Interview mit Martino Mona.

Gibt es ein Recht auf Einwanderung?

Prof. Dr. Martino Mona beantwortet die Fragen, ob es ein Recht auf Einwanderung gibt und welches die grösste Schwierigkeit der Schweiz im Bereich Migrationspolitik ist.

    Gibt es ein Recht auf Einwanderung?

    Nein, ein allgemeines Recht auf Einwanderung gibt es zurzeit nicht. Dies ist aber ein willkürlicher Zustand, der historisch betrachtet eher eine Eigenheit darstellt: Die Staatengemeinschaft kam bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend ohne Einwanderungsrestriktionen aus, obschon der Anteil an Migranten an der Gesamtbevölkerung damals höher war. Dass Gesellschaften nur dank einer drastischen Einschränkung der Einwanderung funktionieren können, ist entgegen dem heutigen politischen mainstream nicht anzunehmen. Die Geschichte zeigt vielmehr, dass freie Migration den Prozess des Wirtschaftswachstums gestärkt, zur Entstehung von erfolgreichen Staaten beigetragen und Kulturen und Zivilisationen bereichert hat. Migranten, die den Mut hatten, sich über die Grenzen ihres Landes hinauszuwagen, um in fremden Ländern nach neuen Lebenschancen zu suchen, haben sich grundsätzlich – sofern man sie nicht daran hinderte – zum erheblichen Vorteil des aufnehmenden Landes als tatkräftige Mitglieder der Gesellschaft erwiesen. Die heutige Situation bildet diese Erkenntnis offensichtlich nicht ab. An vielen Fronten wird auf eine Restriktion der Einwanderung hin gearbeitet und damit faktisch auf die Verteidigung unserer Privilegien. Dies muss geändert werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis kommende Generationen dazu gelangen, ein Recht auf Einwanderung anzuerkennen; sie werden auf unsere Zeit schauen und diese genauso kritisch beurteilen, wie wir die Zeiten der Leibeigenschaft, des Feudalismus, der systematischen Unterdrückung von Frauen und Kindern oder der Diskriminierung von Behinderten beurteilen. Die Errungenschaften in diesen Bereichen müssen selbstverständlich weitere ausgebaut werden und sind immer wieder vor Angriffen zu schützen. Um wirkliche Gerechtigkeit schaffen zu können, müssen aber auch die Bedürfnisse und Interessen der Ausländer und Immigranten stärker gewichtet und rechtlich geschützt werden. Dazu ist aber in der Tat eine besondere Leistung der Perspektivenübernahme erforderlich, da „Ausländer“ diejenige Kategorie von Menschen ist, zu der ich in meinem Land mit Sicherheit nie gehören werde.

     

    Die Migrationspolitik der Schweiz ist ein ständiges Thema in den Medien. Welches ist Ihrer Ansicht nach die grösste Schwierigkeit, der sich die Schweiz zu stellen hat?

    Die grösste Schwierigkeit ergibt sich aus dem eben Gesagten. Während es weitgehend gelungen ist, ein Gefühl der Solidarität oder des Gemeinsinns zu schaffen im Hinblick auf die Sorgen und Bedürfnisse von einheimischen Gruppen oder Minderheiten, wird die Migrationspolitik dominiert von der Unterscheidung in „Wir“ und „Andere“. Das Resultat ist eine selektive Gesetzgebung, die jegliches Mass verloren hat, weil sie eben nicht „uns“ betrifft, sondern nur andere Menschen, zu denen wir kaum einen Bezug haben. Menschen, die zwar ähnliche Bedürfnisse nach Freiheit, Wohlstand und Frieden haben wie wir, die wir aber immer als eine von uns klar unterscheidbare Gruppe bestimmen können, erscheinen sodann als Ruhestörer oder gar als Feinde. Weil nur die anderen und niemals wir selber Einbussen in Freiheiten und Rechte erleiden, weil wir wie Lord Angelo in Shakespeares „Mass für Mass“ Gesetze nicht auf uns selber anwenden müssen, entfällt die natürliche Übermasskontrolle; die berüchtigte Schraube kann – vor allem im Asylwesen – hemmungslos angezogen werden.

    So kommt es, um nur wenige Beispiele zu nennen, dass wegen „herumlungernden“ Asylbewerbern diese in geschlossenen Zentren interniert werden, obschon das Problem durch das Arbeitsverbot für Asylbewerber weitegehend selbstverschuldet ist. Oder es geistert die skurrile Idee herum, man könne das „Asylproblem“ in den Griff bekommen, indem man die Schweiz weniger attraktiv macht, vergisst aber, dass Menschen ohnehin einwandern werden, da die Hoffnung auf Freiheit und Wohlstand immer die grössere Anziehungskraft hat. Es erstaunt auch nicht, dass es in diesem Klima geschehen kann, dass Journalisten einer Tageszeitung tatsächlich meinen, ihre Nachricht, 60 Prozent der Asylbewerber seien HIV-positiv, könne richtig sein. Das sind Symptome des Zerfalls eines für ein Gemeinwesen notwendigen Minimums an Mitgefühl für alle Menschen. Dieser Zerfall ist die grösste Schwierigkeit und Gefahr, der wir uns stellen müssen.

     

    Was sollte Ihrer Meinung nach heute in der Schweiz besser gemacht werden hinsichtlich der Einwanderungsproblematik?

    Die Unterminierung dieses fundamentalen Mitgefühls für den „Anderen“, nicht zuletzt aus politischem Kalkül, ist ein Spiel mit dem Feuer, weil diese staatserhaltende Fähigkeit, für andere fühlen und sich in ihre Situation versetzen zu können, keine naturgegebene Gabe ist, sondern im Gegenteil etwas ist, was immer von neuem errungen werden muss. Es reicht aber nicht, gleichsam aus Menschenliebe Empathie zu erlernen, da diese zu sehr von tatsächlichen Gegebenheiten abgängig ist. Vielmehr muss aufgrund einer Perspektivenübernahme objektiv festgestellt werden, dass Ausländern und Immigranten grundsätzlich die gleichen Rechte zustehen wie uns. Wir haben genauso wenig ein legitimes Vorrecht auf den Boden der Schweiz, nur weil wir zufälligerweise hier geboren wurde, wie ein Feudalherr ein legitimes Anrecht auf seine Ländereien und seine Leibeigenen hatte, nur weil er zufälligerweise als Sohn des Fürsten geboren wurde. Die Folge solcher Überlegungen ist freilich nicht, dass sich ein Recht auf Einwanderung unmittelbar durchzusetzen vermag. Es kann sich aber als Ideal in unseren Köpfen festsetzen. Dies müssen wir besser machen. Die technokratischen Versuche, Einwanderung einzuschränken, zu steuern oder zu manipulieren, sind zum Scheitern verurteilt. Faktisch wird die Umsetzung dieses Ideals nichts anderes als eine Beweislastumkehr bewirken: Während heute kein Recht auf Einwanderung besteht und der „Bittsteller“ beweisen muss, dass ihm die Einwanderung ausnahmsweise zusteht, soll in Zukunft der aufnehmende Staat beweisen müssen, warum im Einzelfall ausnahmsweise die Anerkennung des Rechts auf Einwanderung nicht möglich ist. Damit wären wir bei dem Verfahren, das wir für unsere Rechte und Freiheiten als selbstverständlich erachten. So wie die Rechtsphilosophie diese Fortschritte für unsere Rechte geförderte hat, wirkt sie auch heute tatkräftig bei der Ausweitung der Rechte auf andere Menschen mit. Die momentanen Blockaden und Rückfälle sind als unnötiger Aufschub des letztlich doch stattfindenden Fortschritts zwar unerfreulich, sollten uns aber nicht entmutigen: Jede Form von Ungerechtigkeit hat ein Verfalldatum.