Liebe und Politik

In seinem berühmten Vortrag "Politik als Beruf" schreibt Max Weber einmal, dass der "Genius der Politik" mit dem "Gott der Liebe" in einer unausweichlichen Spannung lebt, einer Spannung, die jederzeit unlösbare Konflikte nach sich ziehen kann.

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    Politik, daran lässt Weber keinen Zweifel, arbeitet mit Gewalt und macht sich oft genug die Hände schmutzig; der Wunsch nach einem Reich der Liebe dagegen vermag zwar im diesseitigen Handeln Wirkung zu entfalten (Jesus und Franz von Assisi sind für Weber Gewährsleute), gilt aber wesentlich einem Reich, das nicht von dieser Welt ist. So bleiben Politik und Liebe unversöhnlich, das macht in gewisser Weise die Tragik des politischen Führungspersonals aus, das weiss, welcher Preis für Politik zu zahlen ist.

    Unlängst aber gibt es Versuche, die Liebe wieder stärker in die Politik zu integrieren, und zwar nicht so sehr auf der Ebene des politischen Führungspersonals als auf der Ebene einer allgemeinen politischen Kultur, in deren Rahmen Einstellungen, Haltungen und eben auch Emotionen entwickelt und oftmals öffentlich artikuliert werden. Martha Nussbaum etwa fügt ihrem Buch Politische Emotionen den Untertitel hinzu: Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist.

    Was meint sie damit? Sie meint, dass liberale Rechtsstaaten sich nicht nur darauf verlassen können, dass die Bürgerinnen und Bürger die wesentlichen Verfassungsprinzipien und Rechtsgrundsätze kennen, sie müssen sie auch lieben lernen, müssen sie motivational unterstützen, denn nur dann werden sie politisch relevante Projekte unterstützen, werden bereit sein, Opfer für das Gemeinwesen zu bringen, und werden Andersdenkenden nicht mit Hass und Diffamierung begegnen. Liebe stellt gleichsam emotionale Energien zur Verfügung, die abstrakte Prinzipien mit Leben füllen und wirksames Handeln zum Wohle der Allgemeinheit nach sich ziehen. Wo Habermas Verfassungspatriotismus sagt, sagt Nussbaum Verfassungsliebe und meint damit nicht nur Liebe im engeren, erotischen Sinne, sondern auch Emotionen wie Mitleid, Empathie oder Fürsorge.

    Aber woher soll diese zivile Liebe kommen? Nussbaum sieht vor allem zwei Quellen, die oft ineinander überfliessen: Auf der einen Seite Bildung über Kunst, Kultur oder Literatur sowie öffentliche Monumente, Feiertage oder Nationalhymnen, auf der anderen Seite die Orientierung an Figuren, die man Heroen der Liebe nennen kann: Gandhi, Martin Luther King, Abraham Lincoln, Nelson Mandela - das sind einige der Figuren, die für Nussbaum Vorbildrollen spielen, interessanterweise Figuren, die nur zweitweise politische Ämter im Sinne Webers innehatten. Ihre Reden, Taten und Texte ergreifen uns, lassen neue Formen des Zusammenlebens vorstellbar werden und tragen uns damit, so Nussbaum, über den engen Kreis unserer sonstigen Zuneigung hinaus.

    Wie sinnvoll ist diese Verteidigung der Rolle der Liebe in der Politik, die, gerade im Vergleich zu Weber, mit Gewalt und Zwang wenig zu tun haben will? Man muss nicht bezweifeln, dass der Einsatz für zentrale liberale politische Institutionen und Prinzipien sicher zunimmt, wenn man sich mit ihnen identifiziert und sich affektiv zu ihnen hingezogen fühlt, niemand verteidigt Werte, die ihm gleichgültig sind. Die Probleme, die man mit Nussbaums Ansatz haben kann, betreffen weniger ihre grundlegende Einsicht in die politische Relevanz menschlicher Emotionen als die Details, in die sie diese Einsicht kleidet.

    So ist sich Nussbaum natürlich darüber im Klaren, dass menschliche Emotionalität auch destruktive Seiten haben kann; viele Monumente und Feiertage, viele Hymnen und Ursprungsmythen haben einen nationalen oder sogar nationalistischen Einschlag und werden kaum geeignet sein, den Kreis des Mitgefühls über die Mitglieder der eigenen Nation hinaus auszudehnen. Es kommt also auf die richtigen Monumente und Lieder an, auf die richtigen Vorbilder und Texte. Richtig heisst hier: Sie dürfen nicht exkludieren, sie sollen vielmehr Bindung an die geeigneten Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien generieren, und zwar nach innen und aussen. Wenn Martin Luther King etwa für die Gleichberechtigung der Schwarzen kämpft, tut er das naturgemäss im Namen der Schwarzen, aber zugleich beruft er sich auf die Unabhängigkeitserklärung, die allen Menschen Freiheit verspricht. Die Geburtsstätte des Universalismus ist, wenn man so will, der lokale Freiheitskampf, der über sich hinaus weist.

    Trotzdem sind die USA nach wie vor von Rassismus geplagt - Michelle Alexanders The New Jim Crow zeigt das auf ernüchternde Weise. Was ist da schief gelaufen? Lesen die Weissen falsche Texte, hören sie falsche Lieder, haben sie falsche Vorbilder? Oder ist die Idee, die für eine gerechte Gesellschaft angemessenen Emotionen liessen sich über die Rezeption von grosser Kunst oder brillanter politischer Rhetorik vermitteln, schlicht naiv? Tatsächlich fällt an Nussbaums politischer Theorie gelegentlich ein erstaunlich weltfremder Optimismus auf. Bei Ihren Einstein Lectures in Bern (2014) vertrat Nussbaum ernsthaft den Gedanken, das NSA-Überwachungsdesaster hätte sich verhindern lassen, wenn die amerikanischen Geheimdienste weniger Natur- oder Computer- und stattdessen mehr Geisteswissenschaftler eingestellt hätten. Wer Dickens liest, wird ein besserer, da zu grösserer Empathie fähiger Mensch, das scheint nach wie vor eine Grundüberzeugung von Nussbaum zu sein. Das Problem mit dieser Position ist das, was man ihren humanistischen Quasi-Determinismus nennen kann. Wer sich den richtigen Quellen ausliefert, die richtigen Lieder hört, die richtigen Bücher liest, die richtigen Monumente besucht, der kann gar nicht anders als seinen Zirkel des Mitgefühls zu erweitern. Emotionen aber lassen sich nicht so leicht steuern, allemal nicht Emotionen wie Empathie, Fürsorge oder zivile Liebe. Emotionale Akteure sind eingebettet in Familien und Beziehungen, sind Mitglieder in Vereinen und Firmen, sie unterliegen zahllosen Zwängen und Verpflichtungen, sind Glieder oft unsichtbarer Machtnetzwerke, gehören einer Klasse an, besitzen eine Geschlechtsidentität oder eine partikulare politische Bindung. Alle diese Faktoren werden das Verhalten der Menschen und ihre Emotionen auf die eine oder andere Weise beeinflussen, verwandeln den einen in einen expliziten Rassisten, den anderen in einen, der seinen eigenen Rassismus gar nicht bemerkt, und einen Dritten in einen leidenschaftlichen Anti-Rassisten. Diese vielfältigen Einflüsse lassen sich aber nicht so leicht umpolen, das macht Nussbaums Faszination für die transformatorische Kraft grosser politischer Führungspersönlichkeiten so naiv. Die einen lieben ihre Familie, die andere ihren Clan, wieder andere lieben ihr "Vaterland" oder ihre Verfassung. Manche lassen sich anstecken von Gandhi, andere nicht. Die, die ihr "Vaterland" lieben und sonst nichts (America First), werden durch bessere Lektüre kaum ihren moralischen Zirkel erweitern. Es sei wiederholt, wen Ungerechtigkeit nicht auch emotional empört, der wird kaum für Gerechtigkeit kämpfen. Wir brauchen Emotionen, und wir brauchen die richtigen Emotionen, nennen wir sie Liebe zur Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Wie wir aber zu diesen richtigen Emotionen gelangen, bleibt eine ungemein schwierig zu beantwortende Frage. Und was genau Liebe hier eigentlich bedeutet, bleibt auch bei Nussbaum eher undeutlich, man könnte den Begriff vermutlich auch durch "Identifikation", "Bindung" oder "Verpflichtung" ersetzen.