Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur und seine Gefährdung

Die Eingriff des Menschen in die Natur haben ein Ausmass angenommen, welches sein eigenes Fortbestehen bedroht

    Dass das Verhältnis des Menschen zur Natur durch den Menschen gestört ist und immer gefährdetere Ausmaße annimmt, ist eine Einsicht, der sich heute kaum jemand entziehen kann. Nur noch ganz wenige Ideologen aller Couleurs1 verleugnen die zusehends offensichtlicher werdenden zerstörerischen Eingriffe der Menschen in die Biosphäre unserer Erde und die damit beginnende Selbstzerstörung der Menschheit.

    Es war Günther Anders, der uns mit seinem Buch Endzeit und Zeitenende (1972) am eindringlichsten deutlich gemacht hat, dass wir Menschen mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki von 1945 endgültig in das Zeitalter beginnender Selbstzerstörung eingetreten sind. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die technischen Fertigkeiten, die das menschheitliche, vielleicht sogar alles irdische Leben auszulöschen vermögen, können niemals wieder aus der irdischen Geschichte verschwinden, es sei denn durch die Katastrophe selbst. Das Einzige, was uns angesichts einer solchen auf uns zukommenden Katastrophe der Selbstauslöschung bleibt, ist, mit all unseren sittlichen, sozial-ökologischen Fähigkeiten und Kräften dagegen anzukämpfen, dass diese Endzeit nicht tatsächlich zum Zeitenende menschlichen und irdischen Lebens wird.

    Aber es sind nicht nur die atomaren Waffen, denn – schleichender zwar, aber nicht minder gefährlich – schreitet die wertbesessene industrielle Ausplünderung und Vergiftung der gesamten Biosphäre voran. Die menschengemachte beschleunigte Klimaveränderung ist in diesem Bedrohungsszenarium nur ein besonders gut beobachtbares Teilstück des allgemeinen Zerstörungsprozesses. So berauben wir einerseits die kommenden Generationen wesentlicher Quellen ihrer Lebensgrundlage und vergiften andererseits ohne Rücksicht auf unsere Nachkommen die Luft, die Meere und die Kontinente. Dies alles zusammen bezeichnet der englische Historiker Edward P. Thompson als den „Extremismus als letztes Stadium der Zivilisation“ in das wir eingetreten sind. (Argument 127, 1981)

    Zu den Wenigen, die bereits im 19. Jahrhundert die zerstörerische Potenz der kapitalistischen Industrie gegenüber der Natur frühzeitig erkannten und eine radikale Umkehr einforderten, gehört Karl Marx. Aber erstaunlicherweise haben alle Richtungen, die sich an ihn anschlossen, bis auf ganz wenige Ausnahmen – wie Ernst Bloch, Herbert Marcuse und Henri Lefebvre – nichts von dieser Problematik der Naturzerstörung wahrhaben wollen. Unsere bedrohte Situation erfordert es, dass wir uns endlich ernsthaft mit Marx‘ Dialektik des Mensch-Natur-Verhältnisses und ihrer Gefährdung auseinandersetzen.

     


    1. Das Mensch-Natur-Verhältnis beim jungen Marx

    In den sogenannten Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844, die die philosophische Grundlegung der Marxschen Philosophie darstellen, auf der auch die spätere Kritik der politischen Ökonomie (ab 1859) aufruht, entwickelt Karl Marx die Dialektik von Mensch und Natur in einer Weise, die als Aufhebung der Kontroverse zwischen der Naturphilosophie Schellings und der Philosophie des absoluten Geistes Hegels verstanden werden kann.

    Für Marx ist die produktive Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen die entscheidende Potenz, durch die Natur und Geschichte verknüpft sind, denn in ihr ist sowohl die Naturhaftigkeit des Menschen eingebunden in die Gesamtnatur als auch die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen in ihrer Verwirklichung in der Geschichte gefasst. In der produktiven Lebenstätigkeit, die sowohl die vergegenständlichende Arbeit als auch die gesellschaftliche Praxis umfasst, offenbart sich einerseits die ganze Besonderheit des Menschen in seiner naturbeherrschenden Potenz als auch andererseits gerade seine unauflösliche Verbindung mit der Natur, deren Teil er doch immer bleibt. Weiterhin drückt der Begriff des Gattungswesens aus, dass der Mensch niemals als Einzelwesen bestehen kann, denn sowohl als naturhaftes als auch als geschichtliches Wesen kann er sich immer nur in den lebenspraktischen Bezügen der Gattung behaupten und verwirklichen.

    In der produktiven Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen ist die Doppelbestimmung des Mensch-Natur-Verhältnisses impliziert: Einerseits – gleichsam die Hegelsche Argumentation aufnehmend – zeigt Marx, dass die Menschen durch Arbeit und Praxis sich ihre Welt aufbauen und dass für sie Natur nur das ist, was sie in Wissenschaft und Produktion selber hervorgebracht haben. „Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit.“ (Marx, 40: 516f.)2 Andererseits betont Marx mit Schelling die Eingebundenheit der produktiven Tätigkeit der Menschen in die Produktivität der Natur, in deren lebendigem Zusammenhang überhaupt erst menschliches Leben, Denken und Handeln möglich ist und der die gesellschaftliche Praxis in ihrer Geschichte niemals zu entraten vermag. „Das gegenständliche Wesen [der Mensch ...] schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist.“ (Marx, 40: 577) Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Tätigkeit vorausliegt und gegenübersteht, sondern auch das, was in und durch sie lebendig fortwirkt.

    Zwar liegt diese Doppelbestimmung des Menschseins der Substanz nach aller menschlichen Lebenstätigkeit zugrunde, aber in ihrer bisherigen Geschichte sind die Menschen noch keineswegs die bewussten Subjekte ihrer gesellschaftlichen Geschichte und daher auch nicht die Subjekte eines verantwortlichen Umgangs mit der Natur. Gegenwärtig ist das natürliche und gesellschaftliche Leben der Menschen noch geprägt von der Entfremdung ihrer gesellschaftlichen Lebenstätigkeit und diese betrifft auch das Mensch-Natur-Verhältnis. „Die entfremdete Arbeit macht also […] das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.“ (Marx, 40: 516f.)3

    Solange die in Gesellschaft produzierenden Individuen, da ihre gesellschaftliche Praxis lediglich naturwüchsig, d.h. gesellschaftlich bewusstlos voranschreitet, solange sie sich nicht als die Produzenten ihrer eignen Lebensverhältnisse begreifen, sondern diesen Prozess der Entwicklung als sie bestimmende Zwänge hinnehmen, können sie ihre schöpferischen Potenzen auch nicht im Einklang mit der Produktivität der Natur organisieren. Vielmehr verkehren sich auch hier die naturwüchsig produzierten Lebensverhältnisse zu einem Mechanismus, dem sowohl die Natur der Subjekte als auch der natürliche Lebenszusammenhang unterworfen sind. Die Entfremdung des Menschen von der Natur zeigt sich nach Marx insbesondere darin, dass den Menschen das „Gattungsleben“ nicht als eine mit der Gesamtnatur verknüpfte menschheitliche Aufgabe begriffen, sondern als ein bis in die natürlichsten Lebensverhältnisse des Alltags hinein „naturwüchsiger“ Systemzwang hingenommen wird, der sich in der gegenwärtigen Gesellschaft im unerbittlichen Wertgesetz des Kapitals offenbart.

    Da nun aber die Entfremdung nicht etwas ist, was den Menschen qua menschlicher Natur anhaftet, sondern durch ihre eigene gesellschaftliche Praxis – wenn auch gesellschaftlich bewusstlos – geschichtlich hervorgebracht ist, so kann sie auch nur durch die gesellschaftliche Praxis der bewusst und solidarisch handelnden Individuen überwunden werden – das eben nennt Marx „revolutionäre Praxis“. Diese revolutionäre Praxis ist nun nicht nur bewusster Neubeginn im Verhältnis des Menschen zum Menschen, sondern auch Neubeginn im Verhältnis des Menschen zur Natur: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen [...] ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen. [...] Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ (Marx, 40: 536, 558)

    Dort wo die Menschen ihrer gesellschaftlichen Praxis als geschichtlicher Aufgabe bewusst nachkommen, kann auch ihr Einbezogensein in den lebendigen Naturzusammenhang als eine menschheitliche Aufgabe begriffen und erfüllt werden. „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“ (Marx, 40: 558)

    Zu Unrecht wird Marx meist als jemand gesehen, der den wissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben der bürgerlichen Theorie nicht nur beerbt, sondern sogar noch gänzlich entgrenzt hat. Hierin liegt eine totale Missdeutung der Marxschen Dialektik vor, denn Marx hat durch sein Gesamtwerk hindurch darauf hingewiesen, dass Wissenschaft und Industrie in ihrer gegenwärtigen kapitalistischen Formbestimmtheit entfremdet sind und dadurch eine Bedrohung für die menschliche Lebensgrundlage darstellen. (Marx, 40: 542f.)

    So verdinglichen die Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtigen Form das Wissen von der Natur und vom Menschen zu einer den Menschen und der Natur fremden Gesetzlichkeit, die den Menschen zu beherrschen scheint, obwohl sie Konstrukt seiner Wissenschaft ist, die jedoch durch seine eigene Selbstunterwerfung unter dieses verdinglichte Wissen ihn auch tatsächlich fremdbestimmt. Die „abstrakt idealistischen“ Naturwissenschaften entfremden gerade in ihrer Reduktion auf eine objektive Gesetzmäßigkeit die Natur vom Menschen und den Menschen in ihrem menschlichen Leben von der Natur, sie spalten die lebendige Einheit, in der der Mensch in der Natur und die Natur im Menschen wirkt, in Subjekt und Objekt auf, um ersteres einem naturwüchsigen Expansionsmechanismus zu überlassen, dem letzteres willenlos unterworfen werden kann.

    Erst die Einsicht in die Bestimmtheit der Naturwissenschaft aus der gesellschaftlichen Praxis, die selbst einbezogen ist in den lebendigen Naturzusammenhang, ermöglicht es, die Aufhebung der Naturwissenschaft in ihrer gegenwärtigen entfremdeten Gestalt in eine befreiende Richtung zu antizipieren und zu betreiben. (Marx, 40: 543) Erst dort, wo wir die Naturwissenschaften als geistige Arbeit aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Praxis und in produktiver Auseinandersetzung mit der Natur begreifen, kann das Wissen von der Natur zu einem Begreifen der Natur aus ihr selber und des Menschen in ihr werden. Hier nun steigert sich Marx zur wahrhaft Schellingschen Vision einer auch die menschliche Geschichte mit umfassenden Naturphilosophie, die zugleich eine die Natur umfassende Geschichtsphilosophie ist. „Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später sowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.“ (Marx, 40: 544)

    Dieser Satz von Marx wurde oftmals aus dem Zusammenhang gerissen, auf die gegenwärtigen Naturwissenschaften bezogen und somit positivistisch missdeutet. (Vgl. Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx [1962/1971]; Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus [1976]) Dabei schließen die nachfolgenden Erläuterungen im Grunde ein solches Missverständnis ausdrücklich aus. „Der Mensch ist der unmittelbare Gegenstand der Naturwissenschaft; denn die unmittelbare sinnliche Natur für den Menschen ist unmittelbar die menschliche Sinnlichkeit [...]. Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur und die menschliche Naturwissenschaft oder die natürliche Wissenschaft vom Menschen sind identische Ausdrücke.“ (Marx, 40: 544)

     


    2. Zur Naturproblematik im Spätwerk von Marx

    An der grundlegenden Dialektik des doppelten Mensch-Natur-Verhältnisses hat sich auch in Marx‘ Spätschriften zur Kritik der politischen Ökonomie (ab 1859) nichts geändert, doch ist hier die Fragestellung allein auf die kritische Analyse der ökonomischen Basis der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Negativität und Widersprüchlichkeit konzentriert. Die Kritik der politischen Ökonomie fragt nicht mehr nach den realen Bedingungen der Möglichkeit der Entfremdung, um dadurch die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung zu ermitteln. Diese philosophische Grundlegung setzt Marx in der Kritik der politischen Ökonomie bereits als geklärt voraus. Nun geht es ihm darum, die Entfremdung der ökonomischen Basis der kapitalistischen Gesellschaft in den Mechanismen ihrer Verkehrtheit konkret aufzudecken. Die „in Gesellschaft handelnden Individuen“ werden in ihrer produktiven Tätigkeit bestimmt durch den angesammelten Wert vergegenständlichter Arbeit, der sich in der Verfügungsgewalt einzelner Individuen befindet – denn nichts anderes ist das Kapital. In dieser Verkehrung, dass die gesellschaftlich produzierenden Individuen vom Produkt menschlicher Arbeit beherrscht werden, liegt der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaftsformation.

    Da nun aber die bürgerliche Politische Ökonomie in Theorie und Praxis diesen grundlegenden Widerspruch ignoriert und die ökonomische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft als Menschheitsbestimmung schlechthin behandelt, erscheint das Kapital in der Logik seines Wertgesetzes als das notwendig Bestimmende des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen. In der Kritik der politischen Ökonomie arbeitet Marx kritisch heraus, dass das Kapital in der Logik seiner Struktur- und Bewegungsgesetze, wie sie unserer gegenwärtigen Produktionsweise zugrunde liegen, weder sich aus sich selbst begründen kann, noch durch sich selbst zu erhalten vermag, sondern vielmehr in sich selbst widersprüchlich ist und im Prozess seiner eigenen Reproduktion und Akkumulation diese Widersprüchlichkeit sogar permanent steigert. Daher kann auch der grundlegende Konflikt zwischen den produzierenden Individuen und dem Kapital niemals durch die kapitalistisch bestimmte Wertökonomie, sondern grundsätzlich nur durch die sich dieses Widerspruchs bewusstgewordenen und sie gemeinsam überwindenden Individuen aufgehoben werden.

    Auch die Natur kann in der Kritik der politischen Ökonomie entweder nur als vom Kapital ignorierte, aber grundsätzlich unaufhebbare Grundlage allen gesellschaftlichen Lebens aufscheinen, oder in ihrer Zurichtung durch das Kapital als Objekt der Ausbeutung in Erscheinung treten – also niemals selber in ihrer positiven Bedeutung. Wenn man in dieser Weise berücksichtigt, in welch eingeschränkter Perspektive überhaupt in der Kritik der politischen Ökonomie von der Natur die Rede sein kann, so ist man einerseits überrascht festzustellen, wie eindeutig und unübersehbar Marx selber in seinen späteren Schriften die grundlegende Bedeutung der Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Natur herausstellt, und andererseits erstaunt, wie wenig davon in die Marxismen aller Schattierungen Eingang gefunden hat, denn entweder wird in den Marxismen die Natur objektivistisch zum Material der gesellschaftlichen Praxis denaturiert – wie bei Georgi W. Plechanow, Nikolai Bucharin und dem ganzen dogmatischen Marxismus –, oder sie wird idealistisch eskamotiert – wie bei Georg Lukács, Jean Paul Sartre und einigen anderen kritischen Gesellschaftstheoretikern. So gilt nach wie vor auch gegen diese marxistischen Theoreme, was Marx selber gegen die bürgerliche Ideologie im sozialdemokratischen Vereinigungsprogramm von Gotha 1875 kritisch eingewandt hat: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung der Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ (Marx, 19: 15)

    Dort, wo Marx im ersten Band des Kapital (1867) die Arbeit als substantielle Basis des gesellschaftlichen Lebens und seiner geschichtlichen Entwicklung einführt, stellt er zugleich auch ihre Eingebundenheit in die Natur heraus und unterstreicht die Dialektik dieses doppelten Verhältnisses. (Marx, 23: 192) Die Eingebundenheit menschlichen Lebens in die Natur nicht zu sehen, ist gerade ein Kennzeichen entfremdeten gesellschaftlichen Lebens: „Nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur […] bedarf der Erklärung […], sondern die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital.“ (Marx, 42: 397)

    Nun steht sicherlich außer Zweifel, dass Marx in der Kritik der politischen Ökonomie sein Hauptaugenmerk nicht auf das Problem der Zerstörung der Natur gerichtet hat, für ihn steht die soziale Problematik, die Ausbeutung der arbeitenden Menschen, wie sie im 19. Jahrhundert durch den gewaltig aufblühenden Kapitalismus brutal und massenhaft auftritt, im Zentrum seiner kritischen Untersuchungen. Die Zerstörung der Natur ist dagegen in ihrer ganzen Ausdehnung und Tragweite erst im 20. Jahrhundert, in ihrem lebensbedrohenden Ausmaß sogar erst in den letzten Jahrzehnten sichtbar geworden. Wenn wir dies berücksichtigen, dann allerdings ist man fasziniert von der Weitsichtigkeit, mit der Marx bereits 1867 das Problem der Zerstörung der Natur durch die kapitalistische Produktionsweise benannt und beschrieben hat. Am eindrücklichsten geht er in dem kleinen, aber wichtigen Kapitel „Große Industrie und Agrikultur“ im ersten Band des Kapital darauf ein: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx, 23: 528ff.)

    Auch die kritische Analyse von Wissenschaft und Technik hat Marx in seinem Spätwerk weiter vorangetrieben. Es ist erstaunlich, wie wenig die Marxsche Kritik an Wissenschaft und Technik in ihrer kapitalistischen Formbestimmtheit überhaupt zur Kenntnis genommen worden ist. Sowohl der dogmatische Marxismus als auch ihre Kritiker unterstellten bisher ganz einfach, dass Marx Wissenschaft und Technik in ihrer vorliegenden wertbestimmten Form als die vorwärtstreibenden Produktivkräfte für etwas schlechthin Unantastbares gehalten habe. Für Marx selber aber trifft dies nicht zu, für ihn sind Wissenschaft und Technik selbstverständlich Produkte gesellschaftlicher Praxis, die in ihrer gegenwärtigen kapitalistischen Formbestimmtheit keineswegs von der kritischen Analyse ausgespart werden dürfen.

    In einem 1863 geschriebenen Manuskript, das erstmals 1975 in Auszügen von Jürgen Jungnickel in der Zeitschrift Wirtschaftswissenschaft (23/6 Juni 1975) veröffentlicht wurde, hat Marx dies ausführlich dargelegt. „Die Anwendung der natural agents – gewissermaßen ihre Einverleibung in das Capital – fällt zusammen mit der Entwicklung der Wissenschaft, als eines selbständigen Factors des Productionsprocesses. [...] Erst die capitalistische Productionsweise macht die Naturwissenschaften dem unmittelbaren Productionsproceß dienstbar, während umgekehrt die Entwicklung der Production die Mittel zur theoretischen Unterwerfung der Natur liefert. […] Die Entwicklung der Naturwissenschaften selbst [...] wie alles auf den Productionsproceß bezüglichen Wissens, entwickelt sich selbst wieder auf Grundlage der capitalistischen Production, die ihr zum großen Teil erst die materiellen Mittel der Forschung, Beobachtung, Experimentierung schafft.“ (Marx, Heft XX [1863] 1261ff., zit. nach Jungnickel, 1975)

    In dieser Analyse geht es vor allem darum, zu zeigen, wie das Kapital sich die Wissenschaft unterwirft und sie ausbeutet, also den theoretischen Fortschritt der Menschen als seine Potenz sich einverleibt und sich damit teils die geistigen Kräfte einzelner Kopfarbeiter dienstbar macht und die Mehrzahl der Arbeiter geistig enteignet und sie damit steuerbar hält. Damit werden aber auch zugleich die Wissenschaften selbst in eine Form verwandelt, so dass sie der kapitalistischen Verwertung des Werts dienstbar sind. So ist die Wissenschaft nicht nur in ihrer Anwendung dem Kapital unterworfen, sondern in ihrer weiteren Entwicklung durch und durch von der Logik der kapitalistischen Wertbestimmtheit durchdrungen. Ähnliches gilt auch für die Maschinerie, jene vergegenständlichte Organisation von Produktionsprozessen durch den gesteuerten Einsatz von Naturkräften, wie Marx insbesondere in den Grundrissen (1858) ausführt. (Marx, 42: 593ff.)

    Trotzdem kann nicht übersehen werden, dass das Kapital in Wissenschaft und Maschinerie – sosehr diese in ihrer gegenwärtigen Form der Ausbeutung der Arbeiter und der Natur dienen – zugleich jene gesellschaftlichen Produktivkräfte hervortreibt, die – von den „in Gesellschaft produzierenden Individuen“ übernommen – „der emanzipierten Arbeit zugute kommen und […] die Bedingung ihrer Emanzipation“ sein werden. (Marx, 42: 598) Insofern erweist sich auch hierin das Kapital – wenn auch „ganz unabsichtlich“ – als „der prozessierende Widerspruch“: „Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.“ (Marx, 42: 602, 607)

    Was Marx hier erhofft und fordert ist eine Befreiung von Naturwissenschaft und Technik aus der herrschenden Vereinnahme durch die Logik des Wertgesetzes, um sie durch die „in Gesellschaft produzierenden Individuen“ verantwortungsvoll für eine bessere Zukunft in den Dienst zu nehmen. Die gesellschaftliche Produktion darf nicht länger der „Akkumulation des Kapitals“ unterworfen bleiben, sondern ihre Zielbestimmung muss auf die Erhaltung eines menschenwürdigen Lebens im Einklang mit der Natur ausgerichtet sein.

    In diesem Sinne ist die von Marx im dritten Band des Kapital ausgesprochene Hoffnung auf eine Überwindung des kapitalistischen Privateigentums an Boden und Produktionsmittel zu verstehen: „Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (Marx, 25: 784)

     


    1 Alle Allgemeinbezeichnungen sind in diesem Text werden geschlechterumfassend gebraucht.
    2 Karl Marx, wird im Text mit Band und Seitenangabe zitiert nach der Ausgabe Marx Engels Werke in 43 Bdn., Berlin 1956ff.
    3 Unter Entfremdung versteht Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten alle Verhältnisse, in denen sich Menschen in ihren Entscheidungen ergeben und unhinterfragt von vermeintlichen und real gegebenen Systemzwängen der Wertökonomie fremdbestimmen lassen.