Essay

Ein Selbstmordargument als Reflexionsimpuls

Eine Einsendung im Rahmen des Essaywettbewerbs zum Thema "Selbstmord"

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    1. Einleitung

    Im Essay argumentiere ich, dass die Argumentation von Sokrates über den Selbstmord unser eigenes Nachdenken über den Selbstmord bereichern kann. Erstens rekonstruiere ich das Argument aus dem Phaidon. Dafür verwende ich neben dem Primärtext eine Interpretation von Daniel Werner, der es gelingt, die Bedeutung des platonischen Dialogs für unser eigenes Nachdenken über den Suizid aufzuzeigen. Im zweiten Teil des Essays formuliere ich weitere theoretische und praktische Konsequenzen der Argumentation aus dem Phaidon, die für unser eigenes Nachdenken über den Selbstmord relevant sind. Eine Auseinandersetzung mit dem Selbstmord ist letztendlich eine Auseinandersetzung mit dem Leben und mit der Philosophie als einer Lebensweise. Auch wenn der Dialog keine umfassende Darstellung des Selbstmords bietet, die versucht, dessen Komplexität in all seinen Facetten aufzuzeigen, schaffen es die Argumente dennoch, uns den Wert des Lebens vor Augen zu führen.

    2. Sokrates über Selbstmord (Phaidon 61c–62c)1

    Die anhaltenden Kontroversen über den Suizid sind philosophischer Natur, denn der Selbstmord wirft eine Vielzahl von begrifflichen, moralischen und psychologischen Fragen auf, so Cholbi (Cholbi 2021, Suicide, para. 2). Der abendländische philosophische Diskurs über den Suizid reicht mindestens bis zu Platon zurück (ebd., Ancient and Classical Views of Suicide, para. 1). Im Phaidon argumentiert Sokrates dafür, dass Selbstmord immer falsch ist, weil dieser bedeutet, sich (d.h. die Seele) von einem Wachposten (d.h. dem Körper) zu befreien, in den uns die Götter zur Strafe eingesperrt haben (ebd., para. 2). Der Dialog beinhaltet eine von nur zwei Stellen im gesamten Werk Platons, an denen der Selbstmord erwähnt wird (Werner 2 018, 157). Es handelt sich um eine kurze Passage, die bekanntermaßen verwirrend und unerforscht ist, wie Werner schreibt (ebd.). Aufgrund dessen eignet sie sich gut für eine philosophische Auseinandersetzung.

    Wir befinden uns in einem Gefängnis, aus dem wir uns nicht alleine befreien dürfen, argumentiert Sokrates (Phaidon 62b). Werner schlägt vor, dass der Rest des Phaidon die Argumentation von Sokrates näher erläutert (Werner 2018, 158). Es stellt sich heraus, schreibt Werner, dass wir für unsere eigene inkarnierte Gefangenschaft verantwortlich sind, indem sie das Ergebnis vergangener Missetaten ist (ebd.). Der einzige Weg, uns aus dieser Gefangenschaft zu befreien, ist eine lebenslange philosophische Läuterung und Vorbereitung, das heißt, die Kultivierung unseres Wunsches, die platonischen Ideen zu erkennen, und der Versuch, die Seele von selbst fragen zu lassen (ebd.). Selbstmord beendet diesen Prozess der Selbstkultivierung vorzeitig, wodurch die notwendige Läuterung nicht stattfinden kann (ebd.). Infolgedessen ist der Akt der Selbsttötung eine implizite Behauptung, dass die eigene Läuterung abgeschlossen ist, und man das Recht hat, aus dem Leben zu scheiden, folgert Werner (ebd.). Selbstmord ist somit die eigene Fehleinschätzung und vorzeitige Beendigung einer Aufgabe, die uns, wie Sokrates schreibt, die Götter selbst aufgelegt haben. Wir haben uns weder selbst zur Welt gebracht, noch sollen wir uns selbst von der Welt entfernen. Entscheidend für die Argumentation von Sokrates ist, dass wir ohne unsere Zustimmung auf die Welt kommen und auch ohne unsere Zustimmung die Welt wieder verlassen sollten. Ob die Götter uns in einen Körper eingesperrt haben, oder unsere Läuterung einen anderen Ursprung hat, ist für das Argument irrelevant. Von Bedeutung ist, dass wir nicht über unsere Geburt entscheiden, wodurch auch unser Tod nicht in unserer Macht liegen sollte.

    Für Sokrates sind wir immer noch Gefangene, so Werner (ebd., 176). Grund dafür ist, dass unsere Seele in einem Körper gefangen ist (ebd.). Der leibliche Mensch ist von der Weisheit, die er am meisten begehrt, getrennt, und erst nach dem Tod kann seine Gefangenschaft vielleicht ein Ende finden, heißt es im Phaidon (ebd.). Selbstmord kann einer Person nicht ermöglichen, dem Gefängnis des inkarnierten Lebens zu entkommen, weil sie dann die philosophische Läuterung nicht ausreichend praktizieren würde (ebd., 177). Dieses Gefängnis ist das der inkarnierten, irdischen Existenz, und wir sind gefangen, weil wir als Folge früherer Untaten und geistiger Mängel wiedergeboren wurden, so rekonstruiert Werner die Argumentation von Sokrates (ebd., 178). Das heißt, wir sind selbst schuld, dass wir in einem Gefängnis sind. Nur wer wahrhaftig philosophiert, kann dem wiederholten Kreislauf der Reinkarnation entkommen, und in die Gesellschaft des Göttlichen eintreten, folgert Werner (ebd.). In seinen Worten: “[…] suicide is ultimately inconsistent with philosophical purification’’ (ebd.). Die philosophische Vorbereitung ist demnach ein andauernder Prozess, der so lange fortgesetzt werden muss, wie wir dazu in der Lage sind (ebd., 178–179). Selbstmord beraubt uns weiterer Gelegenheiten, uns auf diesen Prozess einzulassen und besser zu werden (ebd., 179). Wer Selbstmord begeht, kann nicht sicher sein, alles getan zu haben, was er in seinem Leben hätte tun können, um mit Gewissheit zu wissen, ob sein Tod zur Freiheit oder zu einer weiteren Haftstrafe führen wird (ebd.). Philosophie ist die Liebe und das unaufhörliche Streben nach Weisheit, stellt Werner fest (ebd.). Das bedeutet, dass das philosophische Staunen nicht aufhören darf. “[S]uicide is hardly a cure for our imprisonment, but a recipe for its continuation’’, schreibt Werner (ebd., 180). Das philosophische Leben beinhaltet demnach einen besonderen Weg der Vorbereitung, der es dem Einzelnen ermöglicht, eine privilegierte Perspektive und Ebene des Verstehens zu erlangen und sich schließlich aus dem Gefängnis zu befreien, schließt Werner (ebd.).

    Werner stellt fest, dass im Vordergrund der Argumentation der durch den Selbstmord verursachte Schaden in Form einer vorzeitigen Beendigung des philosophischen Lebens und der daraus resultierenden Beeinträchtigung des persönlichen Glücks sowohl im Leben als auch nach dem Tod steht (ebd., 181). Selbstmord zu begehen ist infolgedessen unvernünftig, wie Sokrates sagt (Phaidon 62c), denn ein Leben, das auf Reflexionen beruht, kann ausschließlich von der Vernunft geleitet werden. Ein Leben, das der Philosophie gewidmet ist, widersteht demnach dem Selbstmord, es setzt sich diesem entgegen. Selbstmord ist, dieser Argumentation nach, nicht nur für das Individuum schlecht, wie Werner feststellt (ebd., 183). Wenn man länger lebt, hat man auch länger die Möglichkeit, sich in einer Gemeinschaft mit Philosophie zu beschäftigen (ebd.). Das bedeutet, dass nicht nur der Einzelne von der Philosophie profitiert. Ein gutes Leben kann ausschließlich durch die Philosophie gestaltet werden, und wenn einzelne Menschen ein solches Leben anstreben, wird auch die Gesellschaft, als eine organisierte Gruppe dieser Menschen, bereichert werden. Das gute Leben des Einzelnen spiegelt sich demnach in der Gesellschaft wider. Wie das Individuum lebt, wird im Kollektiv abgebildet, und wenn der Selbstmord schlecht für die einzelne Person ist, ist er ebenfalls schlecht für die Gesellschaft. Sokrates fordert uns auf, das philosophische Leben zu leben, bevor wir es vorschnell wegwerfen (ebd., 186). Wenn wir das philosophische Leben praktizieren, wird auch die Gesellschaft von unseren Bemühungen einen Nutzen haben. Infolgedessen müssen wir jede Sekunde dieses Lebens nutzen. 

    3. Wie können wir über Selbstmord nachdenken?

    Das Argument aus dem Phaidon stellt keine ausführliche Auseinandersetzung mit der Komplexität des Selbstmords dar. Trotzdem offenbart es eine grundlegende Wahrheit über die Falschheit des Selbstmords. Selbstmord ist falsch, weil er uns des Lebens beraubt. Aus der Sicht der Philosophie beraubt er uns vor allem des vernünftigen Lebens. Infolgedessen widersetzt er sich im Wesentlichen der Vernunft, und damit ebenfalls dem, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. “[S]uicide is contrary to the philosophical life to which we are called, and ultimately it prevents the soul from attaining its deepest desires’’, schreibt Werner (ebd.). Demzufolge ist nicht der Tod der Gegensatz zum Leben, sondern der Selbstmord. Der Tod ist ein Teil des Lebens, eine Gewissheit, die außerhalb unserer Macht liegt. Wir sind aber selbst dafür verantwortlich, wenn wir unser Leben vorzeitig beenden. Ein gutes Leben verwirklicht sich dann, wenn es von der Vernunft geleitet wird, und ein vernünftiges Leben widersetzt sich der bloßen Idee des Selbstmords.

    Ein Nachdenken über den Selbstmord ist demzufolge ein Nachdenken über das Leben selbst. Es ist eine Auseinandersetzung mit den Eckpfeilern der Philosophie. Das Philosophieren beginnt mit der Geburt, und es endet mit dem Tod. Jede Frage, jede theoretische Problematik und jede praktische Konsequenz entwickelt sich zwischen diesen beiden Momenten. Infolgedessen ist die Frage nach dem Selbstmord auch eine Frage nach der Philosophie und nach dem Philosophieren. Es ist eine Frage, die den Kern des Philosophierens ausmacht.

    Als vernunftbegabte Wesen befinden wir uns immer zwischen der Vernunft und unseren Instinkten. Die Entscheidung, im Leben zu bleiben, ist vernunftgeleitet, während der Selbstmord aus einem Mangel an Vernunft resultiert. Selbstmord wird von einem Kontrollverlust begleitet, der in seiner Natur grundsätzlich verschieden von der Vernunft ist. Diese Konklusion wird im Phaidon implizit vorgestellt. Sie ist nicht das Resultat einer umfangreichen Auseinandersetzung mit der Problematik des Selbstmords, sondern das Ergebnis eines Versuchs, das Leben lebenswert darzustellen. Platon schafft es, seine Leserinnen und Leser zu motivieren. Er versucht ihnen zu veranschaulichen, weshalb das Leben wertvoll ist und geschätzt werden muss. Das heißt, dass der Phaidon den zeitgenössischen philosophischen Texten nicht ähnelt. Der Dialog versucht nicht lediglich eine Problematik aufzuklären, oder für eine bestimmte These zu argumentieren. Es ist ein Text, der uns ermutigt, Philosophie zu betreiben.

    Nicht nur die akademische Welt, sondern jeder Leser und jede Leserin kann sich von dem Phaidon begeistern lassen. In ihrer Zugänglichkeit offenbart sich die Relevanz des platonischen Dialogs. Wenige Passagen schaffen es, einen wesentlichen Teil der Komplexität des Selbstmords zu illustrieren, um dem Leser ausreichend zu helfen, damit sich dieser eigenständig mit dieser Problematik befassen kann. Unser eigenes Nachdenken über den Selbstmord, über das Leben, und über die Philosophie, als einer Lebensführung, wird im Dialog auf eine Weise präsentiert, die sich nicht durch Klarheit, die in unserer Zeit als höchste Qualität der Philosophie angesehen wird, sondern durch eine geistige Tiefe auszeichnet. Platons Phaidon ist demnach ein Text, der die Grenzen zwischen Philosophie und Kunst verwischt und der unser Nachdenken über den Selbstmord in einer Weise bereichern kann, wie es kein Text der gegenwärtigen philosophischen Literatur vermag.

    4 . Schluss

    Im Phaidon argumentiert Sokrates dafür, dass der Selbstmord falsch ist. Ein philosophisches Leben, das heißt, ein durchdachtes Leben, widersetzt sich seiner Natur nach dem Selbstmord. Als vernunftbegabte Wesen sollen wir, der Argumentation von Sokrates folgend, jeden Moment des Lebens nutzen, um ein besseres Leben zu führen. Ein besseres Leben ist für Sokrates vernunftgeleitet, und als solches ist es ein Gegensatz zum Selbstmord, denn dieser würde uns die Möglichkeit rauben, ein vernunftgeleitetes Leben so lange wie möglich zu praktizieren. Obwohl Platon keinen Text geschrieben hat, der alle erkenntnistheoretischen, ontologischen und ethischen Fragen des Selbstmords behandelt, schafft er es dennoch, uns eine Argumentation zu präsentieren, die uns von der Falschheit des Selbstmords überzeugen kann. Das Leben ist wertvoll, und wir selbst können diesen Wert nicht in Frage stellen.


    Literaturverzeichnis

    Cholbi, Michael. 2021.“Suicide.’’ In Stanford Encyclopedia of Philosophy, edited by Edward N. Zalta Stanford University, Winter 2021 edition. Article published May 18, 2004. https://plato.stanford.edu/entries/suicide/.

    Platon. 2014. Phaidon. Übers. von Theodor Ebert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    Werner, Daniel. 2018. “Suicide in Phaedo.’’ Rhizomata 6, no. 2 (December): 157–188. https://doi.org/10.1515/rhiz-2018-0008. 5


    1Für Zitate aus Platons Phaidon verwende ich die Übersetzung von Ebert (in Platon: Phaidon. Göttingen, 2014).