missverstanden. Denn die Frage nach dem richtigen Umgang mit Tieren ist keine Frage der Tierliebe, sondern eine fundamentale Frage der Gerechtigkeit, die uns als Gesellschaft betrifft.
Wie steht es um das Schweizer Tierrecht?Die Schweiz nimmt regelmässig für sich in Anspruch, eines der besten Tierschutzgesetze der Welt zu haben. Laut dem «Animal Protection Index» der Organisation «World Animal Protection» erhält die Schweiz die Note B auf einer Skala von A bis G. 1992 entschied das Schweizer Stimmvolk, dass die Würde der Kreatur, die die Tierwürde umfasst, verfassungsrechtlich garantiert wird. Seit 2003 wird anerkannt, dass Tiere nicht sachenrechtliche Objekte, sondern empfindungsfähige Wesen sind. Das Recht begreift Tiere aber grundsätzlich immer noch als Sachen, an denen Menschen Eigentum haben und welche diesen zur Verfügung stehen. Grenzen setzt das Recht nur im Falle eng umschriebenen Missbrauchs. Insgesamt verliert sich das Recht im «Micromanagement»: Es bestimmt Tötungsmethoden oder legt Mindestmasse für Bodenflächen zur Haltung fest. Neue politische Bestrebungen, wie etwa die Primateninitiative im Kanton Basel-Stadt, möchten deshalb einen Kurswechsel einläuten und die grundlegendsten Interessen von Tieren, etwa ihr Interesse am Leben und an ihrer körperlichen Unversehrtheit, mittels Grundrechten schützen.
Ihre Dissertation wurde vom SNF mit einem Doc.CH-Beitrag gefördert. Nun haben Sie den Marie Heim-Vögtlin-Preis erhalten. Welche Bedeutung hat dies für Sie?Dank dem Doc.CH-Beitrag konnte ich mir bereits am Anfang meiner Karriere meine wissenschaftliche Unabhängigkeit erarbeiten. Der Fokus auf meine eigene Forschung, die Etablierung eigener Forschungsnetzwerke und Gastaufenthalte im Ausland sind nur einige der vielen Privilegien, die mir dadurch zuteil wurden. Diese Erfahrungen prägen auch meinen gegenwärtigen Alltag in der Lehre und Forschung. Dass mir der SNF nun den Marie Heim-Vögtlin-Preis verleiht, ist für mich ungemein wertvoll. Diese Ehrung bestärkt mich in der Wahl meiner Forschungsschwerpunkte sowie meiner Methodik und unterstreicht die Relevanz meiner wissenschaftlichen Erkenntnisse. Der Preis hat darüber hinaus einen hohen symbolischen Wert für mich. Dr. Heim-Vögtlin war eine Vorreiterin im Kampf für den Zugang der Frauen zur akademischen Bildung und für die Ausübung ihres Berufs. Diese Haltung – sich nicht von vorherrschenden Wertungen und Widerständen hindern zu lassen – teile ich im Kern.
Marie Heim-Vögtlin (1845-1916), Namensgeberin des Marie Heim-Vögtlin-Preises des SNF, war die erste Schweizer Ärztin. © Wikimedia Commons
Wie wurden Sie am Anfang Ihrer Karriere unterstützt?Gerade die ersten Jahre einer wissenschaftlichen Tätigkeit sind meist die prägendsten. Natürlich darf und soll ein Grossteil dieser Arbeit «im Kämmerlein» stattfinden. Genauso wichtig ist es aber, ein Gespür dafür zu erhalten, wofür man sich interessiert, worüber man mehr wissen möchte und was man dazu benötigt. Die wohl bedeutendste Unterstützung für junge Forschende ist, einen Austausch untereinander und mit etablierten Expertinnen und Experten zu schaffen, damit sie in einem «safe space» ihre Neugier ausleben und ihre Fertigkeiten ausloten können. Deshalb möchte ich mich mit dem Marie Heim-Vögtlin-Preis für junge Frauen einsetzen, die am Anfang ihrer akademischen Karriere stehen, etwa durch Schreibpreise oder die Organisation von Moot Courts, also simulierte Gerichtsverhandlungen im Rahmen der juristischen Aus- und Weiterbildung.
Nun habilitieren Sie zum Klimarecht … Die Erwärmung des Klimas stellt uns vor massive und neuartige ökologische, soziopolitische und wirtschaftliche Herausforderungen. Die Klimapolitik der Schweiz basiert weitgehend auf konservativen Schätzungen und bisher verfolgte Ansätze, etwa nur Gebäude, Teile des Verkehrs und Energie rechtlich zu erfassen, haben sich als ungenügend erwiesen. Hier ist das öffentliche Recht gefragt, welches sich mit den Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinandersetzt.
Es geht darum, ob traditionelle Instrumente in den Bereichen Rechtssetzung, Rechtsprechung und Durchsetzung diesen neuartigen Herausforderungen angemessen begegnen können: Wie verbindlich werden Klimaziele definiert? Sind Emissionsreduktionsziele verfassungs- und völkerrechtskonform? Wie wird Klimarecht durchgesetzt und wer haftet für Klimaschäden? Gerade wo es um die Landwirtschaft geht, bestehen Verbindungen zu meiner bisherigen Forschung. Denn, wie aktuelle Studien zeigen, ist der Anteil der landwirtschaftlichen Tierhaltung an den weltweiten Treibhausgasmissionen weitaus höher als bisher angenommen und zwar 51 Prozent. Hier gilt es, in Analogien zu denken und Synergien zu schaffen, so dass Treibhausgasemissionen tatsächlich gesenkt werden und die Schweiz effektiv ihren Beitrag leistet, den globalen Temperaturanstieg auf weniger als zwei Grad Celsius zu beschränken.