Für Pelz leiden und sterben Tiere. Für viele andere Dinge auch. Und doch finden wir Pelztragen in der Regel ganz besonders moralisch stossend – woran liegt das? Warum lehnen wir Pelz stärker ab als andere Tierprodukte? Ich stelle drei tierethische und sozialwissenschaftliche Überlegungen dazu vor.
Achtung: Im Post hat es zwei Beschreibungen von Brutalität, die starke Nerven erfordern. Die Lesezeit ist ungefähr 20 Minuten.
In meiner Zeit als Hilfsassistent am Ethikzentrum der Uni Zürich musste ich einmal einen ziemlich ungewöhnlichen Auftrag erledigen: Mein Chef, der Professor, brauchte für einen Vortrag dringend ein Video, in dem man etwas offensichtlich Unmoralisches sieht. Im Vortrag sollte es um die Frage gehen, was genau passiert, wenn wir sehen, dass etwas falsch ist. Wichtig dabei: Was man sieht, darf nicht fake sein. Mir war sofort klar, wo ich mit meiner Recherche anfangen musste: Vor Jahren hatte ich im Film "Earthlings" zum ersten Mal Bilder aus der Pelzproduktion gesehen. Besonders ein Bild konnte ich seither nicht vergessen: Ein lebendig gehäuteter Fuchs, Marderhund oder Waschbär, der zitternd mit blutigen Lidern in die Kamera blinzelt. Das ist auch das Bild, das mir durch den Kopf schiesst, wenn ich Pelzbesätze an Jacken und Mützen sehe.
Man muss dieses Video nicht gesehen haben, um auf Pelz mit einem starken moralischen Bauchgefühl zu reagieren. Vereinzelt haben SoziologInnen erhoben, wie die Leute über Pelz denken. Das Ergebnis: Bis zu 85% der Leute waren zumindest vor einigen Jahren dezidiert gegen Pelz, je nachdem wie man die Frage genau stellt.i Es ist auch kein Zufall, dass Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen in den kalten Monaten viele Ressourcen in grosse Anti-Pelz-Kampagnen investieren, denn mit diesem Thema kann man viele Leute erreichen. Pelz ist in Sachen Tierethik ein Ausnahmethema, bei dem die moralischen Intuitionen besonders vieler Menschen übereinstimmen: Sie finden, Tiere für Pelz zu töten, den Pelz zu verkaufen, zu kaufen und ihn zu tragen ist falsch. Und wohlgemerkt: Man findet keine ähnlich starke Übereinstimmung in Bezug auf andere Tierprodukte wie Leder, Daunen, Fleisch, Milch oder Eier. Auch ich persönlich muss sagen, dass mich Pelz ganz besonders stört – und ich kenne viele Leute aus dem Tierschutz- und Tierrechtsbereich, auch vegane Menschen, denen es ebenso geht.
Wir finden Pelz also besonders moralisch stossend. Warum? Wie kann man es erklären, dass wir auf Pelz stärker reagieren als auf andere Dinge, für welche Tiere leiden und sterben? Kann man aus der Perspektive der Tierethik argumentieren, dass unser Bauchgefühl berechtigt ist? Ich kann es zumindest versuchen.
Erster Erklärungs- und Rechtfertigungsversuch. Spontan könnte man denken: Warum finden wir Pelz so schlimm? Dumme Frage. Man sieht ja zum Beispiel bei "Earthlings", was für Pelz alles getan werden muss. Klar, nicht für jeden Pelz wurde ein Tier lebendig gehäutet. Aber es ist ein Risiko, dass man zum Beispiel bei jedem Kauf von chinesischem Marderhund in Kauf nimmt. Immerhin gibt es vor Ort kein Tierschutzgesetz, keine Kontrollen und keine Aufzeichnungen. Und ausserdem ist es schlimm genug, dass diese Tiere eingesperrt, ihre Bedürfnisse übergangen und sie schlussendlich getötet werden. Das ist der gemeinsame Nenner der Pelzproduktion, sei es in Dänemark, Polen, China oder Finnland. Und als Kojote in einer kanadischen Tellereisen-Falle festzuhängen, um unter Panik, Schmerzen und Erschöpfung erschossen zu werden, ist auch nicht wesentlich besser. Und all das tut man für ein reines Luxusprodukt. In tierethischer Fachsprache könnte man sagen: Vitale Interessen der Tiere werden für triviale Interessen der Menschen übergangen. Das heisst: Tiere werden in grundlegender Hinsicht geschädigt, für Menschen springt nur ein nebensächlicher, entbehrlicher Vorteil heraus. Aber wenn das unser einziger Grund ist, Pelz abzulehnen, dann sollten wir auf die meisten anderen Tierprodukte ebenfalls mit starkem moralischem Bauchgefühl reagieren. Immerhin bedienen auch andere Tierprodukte nur triviale menschliche Interessen, erfordern aber die Verletzung vitaler Interessen der Tiere. Beispielsweise bei Fleisch, aber auch etwa bei Milch findet man dieses Schema. Man fand aber noch nie annähernd 85% der Bevölkerung, die etwa den Konsum von Fleisch oder Milch so vehement ablehnen wie Pelz. Nach diesem ersten Erklärungsversuch müsste es also blosse Inkonsequenz sein, dass wir auf Pelz so viel stärker reagieren als auf andere Tierprodukte. Wenn unser ungleiches Bauchgefühl berechtigt sein soll, dann muss die Geschichte noch weitergehen. Nur am grundlegenden Schaden fürs Tier und dem entbehrlichen Nutzen für den Menschen kann es dann nicht liegen.
Zweiter Rechtfertigungsversuch für unser Bauchgefühl: Bei Pelz sieht man sofort, dass da ein Tier gestorben ist. Bei Daunen, Milch oder Eiern springt uns der Bezug zur Tierschädigung vielleicht weniger ins Auge. Zudem haben viele von uns ihren Wissensstand über die Landwirtschaft aus der Primarschule oder aus der Werbung. Viele glauben zum Beispiel, dass Freilandhühner glücklich sind, dass Schweine ohne Schmerzen oder Angst im Schlachthaus sterben, oder dass Milchkühe Anschluss an ihre Familie haben. Nur wenn man einiges Hintergrundwissen mitbringt, verbindet man ein Glas Milch sofort mit der Trennung von Kühen von Kälbern. Mit anderen Worten: Wir reagieren auf Pelz womöglich anders als auf andere Tierprodukte, weil wir ungleichmässig mit Informationen versorgt sind. Entweder wissen wir nicht, dass andere Produkte ebenfalls Tiere schädigen, oder es ist uns im entscheidenden Moment nicht so präsent. Diese Erklärung hat aber zwei Probleme: Erstens scheint zusätzliche Information keinen grossen Unterschied zu machen. Auch VeganerInnen finden Pelz oftmals besonders schrecklich – und das sind meist genau die Leute, die auch die Behandlung von Tieren in der Landwirtschaft kennen und ablehnen. Zweitens ist Unwissen kein besonders gutes Argument, wenn es darum geht zu zeigen, dass unsere Einstellung berechtigt ist, dass Pelz besonders schlimm ist. Unser ungleiches Bauchgefühl wäre dann eben nur aus der Sicht einer unwissenden Person berechtigt.
Dritter und letzter Versuch. Warum reagieren wir auf Pelz stärker als auf andere Tierprodukte? Eine interessante Stelle zu dieser Frage findet man ausgerechnet bei Immanuel Kant, dessen Ruf in der Tierethik etwas angeschlagen ist:
"Das erstemal, daß der Mensch zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte: ward er eines Vorrechtes inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah."ii
Aus heutiger Sicht liest es sich fast, als wollte Kant die Arroganz des Menschen kritisieren. Aber was der Preusse da gegen Ende des 18. Jahrhunderts schrieb, war überhaupt nicht als Gesellschaftskritik gemeint. Kant meinte den Kern seiner Aussage völlig ernst: Der Mensch ist der Endzweck der Schöpfung und alle Tiere sind Werkzeuge für ihn. Dazu gäbe es noch viel zu sagen, aber im Moment interessiert mich vor allem eins: Kant betrachtet das Abnehmen und Tragen eines Tierpelzes als eine symbolische Geste (dass er womöglich eher Wolle als Pelz meint, ist hier egal). Dass der Urmensch dem Tier den Pelz abnimmt und ihn sich selbst anzieht, verkörpert die Geste, dass das Tier gerade gut genug ist, ein blosses Mittel zum Zweck zu sein, während der Pelz tragende Mensch unvergleichlich wertvoller und höher gestellt ist. Kant hatte damit kein Problem, aber wir vielleicht schon. Könnte es sein, dass wir Pelz besonders stark ablehnen, weil wir ihn als tierverachtende symbolische Geste auffassen?
Schaut man in die Sozialwissenschaften, findet man tatsächlich Anzeichen, dass unser Konsum von gewissen Tierprodukten mit symbolischen Gesten behaftet ist. Unser Handeln gegenüber Tieren hängt auch davon ab, wie wir von anderen Menschen wahrgenommen werden möchten. Zum Beispiel hängt ein hoher Fleischkonsum oft mit einer starken Orientierung an sozialen Hierarchien zusammen: Wer soziale Rangordnungen akzeptiert, sich in sie einordnen und darin aufsteigen will, isst typischerweise mehr Fleisch.iii Das passt gut zur Alltagserfahrung, dass Fleischessen immer noch als Merkmal "echter Männer" gewertet wird. Wer vorgegebene Hierarchien hingegen eher ablehnt, isst tendenziell weniger Fleisch. Das erklärt sich am einfachsten dadurch, dass Fleischessen mehr ist als nur Nahrungsaufnahme oder Genuss: Durchs Fleischessen zeigt man symbolisch, dass man bereit ist, andere seinem Willen zu unterwerfen. Das klingt doch alles ziemlich ähnlich wie Kants Urmensch mit dem Pelz! Vielleicht ist Pelz mehr als nur ein Isolationsmaterial oder ein Schmuckstück: Wir können das Pelztragen auch als symbolische Überlegenheitsgeste gegenüber dem Tier verstehen. Dann ergibt sich eine ziemlich düstere Schlussfolgerung: Wer Pelz kauft, nimmt es womöglich nicht als traurige Schattenseite dieses Produkts wahr, dass Tiere dafür leiden und sterben müssen. Im Gegenteil braucht das Produkt dieses Leiden und diesen Tod, um überhaupt die Symbolik zu erlangen, welche die Zielgruppe attraktiv findet.
Bis wir diese Sichtweise sozialwissenschaftlich geprüft haben, bleibt sie blosse Spekulation. Allerdings können wir mithilfe dieser Spekulation besser erklären, warum wir KritikerInnen Pelz so besonders schlimm finden: Pelz zu tragen heisst für uns nicht nur, triviale Interessen über die vitalen Interessen des Tiers zu stellen. Es heisst nicht nur, ein Produkt zu kaufen, dessen brutale Herstellung offensichtlich ist. Pelz zu tragen bedeutet für uns KritikerInnen auch, sich symbolisch über das Tier zu stellen und ihm den Eigenwert abzusprechen. Der Mensch lacht ins gehäutete Gesicht des Marderhundes – so kommt die Geste zumindest bei uns PelzgegnerInnen an, und das finden wir schrecklich. Ich glaube, diese Beschreibung von Pelz trifft mein moralisches Bauchgefühl am besten.
Was bedeutet diese Sichtweise nun für die Berechtigung unseres Bauchgefühls? Zum Teil etwas Gutes – zumindest wenn wir annehmen, dass tierverachtende Gesten etwas Schlechtes sind. Dann ist es ein Stück weit berechtigt, dass wir auf Pelz stärker reagieren als auf Produkte, welche bei aller Tierschädigung nicht mit tierverachtenden Gesten zusammenhängen. Zum Beispiel ist es dann nachvollziehbar, dass man auf Pelz stärker reagiert als etwa auf Daunen, Milch und Eier (die wohl nicht mit Dominanzgesten zusammenhängen). Gleichzeitig muss man bedenken, dass wir Fleisch viel bereitwilliger tolerieren als Pelz, obwohl es in fast jeder Hinsicht gleich funktioniert. Auch für Fleisch werden nämlich vitale Interessen von Tieren zugunsten trivialer Interessen von Menschen übergangen, der Zusammenhang zwischen dem Produkt und dem toten Tier ist ebenfalls ziemlich offensichtlich und das Fleischessen ist eine symbolische Überlegenheitsgeste. Womöglich ist unser moralisches Bauchgefühl also letzten Endes doch in einer gewissen Hinsicht inkonsequent.
Übrigens: Ich habe meinem Chef nicht das Video des gehäuteten Pelztiers geschickt. Stattdessen habe ich ihm einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Unser täglich Brot" des österreichischen Filmemachers Nikolaus Geyrhalter vorgeschlagen. Zu sehen ist eine verängstigte Kuh im Schlachthof. Sie bockt und läuft rückwärts, wird aber von Mitarbeitern in einen grossen Apparat getrieben. Ein Bolzen schiesst in ihre Stirn, sie fällt betäubt zu Boden, wird an einer Metallkette aufgehängt und fährt daran zuckend zum Ausbluten. Der Chef hat den Vorschlag akzeptiert – wie beim gehäuteten Marderhund kann man nämlich auch hier kaum hinsehen.
i Herzog, H., Rowan, A., & Kossow, D. (2001). Social Attitudes and Animals. In: D.J. Salem & A.N. Rowan (Eds.), The State of the Animals, 2001, 55–70.
iii Dhont, K., & Hodson, G. (2014). Why do right-wing adherents engage in more animal exploitation and meat consumption? Personality and Individual Differences, 64, 12–17. https://doi.org/10.1016/j.paid.2014.02.002
Allen, M. W., Wilson, M., Ng, S. H., & Dunne, M. (2000). Values and beliefs of vegetarians and omnivores. Journal of Social Psychology, 140(4), 405–422. https://doi.org/10.1080/00224540009600481