Islam und Islamismus vs. abendländischer Zivilisationstyp

    I. Europa in der Krise?

    Die Europäische Union betrachtet sich als Erbin der europäischen Kultur und damit als Garantin der Menschenrechte. Doch die Identifizierung von EU und Europa ist Teil der fragwürdigen EU-Kommunikationsstrategie, wonach die EU durch die Geschichte zur Erbin Europas berufen sei und mit seiner Stimme sprechen könne. Die EU mag für Soziologen ein institutionalisierter Herrschaftsverband sein und für Politologen ein Mehrebenenkonstrukt, doch der ursprüngliche Impuls, sich von der Bevormundung durch übermächtige Autoritäten zu befreien und das eigene und gemeinschaftliche Leben selbstverantwortlich und besonnen in die Hand zu nehmen, fehlt dabei.1



    II. Die verschwiegene Finalität der europäischen Integration

    Mit der Selbststilisierung als global player hat sich die EU vom europäischen Zivilisationstyp2 losgesagt. Doch im Unterschied zu den historisch gewachsenen Staaten USA, China und Russland fehlt ihr als organisationelles Konstrukt eine die Bürger aller Mitgliedsstaaten einende affektive Bindung an eine quasi-messianische Idee: Diese Funktion soll das „annektierte“ Europa erfüllen. So glaubt die EU, den Status eines soft global player beanspruchen zu können, der Machtpolitik und Moral vereint. Dieses in sich widersprüchliche Programm wird der Bevölkerung durch die diskursive Strategie des kollektiven Selbstbetrugs („Weil wir so weltoffen sind, sind wir die Guten.“) gleichsam infiltriert. Statt für den europäischen Zivilisationstyp einzustehen, opfern ihn die EU-Eliten einem wahrheitsindifferenten Multikulturalismus.



    III. Der abendländische Zivilisationstyp und seine Verächter

    Der abendländische Zivilisationstyp entsteht im antiken Griechenland mit der Abgrenzung von der orientalischen Zivilisation der Priester und Despoten und unterscheidet sich ebenfalls von der ostasiatischen Herrschaft der Konventionen, der Regeln und Riten des Anstandes. Der abendländische Stil basiert auf der freien Urteilsbildung, der Herrschaft des besseren Arguments und der Selbstdisziplinierung zur Erreichung dieses Ziels. Die griechische Philosophie hat diese Errungenschaft ambivalent interpretiert, das Christentum hat sie lange Zeit außer Kraft gesetzt, das Bündnis von Naturwissenschaft und Technik hat davon einen effizienten, aber nur instrumentellen Gebrauch gemacht, und die moderne Philosophie hat sich in der Subjektproblematik festgefahren. Heute stehen damit dem geschwächten abendländischen Zivilisationstyp drei mächtige Gegner gegenüber: der utopische Kosmopolitismus3, der wirtschaftliche Dynamismus4 und der Ironismus der Politik (vertreten z.B. durch Angela Merkel). Sie eint das Interesse, den nach Europa vordringenden Islam als Instrument zu benutzen, um den europäischen Zivilisationstyp in einem globalen Multikulturalismus aufgehen zu lassen.



    IV. Der Machtanspruch des politischen Islams

    Statt die kulturellen Errungenschaften des europäischen Zivilisationstyps zu nutzen, streben extremistische muslimische Vereinigungen in Deutschland danach, über das Grundrecht auf freie Religionsausübung die Gesellschaft zu islamisieren. Dabei werden diese Vereinigungen von Bürgerrechtlern und Juristen unterstützt, die sich auf die formelle Gleichbehandlung von Muslimen beschränken und nicht berücksichtigen, dass jenes voraufklärerische, politisch aufgeladene Religionsverständnis den abendländischen Zivilisationstyp grundsätzlich negiert. Deshalb soll nach der Analyse und gegen diesen Angriff ein Minimalprogramm zur Restitution des europäischen Zivilisationstyps formuliert werden. Die Grundlage bilden die Sozial- und die Rechtstheorie von Hermann Schmitz, dem Begründer der Neuen Phänomenologie. Im Ergebnis erweist sich die Kerngruppe einer Rechtskultur als die Adressatin der Kernnormen. Außenstehende haben keinen Anspruch auf die Gestaltung der jeweiligen Rechtskultur.



    1. Kulturelle und juristische Aspekte

    Die bis heute den Islam in Europa maßgeblich prägende Priesterkultur steht dem abendländischen Zivilisationstyp fremd bis feindlich gegenüber. Während der abendländische Zivilisationstyp aus dem orientalischen Zivilisationstyp, wie er sich heute darstellt, kaum Nutzen ziehen kann, sieht dies umgekehrt anders aus. Technik, Wissenschaft und wirtschaftlicher Wohlstand werden zwar vom Islam kritisch betrachtet, üben aber eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Menschen aus – bis hin zur massenhaften Migration. Obendrein ist die liberale Gesellschaft mit ihren Freiheitsrechten, insbesondere der Religionsfreiheit, eine Einladung auch an die Muslime, diese Entfaltungsmöglichkeit für sich zu nutzen, denn die muslimisch geprägten Länder sind in Bekenntnisfragen intolerant. Doch diese Angebote werden nur von wenigen genutzt.5 Im Ergebnis gewinnt der „Westen“ kulturell beim Kontakt mit der islamisch geprägten Welt bislang zu wenig.6 Selbst die große Zahl von Immigranten in Europa nutzt die kaum zu überschätzenden Errungenschaften des abendländischen Zivilisationstyps nur bedingt, verweigert sich ihm häufig und bekämpft ihn. Die kulturelle Fremdheit gegenüber der gastgebenden Kultur verfestigt sich und schafft muslimische Parallelgemeinschaften, denen die wenigsten entkommen.

    Daran ändert das im Grundgesetz verbriefte Recht auf freie Religionsausübung nichts. Die Religionsfreiheit setzt das abendländisch-aufgeklärte Verständnis von Religion voraus, d.h. insbesondere die in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen realisierte Trennung von religiöser und staatlicher Macht. Dieses Verständnis wird vom Islam nicht geteilt wird, der wo möglich die weltliche Macht beansprucht und die Umgestaltung der Gesellschaft nach den Vorschriften der Scharia betreibt. Dabei erweckt der politische Islam, d.h. der Islamismus, den irrigen Eindruck, als handele es sich bei der Scharia um ein quasi-göttliches, monolithisches und sich gleichsam selbst auslegendes Gesetzbuch, das die Grundlage eines „Scharia-Staates“ bilden könne.7 Vermutlich die Hälfte der Muslime in Deutschland passt die Ausübung ihres Glaubens den Gegebenheiten an und sucht (so wie viele Mitglieder der christlichen Großkirchen) nur gelegentlich Kontakt zu religiösen Festen und Riten, hier im Umkreis der Moschee. Während diese Gläubigen eine individuell gefärbte, unauffällige Frömmigkeit praktizieren, suchen in Deutschland die überwiegend extremistischen muslimischen Verbände den Konflikt mit Gesellschaft und Staat. Statt eine Annäherung an das abendländische Zivilisationsmodell zu erwägen, bestimmt bei jenen ganz vorwiegend ein strategisches Kalkül das Verhältnis zu Europa und Deutschland. Die vom Grundgesetz ermöglichte, heutzutage obsolete Sonderrolle der beiden christlichen Großkirchen ist für die muslimischen Verbände ein ständiger Anreiz, sich die gleichen Vorrechte zu sichern. Dabei werden sie von Juristen unterstützt, die in der formellen Gleichbehandlung bzw. Nicht-Diskriminierung das wichtigste Ziel des modernen demokratischen Staates sehen. Die rein juristische Betrachtung der Lage nach Maßgabe der deutschen oder europäischen Rechtsprechung ist jedoch unzureichend, weil die grundgesetzliche Ordnung nicht allein von Rechtstreue, d.h. von der Befolgung der Gesetze, lebt, sondern vom Konsens der Bürgerinnen und Bürger über die Kernnormen des Rechtsvolkes.8 Genau dieser Konsens kann beim muslimischen Bevölkerungsteil, insbesondere beim radikalisierten wie beim traditionalistischen, bildungsfernen, sich in Parallelgemeinschaften zurückziehenden Teil, hinsichtlich des abendländischen Zivilisationstyps nicht unbesehen vorausgesetzt werden. Damit wird die Schönfärberei einer Integrationspolitik sichtbar, die sich auf den Schein äußerer Konformität verlässt, z.B. ein geregeltes Arbeitsverhältnis.9

    Deshalb ist es unzureichend, den politisch organisierten Islam aus der rechtlichen Perspektive zu betrachten und die politische Dimension unterbelichtet zu lassen, die in Deutschland die erwähnten (bislang mehrheitlich türkischen) Verbände spielen. Personen, die sich diskriminiert, bzw. in ihrer freien Religionsausübung beeinträchtigt sehen und dagegen juristisch, ggf. bis zum Bundesverfassungsgericht, vorgehen, müssen immer auch als politische Akteure betrachtet werden. Es wäre realitätsfremd, Klageführende allein als Individuen einzuschätzen, die sich ungerecht behandelt fühlen; in der Regel sind in den Fall extremistische muslimische Organisationen und eilfertige deutsche Juristen verwickelt, die das politische Ziel haben, den politisch organisierten Einfluss des Islams in der deutschen Gesellschaft zu vergrößern, und dies, obwohl die Vereinigungen bekanntlich in keiner Weise als repräsentativ gelten können. Der deutsche Staat macht dabei keine gute Figur: Zwar gibt er hin und wieder Statements ab, in denen er extremistische Tendenzen verurteilt, in der politischen Praxis (z. B. bei der Besetzung von Professuren für Islamwissenschaft oder der Ausbildung von Lehrern für Islamkunde) kooperiert er aber kontinuierlich und ausschließlich mit jenen extremistischen Organisationen10.Wenn nach den Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in Europa der eingängige Satz Zustimmung findet: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!“, so stimmt es nachdenklich, dass dies nicht gleichermaßen für den politisch organisierten, extremistischen sunnitischen und schiitischen, ebenfalls anti-demokratischen Islam gilt. Seitens der Regierung und der ihr ergebenen Medien herrscht ein opportunistischer Diskurs der Harmonie und Beschwichtigung vor, um den sozialen Frieden, wie es heißt, nicht zu stören.

    Die Aktivitäten jener islamischen Vereinigungen werden auch von bürger- und menschenrechtlichen Organisationen kritisch gesehen. Es ist zu prüfen, inwieweit sie dank ihres Bezugs zur aufklärerischen Tradition eine Stärkung des abendländischen Zivilisationstyps als ihre Aufgabe begreifen.



    2. Die Hilflosigkeit gegenüber dem Islamismus

    Die Humanistische Union (HU) ist eine der ältesten und inhaltlich profilierten deutschen Bürgerrechtsorganisationen. Die HU ist als bürgerrechtliche Vereinigung mit antiklerikalem und antikonfessionellem Akzent gegründet worden. Bis auf den heutigen Tag gehört z.B. die Kritik an den Leistungsverpflichtungen der Länder gegenüber den beiden großen christlichen Religionsgesellschaften wie auch die Verquickung von Staat und Kirche zum programmatischen Kern. Für die Gründer der HU war es eine Selbstverständlichkeit, dass die erstrittenen Bürgerrechte im Rahmen der freiheitlichen, aufklärerischen, europäischen Tradition ausgestaltet und verteidigt werden sollten. Doch ein Arrangement mit der Scharia, wie es aus dem Vereinigten Königreich berichtet wird, wäre von ihnen vermutlich als absurd zurückgewiesen worden, weil die Scharia aus einem kulturellen und historischen Zusammenhang stammt, der voraufklärerisch war und heute anti-aufklärerisch ist. Die Position der HU in dieser Frage ist heute allerdings nicht so eindeutig.

    Die Juristin Kirsten Wiese, Mitglied im Bundesvorstand der HU, nähert sich der Problematik „Islam und Grundgesetz“ 11 diplomatisch. Die Autorin fordert dazu auf, das Bedürfnis nach Gleichbehandlung muslimischer Mitbürger abzuwägen gegenüber dem Bedürfnis von Nicht-Religiösen, die die grundgesetzlich vorgegebene Trennung von Staat und Kirche einfordern. Doch die kulturphilosophisch begründete Unterscheidung des abendländischen Zivilisationstyps von anderen Zivilisationstypen spielt in dem Verband bislang keine Rolle.

    Dementsprechend verlautet seitens der HU zum Ausspruch „Der Islam gehört zu Deutschland.“ lediglich: „Für die religionspolitische Gegenwart Deutschlands lässt sich das Ob nicht mehr ernsthaft in Frage stellen – offen bleibt nur: Wie gehört der Islam heute zu Deutschland?“12 So sieht eine sozialwissenschaftlich informierte Vogel-Strauß-Perspektive aus, die die bewusst schillernde Aussage von Wulf, Merkel, Schäuble, Lammert u.a. vordergründig so interpretiert, als handele es sich um den trivialen Befund, muslimische Menschen kämen in Deutschland als Teil der Gesellschaft vor. Tatsächlich handelt es sich um eine programmatische Aussage des politischen Multikulturalismus, mit der der Islam als „normale“ Religion in unserer Gesellschaft aufgewertet wird. Der Satz ist insofern die Absage an den europäischen Zivilisationstyp, weil dieser gerade allumfassende gesellschaftliche Herrschaftsansprüche einer Konfession ausschließt. Die Unschärfe der programmatischen Aussage stellt für die Autoren einen Vorteil dar, weil ganz unterschiedliche Interessen sich darauf berufen können und weil mit den anschließenden kontroversen Diskussionen das Thema sich in der Gesellschaft gleichsam einnistet – ganz im Sinne des Habermas’schen Sich-öffnens und Porös-werdens, d.h. Löcherig-werdens der europäisch geprägten Kulturen.

    Die Pointe des Programms „Der Islam gehört zu Deutschland.“ besteht darin, dass die bestehende Praxis der Kooperation staatlicher Instanzen13 mit extremistischen, dem Islamismus nahestehenden Organisationen sanktioniert wird. Dies stellt einen deutlichen Erfolg des Islamismus in Deutschland dar, der unter dem Motto „Der Islam ist eine ganz normale Religion.“ das öffentliche Leben westlich geprägter Gesellschaften zu durchdringen sucht. Die deutsche Öffentlichkeit und speziell der politische Multikulturalismus beharren auf den juristischen Scheuklappen, um den totalitären Charakter des Islamismus nicht wahrnehmen zu müssen.

    Nach dem Urteil von Islamwissenschaftlern ist der Islamismus eine politische Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Berufung auf die Schriften von Sayyid Qutb entstanden ist.14 Der Islamismus hat sich von der muslimischen Priesterkaste und ihrer Lehrautorität losgesagt, die sich in vielfältige Interpretationslinien differenziert hat. Statt sich auf kasuistische Streitereien einzulassen, gibt S. Qutb vor, zu den Ursprüngen des Islam zurückkehren zu wollen, als der Prophet Mohammed durch göttliche Offenbarung den Auftrag erhalten hatte, die Völker der Erde zu unterwerfen.15 Dementsprechend ist für S. Qutb die Anpassung des volkstümlichen Islam an bestimmte westliche Lebensformen gleichbedeutend mit politischer Unterwerfung und Verleugnung des Herrschaftsanspruchs Allahs. Die einschlägigen Texte der Überlieferung werden auf die Botschaft der bedingungslosen Vernichtung aller Feinde des Islams in der Weise reduziert, dass eine Interpretation überflüssig wird. Deshalb wird der Islamismus von Experten als religiös-fundamentalistisch aufgeladene politische Ideologie bezeichnet. Die Autorität, die bislang die traditionelle Priesterkaste besaß, wird nun zunehmend von einer Elite theologischer Führungspersönlichkeiten wie Yusuf al-Qaradawi beansprucht, die den Bruch mit dem eher selbstgenügsamen Islam der Honoratioren vollziehen und eine inhaltliche Erneuerung zusammen mit gesellschaftlich-politischem Aktionismus medienwirksam versprechen.16 Zur Strategie des politischen Islams gehört die psychologische Kriegsführung. Traditionell im Islam verwandte Begriffe werden in der islamischen Welt ideologisch umgedeutet und radikalisiert; gegenüber dem feindlichen Westen hingegen werden wird diese Radikalisierung verschleiert und bagatellisiert.17

    Im Ergebnis kann man die Aussage: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ sowohl als islamistischen wie als multikulturalistischen Trojaner bezeichnen. Wer hier wen erfolgreich instrumentalisiert, bleibt abzuwarten.

    Als sähe die HU im Multikulturalismus einen Weg, um Religiöse und Nicht-Religiöse zu einem modus vivendi zu bewegen, konzentriert sich der Verband entschlossen auf die Frage, „wie weit der Islam mit anderen Religionen und Weltanschauungen in Deutschland – allen voran dem Christentum – formal gleichgestellt ist.“18 Die anschließende umfangreiche juristische Aufarbeitung der Sachlage bringt die normative Frage zum Verschwinden. Es wird schlichtweg übergangen, dass der Islam, wie er mehrheitlich in Europa auftritt, sich weigert, seine dogmatischen Grundlagen der historischen Kritik zu unterwerfen. 19 Wer als Forscher z.B. an der Historizität der Person Mohammeds wissenschaftlich begründete Zweifel äußert, muss um sein Leben fürchten.20

    Es geht aber keineswegs allein um einzelne, herausgehobene Anlässe. Parallel dazu wird von den genannten Organisationen und ihren Unterstützern, bislang ohne Widerspruch seitens der Bürgerrechtler, das öffentliche Leben gezielt islamisiert. Als Beispiel hierfür kann die Titelillustration von Vorgänge 217, 1, 2017, herausgegriffen werden, die zwei Frauen mit Kopftuch als Passantinnen vor dem Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts zeigt mit der Werbung: „Kompletter Beschneidungsanzug ab 99,00 €“. Da die Herausgeber dieses Foto unkommentiert lassen, hat sich der Leser im Heft auf die Suche nach der empfohlenen Deutung zu machen. Er kann sie z.B. im Beitrag der Juristin und Politologin Sabine Berghahn finden. Nach einer ausführlichen Darlegung der deutschen und europäischen Rechtsprechung resümiert die Autorin:

    „Ob Bedeckungen als obligatorisch gelten, ob Bekenntnisse sichtbar sein sollen, hängt mit den Inhalten einer Religion, Konfession oder bestimmten Interpretationen von Lehren zusammen. Der Staat und auch die Europäische Union dürfen solche Inhalte und Interpretationen von Lehren grundsätzlich nicht bewerten, sofern nicht kollidierende Grundrechte dagegen stehen. Religionen haben fast immer starke geschlechtsspezifische Leitbilder und Pflichtenkataloge. Dass sich in Europa ein liberales Christentum entwickelt und in weiten Teilen der Bevölkerungen sogar Religionslosigkeit oder Atheismus herrscht, gilt global gesehen als Besonderheit Europas. Daraus lassen sich bei fairer Betrachtung von Sinn und Zweck der individuellen Religionsfreiheit keine Argumente für die Unterdrückung sichtbarer Bekenntnisse ableiten. Das jeweilige Gegenüber sollte so aufgeklärt sein um zu wissen, dass das Kopftuch aus vielen Motiven heraus getragen wird und jedenfalls hierzulande keine einheitliche Botschaft über die Gläubigkeit hinaus symbolisiert.“ (S. 43)

    Diese Interpretation vermag kaum zu überzeugen. Als erstes illustriert die Stellungnahme von S. Berghahn21 die widersprüchliche Lage, in die sich die HU durch die Übernahme dieser Argumentation bringen würde. Indem man sich auf formelle Gleichheit und Nichtdiskriminierung bezieht, nimmt man die (mit guten Gründen kritisierten) Vorrechte der christlichen Kirchen, welche man bekämpft, als Maßstab für die zukünftige Stellung des Islams in Deutschland.22 Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass die HU sich gerade für die Muslime stark macht, die gegen eine stärkere Säkularisierung, ja für die Islamisierung des öffentlichen Lebens agieren, aber den Muslimen oder Ex-Muslimen wenig Gehör zu schenken scheint, die für eine laizistische Gesellschaftskonzeption eintreten, wie es die Gründer der HU beabsichtigt hatten.

    Indem Sabine Berghahn als gewiefte Juristin das Kopftuch allein als Ausdruck individueller Frömmigkeit hinstellt, glaubt sie, sich auf den sicheren Boden der Rechtsprechung hinsichtlich der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit gerettet zu haben. Doch diese Argumentation ist nur im engen Rahmen der aktuellen Rechtsprechung plausibel, die zwischen den Ansprüchen des Multikulturalismus und der vagen Erinnerung an das europäische Gewordensein schwankt, aber kulturphilosophisch unbedarft ist.



    3. Rechtstheoretische Grundlegung

    Der tiefere Grund für diese Sackgasse dürfte der Umstand sein, dass die HU vorwiegend von Juristen und Sozialwissenschaftlern geleitet worden ist und geleitet wird, die nicht hinlänglich mit den rechtsphilosophischen Voraussetzungen der deutschen (und europäischen) Rechtstheorie vertraut sind, bzw. keine Möglichkeit sehen, sich davon zu befreien. Man darf davon ausgehen, dass im Umkreis der HU nicht von einer rein positivistischen Rechtsquellenlehre ausgegangen wird. Plausibler ist die Annahme, dass die philosophische Werttheorie hier eine Rolle spielt. Die Schwäche dieser Theorie ist allerdings die Unverbindlichkeit, mit der sie dem Menschen entgegentritt.23 Als weiterer aktueller Beitrag zur Rechtstheorie ist die Diskurstheorie zu betrachten. Gegen sie ist eingewandt worden, sie vertraue der „Magie der Vernunft“ (a.a.O., S. 45).24 Gegen dieses „Überfliegen der Wirklichkeit“25 (a.a.O., S. 48) hat sich Hermann Schmitz in seiner Revision der abendländischen Philosophie insgesamt zum phänomenologischen Programm gemacht, auf „die unwillkürliche Lebenserfahrung“ zurückzugehen, – „d.h. auf das, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben […] und alle Konstrukte daran zu messen.“ (A.a.O., S. 8) Für die neuphänomenologische Sozialphilosophie führt dies zum Grundsatz:

    „Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Der Mensch kann nicht anders als unter Normen leben, weil er in Situationen lebt, in denen Programme enthalten sind, die seine Gefolgschaft herausfordern.“ (A.a.O., S. 7)26

    Schmitz gründet seine Rechtstheorie weder auf unübersteigbare höchste Werte, etwa die universellen Menschenrechte, noch auf eine in die Zukunft projizierte ideale Vernunft, sondern auf ergreifende Gefühle mit verbindlicher Autorität für die Betroffenen:

    „Die ursprünglichen Rechtsgefühle sind Unrechtsgefühle. Das Recht springt nicht zuerst als Offenbarung hervor, die dann erkennen lässt, wann und wie von ihm abgewichen wird, sondern es bildet sich im Zuge des Bemühens, das zuerst bedrängend gespürte Unrecht zu beseitigen und zu vermeiden." (A.a.O., S. 60)

    Das Vorgehen von Sabine Berghahn ist genau umgekehrt: Sie wählt den für Multikulturalisten charakteristischen distanzierten, gleichsam extra-terrestrischen „Blick von nirgendwo“,27 der die menschlichen Manifestationen mit analytischer Intelligenz aus den einbettenden Situationen herauslöst. An die Stelle des leitenden affektiven Betroffenseins in einer Rechtskultur treten die universellen Grundrechte als Leitsterne. Doch diesen u-topischen (so!) Rechten fehlt die unmittelbare Verbindlichkeit. Nicht eine hypertrophe universelle Vernunft, sondern implantierende gemeinsame Situationen28 sind der atmosphärische Resonanzraum für die erwähnten Unrechtsgefühle, d.h. für Programme zur Behebung der Störung der Rechtsordnung. Insofern kann Schmitz formulieren: „Menschenpflichten haben vor Menschenrechten den Vorrang […].“ (A.a.O., S. 242)

    „Sinngebende Wurzel der Pflichtidee ist hiernach die Autorität von Gefühlen, die gemeinsame Situationen erfüllen und dem Nomos dieser Situation verbindliche Geltung für Menschen verleihen, denen diese Situationen implantierende, ihre persönlichen Situationen in sich einpflanzende Situationen sind.“ (Ebda.)

    Deshalb ist die Frage der Berechtigung des Verbots für staatliche Instanzen, immer und überall religiös motivierte Kleiderordnungen zu schienen bzw. zu reglementieren, wegen ihrer Abstraktheit sinnlos: Es kommt auf die von einem Zivilisationstyp gerahmten implantierenden gemeinsamen Situationen und die daraus erwachsenden Normen an. Stattdessen ist zu klären, ob und inwieweit die Klägerinnen zur Kerngruppe der deutschen, abendländisch geprägten Rechtskultur gehören und die Kernnormen für sie verbindlich sind oder ob sie zur inneren, bzw. äußeren Randgruppe, bzw. zur äußeren Adressatengruppe oder zur äußeren Objektgruppe gehören.29 Der abendländische und der daraus hervorgegangene moderne europäische Zivilisationstyp weist dem Religiösen einen Ort in der Kultur zu, der sich im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet hat. Neben der Verpflichtung, die Menschenrechte eines jeden zu respektieren, besteht für jeden affektiv Betroffenen die Menschenpflicht, diesen äußerst attraktiven und reichen kulturellen Typ gegen Angriffe zu verteidigen; von inneren Randgruppen ist zu verlangen, die Normen zu respektieren; äußere Randgruppen, die sich nicht affektiv engagieren und Pflichten übernehmen wollen, können keine Rechte auf Umgestaltung beanspruchen. Es steht ihnen frei, sich in einem anderen Zivilisationstyp zu verwirklichen.



    4. Konsequenzen

    Aus global abgehobener, scheinbar unparteiischer sozialwissenschaftlicher Perspektive beruft sich S. Berghahn auf die Beobachtung, dass Europa mit der Herausbildung eines liberalen Christentums, von Religionslosigkeit oder Atheismus eine „Besonderheit“ im weltweiten Vergleich darstelle und andererseits geschlechtsspezifische Leitbilder und Pflichtenkataloge weit verbreitet seien. Daraus ableiten zu wollen, Europas müsse sich mit seinem Sonderweg einem spekulativen globalen Durchschnitt anpassen, ist ein klassischer logischer Fehlschluss vom Sein auf das Sollen. Es ist die Anmaßung der transkulturellen Sichtweise, dass letztlich das gleich –gültige (so!) Nebeneinander aller Unterschiede und möglicherweise ihr Sich-vermischen und Aufgehen in einer Weltgesellschaft erreicht werden sollen.30

    Die Forderung nach Gleichstellung in Religionsangelegenheiten wird häufig auch mit dem Gebot der Nichtdiskriminierung (ethisch, sexuell, beruflich etc.) begründet. Aus der distanzierten multikulturalistischen Perspektive erscheint die Vielfalt (diversity) als grundlegende Gegebenheit des heutigen Lebens in Gemeinschaften. In dieser quasi-extraterrestrischen, von affektivem Betroffensein absehenden Perspektive wird der Begriff der Vielfalt neu codiert: Damit soll nun nicht mehr das subjektive Recht gegen die (religiöse) Bevormundung durch einen Unterdrückungsstaat bezeichnet werden, sondern der Anspruch gegen den aufgeklärten europäischen Zivilisationstyp, der die gesellschaftlichen Machtansprüche unduldsamer religiöser Bekenntnisse grundsätzlich einhegt. Diese Einhegung ist das Resultat langwieriger und schmerzhafter geschichtlicher Erfahrungen (religiöse Bürgerkriege, Überwindung des Absolutismus und totalitärer Regime). Das daraus erwachsene und in Epochenschritten regenerierte abendländische Zivilisationsparadigma ruft den Menschen zur freien und besonnenen Selbsterkenntnis in seiner Umwelt auf und mutet ihm die Disziplin zu, sich nicht blind Autoritäten zu unterwerfen oder der Gewohnheit zu folgen. Es ist deshalb eine missbräuchliche Berufung auf die europäische Religionsfreiheit, wenn von juristischer Seite ein unaufgeklärtes, islamisch-orientalisches Religionsverständnis für besonders schützenswert erklärt wird, das den europäischen Zivilisationstyp ablehnt oder gar bekämpft. Zwischen einander fremden und entgegengesetzten Zivilisationstypen muss eine Unterscheidung, eine Diskriminierung vorgenommen werden.

    Entweder handelt es sich um religionsgeschichtliche bzw. kulturphilosophische Ahnungslosigkeit oder um einen Sophismus, wenn S. Berghahn behauptet, dass das Kopftuch „jedenfalls hierzulande keine einheitliche Botschaft über die Gläubigkeit hinaus symbolisiert. (S. 43) Die Autorin glaubt offenbar, durch die Relativierungen „hierzulande“ und „keine einheitliche Botschaft“ den deutschen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Umkehrschluss räumt sie damit aber ein, dass in anderen Ländern durchaus unterschiedliche Botschaften über die Gläubigkeit hinaus mit dem Kopftuch verbunden sind. Nun gibt es aber bislang keine europäische oder deutsche Ausformung des Islams, die sich vom weltweiten Islam in dogmatischer Hinsicht grundsätzlich unterscheidet, insbesondere im Hinblick auf den gesellschaftlichen Machtanspruch. Deshalb kann aus formallogischen Gründen geschlossen werden, dass das Kopftuch auch bei uns sehr wohl eine Botschaft beinhaltet wie im Islam insgesamt. Es bestätigt sich: Der islamisch-orientalische Zivilisationstyp hat ein eigenes Verständnis von Gläubigkeit, das die ganze Gesellschaft und jede Gesellschaft weltweit dem von Priestern bzw. Ideologen autoritativ ausgelegten Herrschaftsanspruch des Islams unterwirft, - ein Religionsverständnis, das nicht mit dem abendländisch-europäischen vereinbar ist.



    5. Kopftuch, Scharia, Sexualmoral

    Das Kopftuch ist Ausdruck der in der Scharia verankerten Sexualmoral und diese Teil eines Menschenbildes, nach dem Mann und Frau als der sexuellen Selbstbeherrschung weitgehend unfähig betrachtet werden.31 Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die negative Rolle der Frau als Verführerin des Mannes immer mehr verfestigt. In der schiitischen und im wahabischen Zuspitzung hat schließlich die Angst vor der Bedrohung durch die weibliche sexuelle Ausstrahlung hysterische Züge angenommen, - daher die staatlich verordnete Totalverhüllung einschließlich des Gesichts.

    Seit mehr als 20 Jahren versuchen in Deutschland religiöse und politische pressure groups schon bei Erstklässlerinnen das Tragen des Kopftuchs durchzusetzen. Damit, so argumentieren nicht allein Frauenrechtlerinnen,32 werden Mädchen noch vor der Pubertät sexualisiert und in ihrer gleichberechtigten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt. Durch die Gewöhnung werden die Mädchen auf eine Rolle fixiert, die durch die soziale Kontrolle durch Gleichaltrige und eine frühe Heirat meist nicht mehr abgelegt werden kann. Deshalb ist das offensive Insistieren auf dem Kopftuch in der Öffentlichkeit in westlich-laizistischen Ländern ein Symbol für die entschlossene Ablehnung des abendländischen Zivilisationstyps zugunsten eines unaufgeklärten Gegenmodells, das mit einem demokratischen Leben unvereinbar ist. Es ist nicht nachvollziehbar, dass angesichts dieser Sachlage die zitierte Juristin der gastgebenden Kultur eine „Aufgeklärtheit“ abverlangt, die den Musliminnen, die aus freien Stücken in Europa leben, offenbar nicht zugemutet werden soll. Dieser herrische, von deutschen Juristen unterstützte Anspruch des dogmatischen und politisch aufgeladenen Islams ist unbillig und muss zurückgewiesen werden.

    Darüber hinaus illustriert das erwähnte Titelfoto von Vorgänge 217, 1, 2017, dass in der Perspektive der HU offenbar auch die im Abendland anstößige Beschneidung von Jungen (Genitalverstümmelung) von der aufgeklärten europäischen Kultur „respektvoll akzeptiert“ werden soll. Eine Menschen- und Bürgerrechtsorganisation kann sich aber nicht mit dem politisch opportunistischen Gesetz zur Beschneidung von Jungen zufrieden geben, in dem das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung höher gewertet wird als das Persönlichkeitsrecht des Kindes auf Selbstbestimmung. Da nach den türkischen Zuwanderern seit 2015 auch Menschen aus dem Orient und Afrika in großer Zahl nach Europa gekommen sind, erhält auch die politische Thematisierung der Genitalverstümmelung bei Mädchen höchste Aktualität. Selbst wenn einige islamische Autoritäten die Beschneidung bei Mädchen als „unislamisch“ bezeichnen, bleibt die Praxis in zahlreichen islamischen Ländern weit verbreitet.

    Kinder durch Beschneidung bzw. Taufe religiös fremd zu bestimmen, ist im Judentum, im Christentum und im Islam Ausdruck einer autoritären Anmaßung aus voraufklärerischer Zeit. Es geht dabei jeweils um die Durchsetzung der Macht einer Priesterkaste über die Menschen: Man braucht nur Luthers Kehrtwendung von der Erwachsenen- zur Kindertaufe zu studieren. Bezeichnenderweise ist der Beschneidungszwang nicht im Koran, sondern in der Sunna (spätere Sammlung von Verhaltensregeln) belegt, also in einer Quelle, die vor allem an einer gesellschaftlichen – und damit auch sexuellen – Regulierung des damaligen, kulturell rückständigen arabischen Lebens interessiert war.

    Während die Jungen bis heute noch vor der Pubertät mit chirurgischer Gewalt auf ihre gottgewollte männliche sexuelle Erregbarkeit gestoßen werden, muss der Körper der Frau, das Einfallstor des unstatthaft Erregenden und Teuflischen, möglichst schon als kleines Mädchen verhüllt werden. Dieses atavistische, auf Gewalt zwischen den Geschlechtern beruhende dualistische Menschenbild kann schwerlich den Grundrechtsschutz auf freie Religionsausübung beanspruchen. Im Gegenteil müsste der demokratische deutsche Rechtsstaat entschlossen und konsequent gegen diese Unterminierung seiner Grundlagen vorgehen. Hier sei an das bekannte Diktum von E. W. Böckenförde erinnert.33

    Damit wird deutlich, dass die beabsichtigte Erzwingung des Elternrechts auf ubiquitäres Kopftuchtragen schon bei Mädchen im Grundschulalter (und dann darüber hinaus für alle Alterstufen) als enge Schienung der weiblichen Sexualität der bereits erreichten Programmierung der männlichen Sexualität durch das Elternrecht auf Beschneidung bei Jungen entspricht. Insofern kann man mit Händen greifen, dass angesichts des Festhaltens an der Beschneidung und der juristischen Erzwingung des ubiquitären Kopftuchs von einem Willen zur Integration in die abendländische Zivilisation keine Rede sein kann. Zweitens zeigt sich, dass auch die deutsche Rechtsprechung dabei ist, die Verteidigung des abendländischen Zivilisationstyps immer weiter aufzugeben und dem Machtanspruch einer politisch aufgeladenen Priesterkultur Zugeständnisse zu machen. Gerade liberale und humanistisch gesonnene Muslime (z.B. Hamed Al-Samad und Bassam Tibi) und ehemalige Muslime beklagen diese Verirrung des Abendlandes.34 Selbst wenn keine direkte Weisung eines Imams vorliegt und die Begründung individuell in einer entsprechenden islamischen Tradition gesucht wird, ist das demonstrative Tragen des Kopftuches in der westlichen Öffentlichkeit ein vordringliches Ziel des Islamismus. Er nutzt die westliche Liberalität aus, um niedrigschwellig eine sichtbare Gruppenbildung herzustellen, die eine bestimmte Anthropologie und eine geschlechtliche Rollenverteilung einschließlich der Genitalverstümmelung unausgesprochen bejaht. Diese Gruppenbildung erleichtert es, mit dem Argument, die Geltung des Islams weltweit auszudehnen, für einen dem Abendland fremden Zivilisationstyp Macht zu erringen und etwaige politische Ziele durchzusetzen.

    Die Paradoxie, dass deutsche Juristen für die islamistische Politik des Kopftuchs eintreten und die Akzeptanz als Ausdruck der Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft bezeichnen,35 löst sich auf, wenn man den Sachverhalt aus der Perspektive des politischen Multikulturalismus betrachtet. Auch dieser strebt die weltanschaulich-religiös-konfessionelle Gruppenbildung an mit dem Argument, so alle rechtlich gleich behandeln zu können. Dass diese Politik zum Verlust der westlich geprägten Liberalität, zu neuen Ungerechtigkeiten und Zwängen führt, lässt sich im Vereinigten Königreich studieren.36

    Zur Erinnerung: Die abendländische Zivilisation war mit der Zurückweisung entstanden, sich despotischer und priesterlicher Macht zu unterwerfen. Islam heißt nun aber im Arabischen „Unterwerfung“ unter Gottes Willen oder „Hingabe“. Da dieser Wille sich ausschließlich im arabischen Wortlaut des Koran (anders als im Fall der christlichen Bibel) manifestiert, dieser aber von einer Priesterschaft (zwar unterschiedlich, aber) autoritativ ausgelegt wird, verlangt die Religion des Islam genau das, wovon sich das abendländische Zivilisationsmodell abgrenzt.37 Anders als das Abendland kennt der Islam keine „produktiven Trennungen“ (Jenö Szücs). Vielmehr sind im Laufe der Jahrhunderte islamische Lehre, Staat und Gesellschaft so miteinander verschmolzen, dass jene Trennung nachträglich nicht mehr vorgenommen werden kann. Sich angesichts dieser Sachlage auf Fragen formaler Gleichstellung zu beschränken, ist nicht akzeptabel.



    V. Europa regenerieren

    Im Ergebnis will es nicht als Zufall erscheinen, dass alle bisherigen deutschen Bundesregierungen sich der öffentlichen Beratung eines Einwanderungsgesetzes entzogen haben, das auf der Höhe der Zeit ist. Was zurzeit hinter den politischen Kulissen in Berlin ausgehandelt wird, dreht sich ausschließlich um die Verwendbarkeit in der Wirtschaft, so als sei das europäische Zivilisationsparadigma als Referenz nicht vorhanden. Die Bevölkerung über die Phänomene Migration, Flucht, Zuwanderung und Asyl aufzuklären, würde die Frage nach einem Maßstab provozieren und die Frage von Paul Stock unvermeidlich machen: „[…] the key questions for policymakers – and Europeans – are ‘what kind of Europe do we want to create?’ and ‘what kind of Europeans do we want to be?’”38 Das Brussels narrative der Identifizierung von EU und Europa zeigt an dieser Stelle seine ganze destruktive Funktion, indem es diese Fragen für beantwortet ausgibt und den kollektiven Selbstbetrug zementiert. Das Brussels narrative ist insofern anti-europäisch, weil Europa davon lebt, bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung die eigenen Prinzipien immer wieder auf ihre Belastbarkeit hin zu prüfen und den abendländischen Lebensstil kontrovers zu diskutieren und ggf. zu korrigieren. Insofern hat Europa keinen substanziellen Kern, in dem alles bereits enthalten und aus dem das Gesuchte gleichsam nur neu ausgewickelt werden müsste.39

    Das Brussels narrative verhindert insofern die lebensnotwendige Selbstbesinnung der Europäer und Europäerinnen durch die Unterdrückung der Frage: Warum leben wir in Europa und Deutschland zusammen, und wie wollen wir in Europa und Deutschland zusammenleben? Oder politisch gewendet: Soll Europa muslimischer werden?

    Statt sich ohne das notwendige kulturphilosophische Wissen in die Falle einer juristisch geschienten Debatte über Religionsfreiheit locken zu lassen, muss die deutsche Gesellschaft Sorge dafür tragen, dass es bei Zuwanderern zu einem Ähnlich-werden-wollen mit dem westlich-europäischen „Sozialmodell“ (P. Collier)40 kommt. In Deutschland z.B. ein guter Techniker oder eine gute Geschäftsfrau werden zu wollen, bedeutet, mit Anstrengung und Fleiß die Prägung der Herkunftskultur schrittweise hinter sich zu lassen, auf eigenen Füßen zu stehen, selbständig zu werden, um im Ergebnis, vielleicht auch erst in der zweiten Generation, sagen zu können: „Deutschland ist meine Heimat.“41

    Dass die muslimisch-kulturelle Prägung der Zuwanderer für die Zukunft von Europas Selbstverständnis von erheblichem Belang ist, ist nach dem oben Ausgeführten unabweisbar. Eine migrationswissenschaftlich informierte und kulturphilosophisch aufgeklärte Bevölkerung und ihre Regierung kommen an der Aufgabe nicht vorbei zu klären, inwieweit die Einwanderung mehrheitlich arabischer, afrikanischer, afghanischer etc. und damit meist muslimischer Menschen vertretbar ist, - immer vorausgesetzt, dass Europa und Deutschland am abendländischen Zivilisationstyp festhalten wollen!

    Ein zivilisatorisches Minimalprogramm für die Revitalisierung des europäischen Selbstverständnisses hat das Ziel, 1. den Rückfall auf ein voraufklärerisches Menschenbild einer Despoten- und Priesterzivilisation zu verhindern, 2. im Interesse eines partnerschaftlichen Miteinanders der Völker mit der Ideologie des Globalismus zu brechen, 3. den utopischen Kosmopolitismus und Multikulturalismus durch die Sensibilisierung für implantierende gemeinsame Situationen zurückzudrängen und 4. den Ironismus der EU-Politik aufzudecken und zu verbannen.42 Das Programm besteht negativ darin, das Bündnis dieser Mächte und ihre Instrumentalisierung des politischen Islams in die Schranken zu weisen. Positiv meint das Programm, den intellektuellen Stil der eigenständigen Urteilsbildung zu kultivieren, Vorschläge über Tatsachen und Programme des einzelnen und gemeinsamen Lebens zu machen, die Disziplin, seine Meinung zu begründen und der Kritik der Anderen auszusetzen sowie die sprachliche und kulturelle Herkunft zupflegen.43

    Das Programm beinhaltet konkret die Einhegung des mehr oder weniger politischen Islams und seiner Riten gemäß dem zeitgemäßen europäischen Religionsverständnis: Religion ist Privatangelegenheit.44 Die grundgesetzliche Religionsfreiheit gestattet aber nicht die direkte oder indirekte Propagierung einer undemokratischen, dem Grundgesetz widersprechenden gesellschaftlichen Ordnung. Deshalb ist zu fordern, dass der Staat die Kooperation mit folgenden extremistischen Verbänden beendet: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), Islamische Föderation Berlin (IFB), Verband Islamischer Kulturzentren (Vikz), Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS). Aus demselben Grund ist Imamen die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen, die von der Regierung eines anderen Landes nach Deutschland geschickt und/oder finanziert werden und/oder die dem europäischen Zivilisationstyp unwissend, ablehnend oder feindlich gegenüberstehen.

    Unter Berücksichtigung der phänomenologischen Begrifflichkeit (Rechtsordnung, Rechtskultur, Rechtsgut, Kernnormen, Schalennormen, Randnormen, Rechtsvolk, Kerngruppe, Randgruppen etc.) hat die Regierung ein Einwanderungsgesetz zu beschließen, das den kulturphilosophischen und den migrationswissenschaftlichen Erkenntnissen (Passung des Sozialmodells, Absorptionsfähigkeit, Assimilation, Obergrenze etc.45) Rechnung trägt.

    Anstelle des konfessionell ausgerichteten Religionsunterrichts ist an allen Schultypen das Pflichtfach „Religiöse Bildung“ einzurichten, um gegenüber der frühkindlichen Indoktrination durch Glaubensgemeinschaften ein Gegengewicht zu schaffen. Dies gilt in besonderem Maße für den Islam, der – auch wenn er nicht islamistisch, d.h. eine politische Doktrin ist – von einem vor- und antiaufklärerischen Menschenbild ausgeht. Einen besonderen Stellenwert hat das Verbot des ubiquitären Kopftuchtragens bei Mädchen sowie der Beschneidung bei Mädchen und Jungen. Außerdem ist bei hoheitlichen Funktionen (Richterin, Polizistin, Lehrerin etc.) das Tragen des Kopftuchs zu untersagen, weil dies mit dem besonderen Treueverhältnis gegenüber dem Staat und dem abendländischen Zivilisationstyp im Widerspruch stünde.

    Ferner ist ein öffentliches Zentralinstituts zur Erforschung der dogmatischen Texte des Islams zu schaffen und die Ausbildung von Religionslehrern strikt auf der Grundlage der historisch-kritischen Forschung ohne die Beeinflussung durch muslimische Verbände durchzuführen. Im gleichen Zug muss die öffentlich unterstützte theologische Ausbildung aller Konfessionen im Sinne der Ausgliederung der wissenschaftlichen Ausbildung aus den Universitäten in kirchliche Hochschulen reformiert werden.

    Im Bildungsbereich ist ein angemessener Ausgleich herzustellen zwischen Internationalisierung und Europäisierung. Die Leitidee der Bildungsökonomie muss in ihrer Anwendung gegenüber der Pflege des europäischen Zivilisationstyps kritisch begrenzt werden. Dies bedeutet die curriculare Verankerung des Pflichtmoduls „Der abendländische Zivilisationstyp und seine Bedeutung für das demokratische Zusammenleben im 21. Jahrhundert“ in Schule und Hochschule. Zum anderen muss die Pflege der europäischen Hochsprachen als Organ jenes Lebensstils intensiviert und extensiviert werden. Neben der Reform der Europadidaktik sind neue Zugänge zur Methode des Fremdsprachenerwerbs umzusetzen. Die Bedeutsamkeit, die die Regeneration des europäischen Selbstverständnisses für den akademischen Bereich besitzt, wird demnächst in einem Text exemplarisch für den Studienaufenthalt im europäischen Ausland entfaltet.46



    VI. Postscript: Die „Berliner Erklärung“

    Die Europäer hätten die Möglichkeit, die Politik insbesondere gegenüber Afrika auf eine gerechte Grundlage zu stellen, aber sie tun es nicht. Stattdessen begnügen sich die humanitären Organisationen mit der „Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz“. Indem sie sich auf die schiefe Ebene der status-quo-Politik einlassen, beschränken sie sich darauf, ausschließlich für die vermeintlichen subjektiven Rechte der Flüchtlinge einzutreten, schweigen aber zu den berechtigten Interessen der europäischen Völker. Weder die Ausweispflicht, noch eventuelle kriminelle Handlungen, noch die Aushöhlung des Asylantenstatus durch massenhafte Migration und die Regierungspolitik, noch die Passung des „sozialen Modells“, noch die Zukunft des europäischen Zivilisationstyps spielen bei der Erklärung eine Rolle.

    Dieses Postscript ist das Ergebnis der irritierenden Beobachtung, dass bestimmte Informationen in unserer „Informationsgesellschaft“ es schwer haben, zu den Adressaten durchzudringen und in die Urteilsbildung Eingang zu finden. Im vorliegenden Fall geht es um die „Berliner Erklärung“, die eine selektive und reduzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit widerspiegelt.

    Die Menschenrechte werden gemeinhin als das Rückgrat der westlichen Wertegemeinschaft betrachtet.47 Deshalb wäre es naheliegend, von humanitären Organisationen, die sich der Wahrung der Menschen- und Bürgerrechten verschrieben haben, eine vertiefte Hinwendung zum abendländischen Zivilisationstyp zu erwarten, auf dessen Grundlage die Idee der Menschenrechte entstanden ist. Doch davon kann keine Rede sein. Am 03.07.2018 haben 16 humanitär tätige Organisationen48 die „Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz“49 veröffentlicht und konkrete Forderungen an die Bundesregierung und die Europäische Union gerichtet. In diesem Dokument werden u.a. das uneingeschränkte Offenhalten der Grenzen der EU und eine rechtsstaatliche Prüfung jedes Flüchtlings auf dem EU-Territorium gefordert. Die Einbeziehung migrationswissenschaftlicher Erkenntnisse und daraus abzuleitender Konsequenzen für Europa findet man in diesem Text jedoch nicht.50 Ebenso wenig erwägen die Unterzeichner, inwiefern Krieg und Elend in den betroffenen Ländern und letztlich Fluchtbewegungen durch die EU-Politik gefördert werden. Angesichts des andauernden Kriegs in Syrien sollte sich kein Menschen- und Bürgerrechtler damit zufrieden geben, abermals nur Nachsorge zu betreiben. Die Ursache dieses Selbstwiderspruchs ist letztlich darin zu sehen, dass die Unterzeichner EU und Europa undifferenziert verwenden. Es ist oben begründet worden, dass diese Vermengung mächtigen politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Interessensgruppen dient und zu einer Schieflage der Argumentation führt. Im vorliegenden Fall lässt sich gut beobachten, dass die Kritik der Menschen- und Bürgerrechtler wirkungslos bleibt, solange man deutsche Bundesregierung und EU als Anwälte der Menschenrechte und nicht als Mittäter identifiziert. Statt allein über karitative Aktionen den doppelbödigen global player EU zu stützen, könnten jene Organisationen den Anspruch der EU falsifizieren, Europa und seine Kultur beerbt zu haben. Es hätte eine moralische Logik, den Regierenden nicht mehr die Gelegenheit zu verschaffen, sich erst als Wohltäter in Szene zu setzen, um dann – durch von wirtschaftlichem Eigennutz diktierte Maßnahmen – die Zukunft des abendländischen Zivilisationstyps zu torpedieren. 51

    Darüber hinaus gibt es einen weiteren Grund sich zu besinnen. Bei einem nahezu alle Europäer betreffenden Anlass, die massenhafte Migration aus anderen Kulturen, könnte erstmals im 21. Jahrhundert den Bürgern der hoch gespannte menschliche Anspruch des abendländischen Zivilisationstyps nahegebracht werden. Angesichts des überquellenden materiellen Reichtums könnte man ihnen erklären, dass es in ihrer Macht stünde, im Rahmen einer großzügigen und gerechten Politik einen wirtschaftlichen Interessensausgleich mit dem Mittelmeerraum ins Auge zu fassen, die Migration in einsichtiger Weise zu begrenzen und von Fall zu Fall die Rückführung der finanziell gut ausgestatteter Flüchtlinge in ihre Heimatländer einvernehmlich zu regeln. Parallel dazu könnte eine erheblich gesteigerte Rotation von regulär Auszubildenden und Studierenden aus den Anrainerstaaten und darüber hinaus institutionalisiert werden und im jeweiligen Heimatland zu einem nachhaltigen Erfolgsmodell werden. 52

    Gegen die „freiwillige Knechtschaft“ der EU, die sich den internationalen Finanzinteressen ausgeliefert hat (Stichwort: Ideologie des unbegrenzten Wachstums), muss ein Programm entwickelt werden, das die fortschreitende Zerstörung der globalen wie der heimischen Umwelt thematisiert und die Bevölkerung langsam aus der Abhängigkeit von der beständig genährten Konsumsucht befreit, – eine Voraussetzung, um für den fortschreitenden Verlust der kulturellen Grundlagen zu sensibilisieren. Dazu müsste allerdings auch ein grundsätzlicher Einstellungswandel der nationalen und EU-Eliten sowie der afrikanischen Eliten thematisiert werden. Sie müssten sich von der affektiven Bindung an das Thema der Macht als global player bzw. als Clanchefs lossagen und eine wahrhaft partnerschaftliche Haltung einnehmen.

    Von einem solchen Perspektivenwechsel sind selbst die humanitären Organisationen jedoch weit entfernt. 53 Einerseits besteht die Nähe zu einer katastrophalen Beschämung, die Vorzüge des westlichen Lebensstils zu genießen, aber andere Menschen, z.B. Flüchtlinge, in effektvollen Medienberichten zu sehen, die um ihr Überleben kämpfen.54 So drehen und wenden in Veröffentlichungen der HU Juristen, Politologen, Soziologen, Islamwissenschaftler und diverse Aktivisten die Thematik, um die „Unkultur der gezielten Abschreckung und Zuwanderungsverhinderung“ zu beklagen.55 Die Fortsetzung der ungeregelten, durch nichts begrenzten Zuwanderung scheint demnach auch für die HU „alternativlos“ zu sein.56

    Andererseits bieten diese Organisationen Spendern auch die Möglichkeit, dank der Schienung des Blickes durch die kollektive mauvaise foi das wirtschaftliche Regime des Eigennutzes im Nebel der Selbstzufriedenheit verschwinden zu lassen. In diesem Fall tragen die humanitären Organisationen dazu bei, dass die Fluchtursachen auf unabsehbare Zeit festgeschrieben werden. Die „Berliner Erklärung“ ist ein weiteres Dokument dieser Ambiguität, in dem man je nach Blickrichtung einen Tunnelblick oder eine Vogel-Strauß-Perspektive erkennen kann. Ich gehe ohne eine ausführliche Kommentierung auf einige Punkte ein.

    Im einleitenden Textblock sprechen die Autoren verharmlosend von „Einreise“ statt von massenhaftem, gewaltsamem Eindringen der Flüchtlinge. Für diese werden „Minimalstandards für den Schutz vor Folter, Gewalt und unmenschlicher Behandlung“ eingeklagt, und dies an die Adresse der EU und der Bundesregierung, die seit je eine arrogante und aggressive Politik gegenüber Afrika praktizieren. Bei der „Einreise“ handelt es sich inzwischen meist um die konzertierte Aktion bestimmter Sippen, Familien oder Interessensverbünde, die aufgrund eines kollektiven Kalküls einige Mitglieder auf den Weg in die EU schicken, um mit Rücküberweisungen die Familie zu finanzieren oder auch diese per Familiennachzug in die EU zu bringen. Migrationswissenschaftler wissen seit langem, dass die Wohlstandsdifferenz das antreibende und bleibende Motiv ist, um sich mit Hilfe von kriminellen Schleppern auf die Flucht zu begeben und die Aufnahme im Land der Wahl zu erzwingen.57 Damit verliert der Begriff des Flüchtlings58 die Bedeutung, die er in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 hatte.59

    Die polemische Entgegensetzung „Schutz der Flüchtlinge“ vs. „Schutz der Grenzen“ greift zu kurz: Gerade das Fehlen eines verlässlichen Grenzregimes und einer verantwortlichen Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) haben erst den Anstoß zum afrikanisch-arabischen Eindringen in die EU gegeben. Grenzen sind kein Selbstzweck, sondern die Bedingung für ein geordnetes innerstaatliches Leben wie auch für die verlässliche Kooperation zwischen Staaten. Deswegen müssten die Anstrengungen der humanitären Organisationen dahin gehen, die deutsche Bundesregierung und die EU zu einem grundsätzlichen politischen Umsteuern zu veranlassen sowie die Bevölkerung auf den Abschied von der ruinösen Konsumhaltung vorzubereiten. Statt aus dumpfem schlechtem Gewissen Kolonien von Menschen aus Afghanistan, dem Südsudan, Myanmar, Somalia usw. in der EU und Deutschland zu bilden (Resettlement), wäre es an der Zeit, von der Politik eines sich überschätzenden global player abzurücken, zu dem offenbar allein Österreich und die Schweiz bereit sind.

    Die Beschwörung rechtsstaatlicher Verfahren läuft inzwischen ins Leere, weil der deutsche Staat jene nicht mehr garantieren kann, auch wenn dies aus tagespolitischer Opportunität behauptet wird. Nachdem Menschen Monate oder Jahre in Deutschland bzw. der EU gelebt haben, sollen sie ggf. abschoben werden, doch der Staat ist entweder physisch, aus humanitären oder anderen Gründen dazu nicht mehr in der Lage. Im Ergebnis leben deshalb immer größere Gruppen von Menschen aus anderen Erdteilen und Kulturen in Deutschland und Europa, die nach einem anspruchsvollen Einwanderungsgesetz dazu nie das Recht erhalten hätten. Darüber hinaus liegt nach Auskunft der deutschen Sicherheitsbehörden die geschätzte Zahl der „Gefährder“ im fünfstelligen Bereich.60 Damit wird Unrecht sanktioniert, der Rechtsfrieden in Deutschland und Europa gefährdet und der europäische Zivilisationstyp Schritt für Schritt abgebaut. Doch vergebens sucht man eine Stellungnahme der HU, die eine breite gesellschaftliche Debatte über diese lebenswichtigen Fragen anstoßen würde.

    Die Forderung „solidarische Aufnahme von Schutzsuchenden in der EU statt nationaler Abschottung“ erweist sich als doppelbödiger Habermas-Merkel-Stil: Öffnung ist gut, nationale Abschottung ist schlecht. Dieses hohle Pathos hat keinen Bestand: Die Vorstellung, einen nicht näher bestimmten Teil der Weltbevölkerung in Europa aufzunehmen, ist absurd. Doch die geforderte „Solidarische Aufnahme“ ohne einen ordnungspolitischen Rahmen bedeutet genau dies. Offenbar wären die Unterzeichner mit einem Shuttle-Service von Nordafrika nach Europa ihre Sorgen los – ohne sich über die Zukunft von Europa und die hier Gestrandeten Gedanken zu machen. Die beschworene Solidarität wäre glaubhaft, wenn z. B. die in vielerlei Hinsicht ökologisch, sozial, gesundheitlich und politisch desaströse EU-Subventionierung von Exportprodukten (z.B. Fleisch aus EU-Massentierhaltung) eingestellt, der EU-Markt für geeignete Agrarprodukte geöffnet, die Unterwerfung der Finanzpolitik in großen Teilen Westafrikas (ehemalige Franc-Zone) unter das Diktat der EZB beendet, die Breitenbildung in Angriff genommen, zu einem funktionierenden afrikanischen Sozialmodell angeleitet, Infrastrukturen für ein modernes Unternehmertum sowie eine Zollunion zum Schutz bestimmter, noch nicht wettbewerbsfähiger Produkte würden.61 Stattdessen behandelt auch heute die EU Afrika bei der Konstruktion politischer Tauschverhältnisse aus der altvertrauten Position des Stärkeren als quantité négligeable.62 Es gibt kein neues Konzept, nur „gekaufte Zeit“.63 Solange die humanitären Vereinigungen daraus keine politischen Konsequenzen ziehen, drehen sie sich mit ihren Aktivitäten im Kreis.

    Die irreguläre Zuwanderung wird auf niedrigerem Niveau weiter gehen, denn Afrikas Menschen und Regierungen – Deals hin oder her – werden keine Ruhe lassen, bis die EU die neo-imperialistischen Strukturen im Handel, bei der Rohstoffgewinnung, den Agrarimporten und -exporten und in der Finanzwirtschaft zugunsten fairer Tauschbeziehungen aufhebt. Dies werden aber die globalen Investoren zu verhindern suchen, weil diese Änderung der Politik ohne massive Wertverluste und Umverteilungskrisen in der EU nicht gehen wird. Dadurch wird wiederum die Migrationsrate ansteigen – das einzige probate Mittel der afrikanischen Staaten, um Druck auf die EU auszuüben, – ein weiterer sich fortsetzender Kreislauf.64

    Schließlich: „Zivile Seenotrettungsorganisationen dürfen nicht an ihrer Arbeit gehindert werden. Das Recht auf Leben gilt auch auf Hoher See.“ Die Notrettung durch Handelsschiffe war ursprünglich gerechtfertigt. Doch das planvolle Vorhalten von Kapazität für Flüchtlinge greift in die staatlichen Hoheitsaufgaben der EU bzw. der Mitgliedsländer ein. Der Ausdruck „ihre Arbeit tun“ beschönigt, dass damit das illegale Eindringen in die EU im Einklang mit menschenverachtender Bandenkriminalität sanktioniert und verstärkt, zusätzliches Leid erzeugt und das europäische Zivilisationsparadigma auf mittlere Sicht zerstört wird. Es ist die Aufgabe des EU-Grenzschutzes, illegale Migranten in die Länder zurückzubringen, von denen aus sie gestartet sind (Libyen, Tunesien), damit jene dort ein Visum beantragen können.65

    Das Ergebnis lautet:

    Die Berliner Erklärung ist frivol: Mit der Behauptung, etwas Gutes für die Menschen in Not zu tun, unterstützt sie das Geschäft krimineller Schlepper, verleitet weitere Menschen zur Flucht und ändert nichts an den Fluchtursachen.

    Die Berliner Erklärung ist kurzsichtig: Sie klammert alle Fragen nach einer dauerhaften Lösung aus, die den problematischen Zustrom mehrheitlich muslimischer Personen nach Europa berücksichtigt.

    Die Berliner Erklärung schadet Europa: Sie schließt sich der regierungsoffiziellen Identifizierung von EU und Europa an und unterstützt damit die arrogante Behauptung von EU und Regierung, Sachwalter der Menschenrechte zu sein.

    Die Berliner Erklärung ist unterkomplex: Die Unterzeichner wissen nichts zum Angriff der die EU dominierenden Mächte auf den abendländischen Zivilisationstyp zu sagen.

    Die Berliner Erklärung ist unkritisch: Sie erweckt den Eindruck, mit den geforderten Maßnahmen würde eine Hilfe geleistet. Tatsächlich unterstützt sie damit das politisch erwünschte Fortbestehen der kollektiven mauvaise foi, obwohl die grundlegende Selbstkritik einer ungebrochen eigennützigen Afrikapolitik ansteht.

    Die den Europäern aufgezwungene ungeregelte Zuwanderung wird zu wachsendem sozialem Unfrieden führen, weil es aufgrund der genannten Gründe kaum Integration, d.h. auf Vertrauen gegründete Großzügigkeit geben kann.66 Die Berliner Erklärung beteiligt sich damit nolens volens an der Zersetzung des europäischen Selbstverständnisses.

    1 Zur Differenzierung zwischen der Europäischen Union und Europa s. vom Autor „Régénérer l’Europe. Narratifs – Critique – « Situations communes d’implantation »“, in: Journal of European Integration History (JEIH), Jahrgang 24 (2018), Heft 2 (im Erscheinen). Eine Zusammenfassung findet sich hier: https://www.philosophie.ch/fr/philosophie-fr/articles-independants/regenerer-l-europe

    Ferner: „Über implantierende gemeinsame Situationen, erläutert an den Themen Integration und Patriotismus“ https://www.philosophie.ch/artikel/2018/ueber-implantierende-gemeinsame-situationen-erlaeutert-an-den-themen-integration-und-patriotismus Deshalb wird dieser Aspekt hier nur gestreift.

    2 S. unten Kap. III

    3 Vertreten z.B. durch Jürgen Habermas, Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2008, vor allem SS. 88-95.

    4 Vertreten z.B. durch Liz Mohn. Siehe Werner Müller-Pelzer, Rez. von „Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten. Chancen und Herausforderungen kultureller Pluralität in Deutschland, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2018.“, in: Zeitschrift für Politik (ZfP), Jahrgang 65 (2018), Heft 4 (im Erscheinen).

    5 Verantwortlich ist dafür einmal die jahrzehntelange Leugnung der deutschen Regierungen, ein Einwanderungsland zu sein. Von privatkapitalistischem Profitstreben getrieben, interessierte allein, wie die Subsistenz der Arbeitskräfte zu sichern war. Verantwortlich ist zudem die Weigerung der die privatkapitalistischen Interessen moderierenden Politik, die manifesten kulturellen Unterschiede zwischen muslimisch geprägten Ländern und dem abendländischen Zivilisationstyp zur Kenntnis zu nehmen und als Aufgabe in die Bildungspolitik aufzunehmen. Verantwortlich ist ferner die bequeme Abschottung bildungsferner, ländlich geprägter muslimischer Milieus gegenüber den Herausforderungen und Chancen eines sozialen Aufstiegs, der ein Sich-einlassen auf den europäischen Lebensstil bedeutet hätte. Verantwortlich ist schließlich die ablehnende Haltung einer dogmatischen Priesterkaste, der tendenziell despotischen Regimes in den Herkunftsländern sowie der Funktionäre des vielgestaltigen politischen Islams in Deutschland.

    6 Dieser Einschätzung widerspricht nicht die Würdigung der großen Werke und kulturellen Leistungen, die die orientalisch-muslimische Welt in früheren Jahrhunderten hervorgebracht hat.

    7 Christine Schirrmacher, Politischer Islam und Demokratie. Konfliktfelder, Holzgerlingen, SCM, 2015, S. 111 f.; Bassam Tibi, „Der neue Kalte Krieg der Ideen zwischen den Zivilisationen und Alternativen dazu“ in Susanne Schröter (Hg.), Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt a.M., Campus, 2017, S. 84.

    8 Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg/München, Karl Alber, 2012, S. 89: „Kernnormen zeigen sich im spontanen Aufbegehren beim Zusammenstoß unverträglicher Rechtskulturen, heute besonders bei der Invasion des Islams, etwa bezüglich der Stellung der Frauen oder des Ranges kritischer Meinungsfreiheit.“ Ausführlicher s. unten SS. 8-11.

    9 Hamed Abdel-Samad, Integration. Ein Protokoll des Scheiterns, München, Droemer, 2018.

    10 Christine Schirrmacher, „Vertane Chance?“, in DUZ, 3, 2018 (18.04.2018) https://christineschirrmacher.info/2018/04/vertane-chance/ berichtet vom Berufungsbeirat der Humboldt-Universität: „Leider gehört dem Beirat nicht ein einziger unproblematischer Dachverband an: die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) mit ihrer Nabelschnur zur türkischen Religionsbehörde Diyanet; die Islamische Föderation Berlin (IFB), der Verfassungsschützer ‚extremistische Bestrebungen‘ und Verbindungen zur islamistischen Milli-Görüs-Bewegung vorwerfen; der Verband Islamischer Kulturzentren (Vikz), den ein Gutachten der hessischen Regierung als abschottend und separatistisch beurteilte und die Kölner Polizei als ‚antidemokratisch und antijüdisch‘; der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), der eine streng konservative, Scharia-orientierte Koranauslegung befürwortet und über seine Mitglieder mit der islamistischen Muslimbruderschaft verbunden ist, und die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS), die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und mit dem iranischen Mullah-Regime vernetzt gilt.“

    11 Kirsten Wiese, „Islam und Grundgesetz“, in Vorgänge 217, 1, 2017, SS. 5-9.

    12 Editorial, Vorgänge 217, 1, 2017, S. 1.

    13 Extremistische Organisationen in der Deutsche Islamkonferenz (DIK), im Beirat des Centrums für Religiöse Studien an der Universität Münster (Ablösung von Sven Kalisch an der Universität Münster im Jahre 2008) usw. werden immer noch als „konservativ“ bezeichnet.

    14 Christine Schirrmacher, 2015, Anm. 7, SS. 18-26; Bassam Tibi, „Der neue Kalte Krieg der Ideen zwischen den Zivilisationen und Alternativen dazu“, in: Susanne Schröter (Hg.), Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt a.M., Campus, 2017, SS. 82-85.

    15 Hier kann auch der Kalif Abd al-Malik Pate gestanden haben. Kurt Bangert, Muhammad. Eine historisch-kritische Studie zur Entstehung des Islams und seines Propheten, Wiesbaden, Springer VS, 2016, SS. 652-693.

    16 Christine Schirrmacher, 2015, s. oben Anm. 6, SS. 25-37. Neben dem politischen Arm des Islams ist der militärische Arm des gewaltsamen Jihadismus entstanden.

    17 Bassam Tibi, 2017, s. oben, Anm. 14, hat in den Schriften von Sayyid Qutb, dem Begründer des Islamismus, eine manipulative Neucodierung von Begriffen festgestellt, die den Autor an das „Neusprech“ bei George Orwell erinnern.

    18 Editorial, Vorgänge 217, 1, 2017, S. 1 (Hervorhebung von mir). Der Titel des Hefts lautet: „Der Islam als Bewährungsprobe für das Religionsverfassungsrecht“.

    19 Kurt Bangert, 2016, s. oben, Anm. 15. Das um sich greifende Tragen des Kopftuchs stellt chronologisch objektivierbar eine Begleiterscheinung des vordringenden Islamismus dar.

    20 Die große Verbreitung des fundamentalistischen und islamistischen, d.h. sich der Selbstaufklärung verweigernden Gedankengutes lässt sich z.B. bei Autoren wie Hamed Abdel-Samad, Khaled Hroub, Ahmed Mansour u.v.a. nachlesen. Ferner Susanne Schröter, „Moscheen sind grundsätzlich nicht integrativ.“, 23.02.2018: https://derstandard.at/2000074801713/Islamforscherin-Moscheen-sind-grundsaetzlich-nicht-integrativ

    21 Obwohl in Vorgänge 217, 1, 2017, Jamaleddine Ben Abdeljelil und Jelal Cartal über die massive Einflussnahme der erwähnten extremistischer Organisationen auf die Islamlehrerausbildung in Deutschland berichten, sucht man im Heft vergebens einen Aufsatz, der die Kopftuchfrage aus einer anderen Perspektive als S. Berghahn beleuchtet.

    22 Die im Augenblick noch nicht vorliegende Grundlage für die Anerkennung der muslimischen Vereine als Körperschaft des öffentlichen Rechts stellt gewissermaßen die „Galgenfrist“ für die angestrebte Gleichstellung dar.

    23 Hermann Schmitz, 2012, s. oben, Anm. 8, S. 44: „Der Grund für dieses Scheitern der Werttheorie ist das Fehlen ergreifender Macht der Werte. Sie […] sind wie Leitsterne und Richtpunkte, die einem integren Subjekt höchst orientierend gegenübertreten. [Dies reicht aber nicht aus.] Bloß aggressiv das Subjekt heimsuchende, im Realzusammenhang unmittelbar wirkende Mächte vermögen dieses Gleichgewicht [zwischen konträren Ansprüchen] zu verschieben, indem sie der Person die Unbefangenheit rauben. Nur dadurch kommt eine Autorität zu Stande, die der Geltung von Normen Verbindlichkeit für jemand (in seiner Perspektive) verleiht.“

    24 Hermann Schmitz, 2012, s. oben, Anm. 8, S. 46: „Solange der Diskurs auf dem Boden einer gemeinsamen Überzeugung geführt wird, […] ist der Vorsprung des besseren Arguments leicht zu bestimmen; dessen zwangloser Zwang besteht dann darin, dass die Gesprächspartner besser verstehen, was sie gemeinsam vorausgesetzt haben Die Diskurstheorie traut sich aber mehr zu. Sie will über die Geltung von Normen, woher diese auch stammen mögen, durch bloße vernünftige Erörterung gemäß den Regeln optimaler Fairness entscheiden. Wann bei dieser Prozedur ein Ergebnis erreicht sein wird, bleibt offen.“ S. 47 f.: „Ein grenzenlos übertriebener Vernunftoptimismus gehört zu der Erwartung, die Interessen aller Menschen ohne Rücksicht auf den Unterschied der Situationen und Standpunkte, aus denen sie leben, auf einen Nenner zu bringen; ich erinnere nur an den […] Gegensatz zwischen einem humanitären Idealisten und dem Freund des abenteuerlichen Lebens, der aus der lähmenden Verstrickung in die ideale Humanität auszubrechen sucht.“

    25 Hermann Schmitz, 2012, s. oben, Anm. 8, S. 8.

    26 Zum Begriff der Situation: Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München, Karl Alber, 2005.

    27 Der „Blick von nirgendwo“ ist die anschauliche Pointierung dieses distanzierenden Abrückens. Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford University Press, 1986 (dt. 1992).

    28 Hermann Schmitz, 2005, s. oben, Anm. 26.

    29 Hermann Schmitz, 2012, s. oben, Anm. 8, S. 88: „Als anschauliches Beispiel solcher Gliederung kann eine patriarchalische Familie älteren, heute fast schon antiquierten Zuschnitts gelten, die eine (ungeschriebene) Rechtsordnung mit Rechtsgütern wie der wechselseitigen Pietät (im altrömischen Sinn) und der familiären Aufgabenverteilung im Dienst eines familiären Rechtszustandes besitzt, überdies ein Justizpersonal (Eltern mit Zwangsgewalt) und Sanktionsmittel (Prügel, Entzug des Taschengeldes usw.). Die Kerngruppe möge aus dem Vater, der ihm ergebenen Mutter und der ebenso gesonnenen Tochter bestehen, die innere Randgruppe aus den in der Gesinnung schon rebellierenden, aber sich im eigenen Interesse noch fügenden heranwachsenden Söhnen. Die äußere Randgruppe (hier: äußere Objektgruppe) aus dem nachgeborenen Kleinkind. Der äußeren Adressatengruppe könnte ein schlecht integriertes, einer fremdartigen Rechtskultur entstammendes Dienstmädchen, mangels Anpassungsbereitschaft bald wieder entlassen wird, zugerechnet werden.“

    30 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit. Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie, Freiburg/München, Karl Alber, 2017., S. 111: „Wir können Kultur als Gesamt- und Wirkzusammenhang nicht als einen uns äußerlichen Gegenstand bestimmen, sondern haben unsere und andere Kulturen aus dem Gesamtzusammenhang menschlicher Kultur zu begreifen.“

    31 Hermann Schmitz, 2012, s. oben, Anm. 8, S. 184: „Das Hauptbedürfnis, das durch die Abhängigkeit von der Allmacht Gottes befriedigt werden soll, ist im Islam nicht so sehr das private Glück der Gläubigen als vielmehr die affektive Beruhigung. Die Allmacht wird von den Moslems über alle Maßen stark sich vorgehalten, um sich dabei beruhigen zu können, dass es sich gar nicht lohnt, sich aufzuregen, weil doch alles so kommt, wie Gott will. Was der Islam seinen Gläubigen hauptsächlich bietet, ist die Abdeckung gegen unvorhersehbare und unregulierbare emotionale Erschütterung. Deshalb ist ein wesentlicher Bestandteil des Islams die untergeordnete, gleichsam in ein enges Gehege eingebundene Stellung der Frau, die, wenn sie sich frei entfalten dürfte, einen unvorhersehbaren, affektiv gefährlich ergreifenden und erschütternden Reiz auf den Mann ausüben könnte. Aus demselben Grund ist der Islam geschworener Feind jeder kritischen Aufklärung, die die Festigkeit der dogmatischen Deiche gegen emotionale Überflutung erschüttern könnte.“

    33 Ernst Wolfgang Böckenförde (1976) Staat, Gesellschaft, Freiheit, 60: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf säkularisierter Ebene - in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

    34 Ahmed Mansour: Klartext zur Integration. Gegen falsche Toleranz und Panikmache. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. – Unverzichtbare Rechtsgüter sind z.B. körperliche Unversehrtheit, angstfreie und gewaltfreie kindliche Entwicklung, Anerkennung der Gleichwertigkeit der Geschlechter und gleicher Zugang zu Bildungsangeboten.

    35 Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, C.H. Beck, 2., aktualisierte Auflage, München 2018. Ferner ders.: „Der Islam im säkularen Europa“, 28.10.2016: https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-campus/auditorium/campus-religion-und-gesellschaft-islam-europa100.html Der Autor ist Jurist und bewegt sich wie S. Berghahn im Rahmen seines Fachverständnisses. Er problematisiert z.B. nicht das seit den 1990er Jahren Länder übergreifend einsetzende „freiwillige“ Tragen des Kopftuchs und übergeht die sozio-kulturelle Bedeutung der sexuellen Normierung. Die politisch willkommene Auffassung, der einzelne Muslim, die einzelne Muslimin beabsichtige in der Regel nichts Verschwörerisches, bagatellisiert (in für den Islamismus genehmer Weise) die tief in die Persönlichkeit reichende religiöse Prägung.

    36 Elham Manea, „Eine Kritik des essentialistischen Paradigmas“, in: Susanne Schröter (Hg.), 2017, s. oben, Anm. 7, SS. 43-76.

    37 Eine Gegenüberstellung von Islam und Christentum im Hinblick auf die Bindung des gesamten affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht Gottes findet man bei Hermann Schmitz, 2012, s. oben, Anm. 8, SS. 183-188.

    38 Paul Stock, “What is Europe? Place, idea, action”, in Amin, Ash and Lewis, Philip, (eds.) European Union and disunion: reflections on European identity. British Academy, London, UK, SS. 23-28 http://eprints.lse.ac.uk/78396/1/Stock_What%20is%20Europe_2017.pdf (LSE Research online).

    39 Doch statt wie im 20. Jahrhunderts um eine verstiegene Reflexivität geht es heute um das Bemühen, die präreflexive Erfahrung des leiblichen In-der-Welt-seins, das eigenleibliche Spüren, die leibliche Kommunikation und die am eigenen Leib erfahrenen Gefühle in die kritische Einschätzung eines menschlichen Lebens einzubeziehen. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock, Ingo Koch, 2003.

    40 Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, Bonn, BPB, 22015.

    41 Zohre Esmaeli, „Nie gelernt, allein zu leben“, in: Der Spiegel Nr. 36, 1.9.2018, S. 41.

    42 Über das von der EU weiterhin für alle Länder als verbindlich vorausgesetzte Entwicklungsparadigma sagt Helen Schwenken, Globale Migration zur Einführung, Hamburg, Junius, 2018, S. 200: „Diese Entwicklungsperspektive geht immer noch mit dem modernisierungstheoretischen Paradigma von erwünschtem Wirtschaftswachstum und der neoliberalen Umstrukturierung von Weltregionen einher. Interessanterweise werden in der Migrationsforschung kaum Beiträge rezipiert, die einige dieser Annahmen in Frage stellen, etwa die in der Umwelt,-, Entwicklungs- oder Globalisierungsforschung viel diskutierten Ansätze von Dekolonialisierung, buen vivir, post development und degrowth. Siehe dazu Erik S. Reinert, Warum manche Länder reich und andere arm sind. Wie der Westen seine Geschichte ignoriert und deshalb seine Wirtschaftsmacht verliert, Stuttgart, Schäffer-Poeschl, 2014, Herbert Daly, Essays against Growthism, Bristol, WEA Books, 2015, Niko Paech, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München, Oekom, 82014, Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt, München, oekom, 32013.

    43 Angelehnt an Hermann Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin, Akademie, 1997, S. 23. - Als Kernnormen können die Menschenrechte betrachtet werden, deren Geltung heutzutage eine Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst besitzt (2012, s. oben, Anm. 8, S. 71). Das Verhüllungsverbot dürfte den Schalennormen zugerechnet werden, insofern dieses für die Kerngruppe der europäischen Kultur mit bedingtem Ernst verbindlich gilt.

    44 Dies ist eine programmatische Behauptung: Der Autor des vorliegenden Aufsatzes lehnt die aktuelle Kohabitation des Staates mit den zwei christlichen Kirchen ab und damit die daran orientierte Politik der Gleichstellung des Islams.

    45 Paul Collier, s. oben, Anm. 40; Wolfgang Streeck, „Between Charity and Justice: Remarks on the Social Construction of Immigration Policy in Rich Democracies”, Odense: Danish Center for Welfare Studies W 2017-5, 2017: https://www.sdu.dk/en/om_sdu/institutter_centre/c_velfaerd/publications/workingpapers.

    46 Werner Müller-Pelzer, “About the role of collective atmospheres for European Students”, in: Studi di estetica (im Erscheinen); ders., „Europa regenerieren. Wie europäische Studierende über Adoptivsprachen Zugang zu kollektiven Atmosphären und gemeinsamen Situationen erhalten können“, Rostocker Phänomenologische Manuskripte (erscheint 2019). Ausgehend von der Kritik des multikulturalistisch kontaminierten Erasmus-Programms wird hier das europäische Montaigne-Programm vorgestellt werden.

    47 Hermann Schmitz, 2005, s. oben, Anm. 8, SS. 238-254. Für eine neue Sicht auf die Menschenrechte ferner ders., 2012, s. oben, Anm. 8, insbesondere SS. 81-91.

    48 Amnesty International – Sektion der Bundesrepublik Deutschland, AWO – Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Beauftragter des Senats von Berlin für Integration und Migration, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, Deutscher Caritasverband, Diakonie Deutschland, Jesuiten Flüchtlingsdienst Deutschland, medico international, Neue Richtervereinigung, Der Paritätische Gesamtverband, PRO ASYL, Rechtsberaterkonferenz, Republikanischer Anwältinnen- und Anwaltsverein, Sea-Watch, SOS MEDITERRANEE Deutschland, terre des hommes Deutschland; die Humanistische Union unterstützt diese Erklärung.

    50 Wolfgang Streeck, 2017, s. oben, Anm. 45. Neben Paul Collier, 22017, s. oben Anm. 50, und Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 22015, siehe Albert O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen, Mohr Siebeck, 2004.

    51 Stellvertretend für andere humanitär tätige Organisationen werde ich auf Verlautbarungen der Humanistischen Union (HU) in ihrer Verbandszeitschrift Vorgänge zurückgreifen. So enthält das Themenheft „Europa in der Krise“ (Vorgänge 220, 4, 2017) ausschließlich Artikel über die Europäische Union. Ebenso war schon 2014 getitelt worden „Europas Abschottung“ (Vorgänge 208, 4, 2014), obwohl dann im Text allein von der Europäischen Union die Rede ist.

    52 Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1994=22002; Wolfgang Streeck, 22015, s. oben, Anm. 50, SS. 282-298; Wolfgang Streeck, 2017, s. oben, Anm. 45; Paul Collier, s. oben, Anm. 40.

    53 Man denke an die kursierenden Vorwürfe „Fremdenhass“, „Islamophobie“ oder „Rassismus“, sobald eine vernünftige Abwägung der Argumente verlangt wird. Chantal Delsol hat deshalb auf den Mangel an affektiver Bindung der nationalen und EU-Eliten an den abendländischen Zivilisationstyp hingewiesen: „Islamophobie, occidentophobie“, 2017, http://www.magistro.fr/index.php/template/lorem-ipsum/a-tout-un-chacun/item/3253-islamophobie-occidentophobie-

    54 Henning Nörenberg, Der Absolutismus des Anderen, Freiburg/München, Verlag Karl Reiner, 2014, S. 27: „Die Ansprüche des absolut Anderen sollen das Ego zu einer selbstlosen Güte (générosité) aufrufen. Sie gelten per se als legitim, wie maßlos sie auch sein mögen, und allein schon der Versuch, zwischen angemessenen und unangemessenen Ansprüchen kritisch zu unterscheiden, gilt demgegenüber als gewalttätige Selbstbehauptung.“

    55 Editorial, Vorgänge 214, 2, 2016, „Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung“, S. 1.

    56 Von den fatalen Implikationen für das europäische Selbstverständnis und die langfristigen Folgen wird jedoch nicht gesprochen, allenfalls im Sinne eines fantasierten Rechts „auf globale Bewegungsfreiheit“. Hagen Knopp, „Gegen das Sterben-Lassen auf See“, in Vorgänge 208, 4, 2014, S. 91. Damit ist der Zustand der multikulturellen Auflösung erreicht, für den bereits Ulrike Guérot (Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Bonn: Dietz, 2016) geschwärmt hat: „Geschaffen wird damit ein gigantischer Möglichkeitsraum an Lebensentwürfen und Modellen, die wirklich nebeneinander existieren“ (S. 249), ein „Möglichkeits- und Transitraum für durchlässige Heimaten“ (250). Zur Kritik Werner Müller-Pelzer, „Warum leben wir zusammen, und wie wollen wir zusammenleben?“ in impEct 2016, Nr. 8 : http://www.fh-dortmund.de/de/fb/9/publikationen/index.php sowie die Rezension in Zeitschrift für Politik 2016, 4, S. 464 f. Nur der Historiker Volker Perthes darf am Rande erwähnen, man habe „zunächst einmal anzuerkennen, dass jeder Staat auch legitime Interessen hat.“ Und dazu gehört die Kontrolle über die Außengrenzen, selbst wenn dies in der Praxis schwierig sein kann. Volker Perthes, „Komplexe Krisen und Konflikte im Nahen Ostenverursachen Flucht nach Europa“, in Vorgänge 214, 2, 2016, S. 32

    57 Paul Collier, s. oben, Anm. 40, SS. 43-49; Wolfgang Streeck, 2017, s. oben, Anm. 45. Die vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen registrierten Flüchtlinge verlieren ihren UN-Flüchtlingsstatus, wenn sie sich auf eigene Faust auf die Reise in ein Zielland begeben. 

    58 Im vorliegenden Zusammenhang wird deshalb nicht zwischen Migranten und Flüchtlingen terminologisch unterschieden: Helen Schwenken, Globale Migration zur Einführung, Hamburg, Junius, 2018, S. 45; so auch Wolfgang Streeck, 2017, s. oben, Anm. 45, S. 2 f.

    59 Falls es noch eines weiteren Belegs dafür bedurft hätte, denke man an die Klage vor dem EuGH, die zwei Nordafrikaner eingereicht haben, die von spanischen Behörden nach Marokko abgeschoben worden sind, nachdem sie mit brachialer Gewalt die Absperrung um die spanische Enklave Melilla durchbrochen hatten.

    60 Die zunehmende Zahl von Gewalttaten durch Migranten (Mord, Totschlag, schwere Verletzung, sexuelle Vergehen) illustriert die ironistische Haltung der Bundeskanzlerin A. Merkel. Ihr fehlt ein Niveau personaler Emanzipation, auf dem die Person mit ihrem Selbstbild beschämt werden könnte, wodurch die Fassung ins Wanken geraten könnte. Die Bundeskanzlerin ist nicht beschämbar und kann damit von ihren politischen Gegner nicht festgenagelt werden. Man vergleiche damit den eh. Bundeskanzler Helmut Schmidt, der beschlossen hatte, im Falle des Scheiterns der Befreiungsaktion einer von Terroristen gekaperten Lufthansa-Maschine zurückzutreten.

    61 Dabei kann man sich von den Überlegungen von Erik S. Reinert, 2014, und seiner Kritik am Freihandelsdogma leiten lassen.

    62 Georg Vobruba, Krisendiskurs. Die nächste Zukunft Europas, Weinheim/Basel, Beltz Juventa, 2017, S. 114.

    63 Darin sieht Wolfgang Streeck, 22015, s. oben, Anm. 50, das Prinzip der aktuellen Politik.

    64 Bislang wagt nur die österreichische Regierung, mit der kollektiven mauvaise foi zu brechen, weshalb alle Heuchler über sie herfallen.

    65 Wenn die EU in der Lage war, sich an der Zerstörung des libyschen Staates zu beteiligen, kann sie auch ihre Grenzen – und das heißt den europäischen Zivilisationstyp – schützen, sofern der Wille dazu besteht.

    66 Armin Nassehi, „Wir und die Anderen. Ein soziologischer Versuch, die Leitkulturdebatte zu verstehen“, in Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten, Gütersloh, Bertelsmann, 2018, S. 81 f.