Wie bin ich zur Philosophie gekommen? Mögen viele Studenten an ihrem Gymnasium zum ersten Mal in Berührung mit der Philosophie gekommen sein, so kommt diese Leistung meiner Schule, die Kantonsschule Hohe Promenade, nur äusserst begrenzt zu Guten. Meine erste Begegnung, mit dem, was ich rückblickend als Philosophie bezeichnen würde, fand in einer indirekten, unbeabsichtigten Weise statt. Ich wurde vermittelt, verkuppelt- durch die Literatur. Als kleiner Junge, getrieben von der Neugierde, die die mit Bücher überquillten Regale, die fast jede Wand in unserer Berliner Altbau-Wohnung bedeckten, bei mir erweckte, stürzte ich mich geradezu auf jedes Buch, das mir mein Vater empfahl und verschlang es. Ich verschlang es in dem Sinne, dass nichts vom Buch übrig blieb. Zum Einen waren die Bücher so derartig verunstaltet, dass mein Vater sich davor scheute sie wieder ins Regal zu stellen, zum Anderen, konnte ich mich nach beendeter Lektüre eines Buches, an kaum etwas erinnern. Um gebildet zu sein, dachte ich, reiche es aus die Sätze einzeln zu verstehen-und das war für einen 10-jährigen Jungen schon keine allzu einfache Aufgabe. Und doch reifte mein Bewusstsein an dieser rein stumpfen Lektüre. Ein neues Lebensgefühl begann sich in mir zu entwickeln. Die Bedeutung, die das Leben für mich damals einräumte, bekam seinen Inhalt lediglich durch sein Verb: zu leben. Das Leben stellte ein aktives Prinzip dar, das auf dem unerschütterlichen Grund fester Regeln fusste. Es gab für alle Handlungen Gesetze und auf alle Fragen Antworten. Solange man diese Regeln kennt, wusste man, wie man das Leben zu spielen hat.
Doch es war die Literatur, die mir den Blick hinter die Kulissen des Lebens gestattete, ja gar diese zu Zertreten erlaubte. Welch Chaos musste ich vorfinden! Das Gesellschaftssystem war nicht mehr so gerecht, für das ich es hielt, das Leben war vergänglich und vielleicht sinnlos, das Geld machte nicht mehr glücklich und die Liebe, ja nicht einmal mehr die Liebe war etwas, für die es sich lohnt zu sterben, nein, vielmehr war sie unberechenbar, zerstörerisch, die statt einen Selbstmord des Verliebten, vielmehr die Tötung des Geliebten herbeiführte. Was sich als standfest und notwendig präsentierte, entlarvte sich als eine dem Menschen aufgetischte Illusion, ja gleich dem Märchen, das dem Kind vorgelesen wird, damit es unbesorgt in einen tiefen Schlaf zu sinken vermag. Der Inhalt, den meine Lebensform inne hatte, war nun mit einem Verb nicht mehr auszudrücken, sondern es bedurfte nun des Substantivs: Das Leben. Das Leben wurde zum Objekt gemacht, mir gegenübergestellt, ja gar als Fremdling gegenübergestellt. Es wollte betrachtet, befragt, kritisiert, ja und letztlich interpretiert werden. Man kann sagen, dass ich mit 13 Jahren endlich das Leben kennenlernte.
Mit diesem Bewusstsein kam ich ins Gymnasium. Die Kantonsschule Hohe Promenade war nun ein Gymnasium, an dem die Matura mit einem sprachlichen Profil abgelegt wird. Ich wählte das altsprachliche Profil, da ich mir daraus eine intensivere Beschäftigung mit der Sprache und der Literatur erhoffte. Das Antike Griechenland-Ursprung von der okzidentalen Literatur und Philosophie- ja, das musste was für mich sein. 4 Stunden Griechisch, 4 Stunden Latein, 5 Stunden Deutsch und 5 Stunden Französisch pro Woche. Wenn ich das bis zur 6. Klasse fortführe, wird meinem Werdegang als Denker, und Schriftsteller wohl kaum noch was im Weg stehen können, dachte ich. Voller Vorfreude, und Neugierde ging ich am ersten Schultag in die Schule. Ich hatte einige Tage im voraus schon begonnen meinen Rucksack zu packen. Gespitzte Bleistifte, Kugelschreiben in verschiedenen Farben, Marker, Schreibblöcke-liniert und kariert, Karteikarten, Hefte- eins für jedes Fach, und vieles mehr warteten lediglich auf den Moment, ihre Bestimmung endlich zu erfüllen und mich bei einer erfolgreichen Schulkarriere zu unterstützen. Von allem was ich mir die ganzen Sommerferien lang, kurz vor dem Einschlafen, über Schule, Mitschüler und Lehrer ausmalte, ist nur eines wahr geworden: das Essen der Kantine war scheusslich. Besser ausgerüstet als je zuvor kam ich in die Schule, und dennoch wurde ich erbarmungslos überrumpelt. Hausaufgaben in jeden Fächern, ja sogar in Biologie und Geographie, nagelten mich stundenlang nach Schulschluss an meinen Schreibtisch. Ich war entsetzt über die Sinnlosigkeit der Aufgaben die ich vollbringen musste. Anstatt Goethe und Lessing zu lesen, sollte ich sämtliche Körperteile aller Tiere, Wolkenarten und die chemikalische Zusammensetzung von mir total unbekannten Stoffen auswendig lernen. Die Fächer, in die ich noch Hoffnung hatte, erwiesen sich als keineswegs besser. In Latein wurden statt den erhofften Seneca oder Cicero, vielmehr Lektionstexte aus dem Lehrbuch „ Prima B“, deren offensichtlicher Sinn lediglich darin bestand, die neugelernten Vokabeln aus der vorigen Lektion so oft wie möglich vorkommen zu lassen. Der Griechisch-Unterricht plagte mich aufgrund des Anspruchs des Lehrers, dass jeder Schüler jede Deklination und Konjugation vorwärts und rückwärts an einem Stück zu runterrattern zu vermag. All diese mir damals als sinnlos erscheinenden Aufgaben( nicht dass sie tatsächlich sinnlos waren, ihr Sinn lag aber für einen 13-jährigen Jungen einfach zu weit in der Zukunft), all das dumpfe Auswendiglernen und nicht zuletzt auch die aus meiner Unzufriedenheit resultierenden Streite mit den Lehrpersonen machten mir klar, ich würde meine Bedürfnisse in der Schule nicht befriedigen können. Meine Bedürfnisse waren in der Zeit immer mehr in die Richtung der Philosophie gewachsen. Denn dort stellte man endlich die wichtigen Fragen, nämlich diejenigen, die mit einem selbst oder mit dem anderen zu tun haben. War das Leben einmal zum störenden, fremden Objekt geworden, ist es schwer wieder unkritisch, ja vielleicht gar unbewusst in den Sumpf des Lebens zurückzukehren. Denn bei jeder Handlung, jeder Aussage, jeder Person wurde fortan von mir ein Blick hinter die Kulissen vernommen. Ich riss jedes mir in die Hände fallende Philosophie Buch auf und las, sei es Rousseau, Platon, ja gar Erasmus und Augustinus.
Während meine Hausaufgaben immer seltener vollbracht worden waren und ich die meisten Abende damit verbrachte, meine eigenen Bücher zu lesen, wurde ich dennoch nicht so viel leistungsschwächer in der Schule, als der eine oder andere es erwarten würde. Denn die Philosophie bringt Dir bei, die richtigen Fragen zu stellen, nach guten Kritikpunkten zu suchen und Argumentationen nachzuvollziehen. Dein Verständnis im Allgemeinen, sei es das von Personen, Handlungen oder Texte, wächst mit der Philosophie stetig. Hatte die Literatur mich verkuppelt mit der Philosophie und gleichzeitig entkuppelt von allem, was die Schule betraf, so war es doch aber die Philosophie, die mich wieder mit ihr versöhnte. Denn wieviel kann einem als interessant erscheinen, wenn man nur im Besitz der richtigen Fragen ist, wenn man vermag mit immer neuen Perspektiven die Dinge zu beleuchten.