Leicht geht dem Ohr der Gegenwart ein, wenn von etwas als etwas Sozialem die Rede ist. Ganz selbstverständlich hören wir von Sozialpolitik und Soziallasten, von Sozialabbau und Sozialkompetenz, schließen wir uns einer sozialen Bewegung an, interessieren uns für den sozialen Hintergrund einer Person, fordern mehr soziale Werte ein u.v.m. Dabei hat das lateinischstämmige Lehnwort ‚sozial‘ seine Erfolgsgeschichte im Deutschen erst vor rund 200 Jahren angetreten.
Nach der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu fragen, ist eines. Etwas ganz anderes ist die Frage nach dem, was darunterfällt. Hält sich in all den vielfältigen Erscheinungen, die wir als ‚soziale‘ zu bezeichnen pflegen, wirklich etwas Gemeinsames durch? Etwas, das somit zu dieser gemeinsamen Bezeichnung berechtigt? Im deutschsprachigen Raum hat M. Theunissen für derlei Überlungen 1964 den Titel der ‚Sozialontologie‘ geprägt, im Englischen ist seit den einschlägigen Arbeiten von J. Searle die Rede von social ontology geläufig.
Der sozialontologischen Problemstellung kann man sich nicht durch Untersuchung irgendeines Wortgebrauchs entledigen. Die Verwechslung, der man dabei aufsäße, ist vergleichbar der, da jemand Einsichten in Aufbau und Funktion von Zellen zu erlangen sucht, indem er sich einen Überblick über den Gebrauch des Wortes ‚Zelle‘ verschafft. Das Problem, mit dem sich die Ontologie des Sozialen beschäftigt, ist kein semantisches. Ihr kommt es darauf an, über die Semantik der Sprache hinaus- und zu demjenigen hinzugelangen, was darin zur Sprache kommt: Die Sache selbst ist es, die aufgeklärt werden soll.
Dabei will sie jedoch kein Ideal aufstellen, an dem gemessen gewisse gesellschaftliche Verhältnisse als gerecht, fair, versöhnt, vernünftig gelten können im Gegensatz zu anderen. Genauso wenig beschränkt sie sich auf einen gewissen Teilbereich menschlicher Gesellschaft im Gegensatz zu anderen, die Politik etwa oder die Wirtschaft, nicht auf manche Formen des zwischenmenschlichen Verkehrs oder auf manche Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung im Gegensatz zu anderen.
Womit sich die Sozialontologie befasst, geht desgleichen solche gesellschaftlichen Verhältnisse an, die ungerecht, unfair, unversöhnt, unvernünftig sind. Was sie in den Blick zu bringen sucht, geht desgleichen durch die übrigen Teilbereiche menschlicher Gesellschaft hindurch, etwa das Recht und die Kunst, Sport und Erziehung. Und es übergreift sämtliche Formen des zwischenmenschlichen Verkehrs und überdauert sämtliche Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung.
Dem sprichwörtlich gewordenen gesellschaftlichen Band ist es, dass sie nachdenkt. All die unterschiedlichen sozialen Phänomene will sie einzig in derjenigen Hinsicht ergreifen (wenn es denn eine solche Hinsicht gibt), worin diese übereinstimmen, insofern sie nur soziale sind. Die vielberufene Formel, welche solch eine ontologische Art des Denkens klassischerweise anzeigt, ist ‚als solches‘. Im Schlagwort der Tradition formuliert, rückt die Ontologie des Sozialen also in den Fokus, wodurch etwas, das etwas Soziales ist, als solches gekennzeichnet ist.
Diese Aufgabe stellt sich naturgemäß auch dort, wo soziologische Interessen zu sich selber erwachen. Schon die Gründerväter der Soziologie haben mit einem Begriff dessen gerungen, was eine soziale Erscheinung im Allgemeinen charakterisiert – was dadurch nicht geschmälert wird, dass sie ihre diesbezüglichen Bemühungen nicht als ‚sozialontologische‘ ansprachen. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass sich die besagte Aufgabe bloß auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften stellt. Doch verspricht die laufende Diskussion weiteren Anstoß und Aufschluss für die sozialwissenschaftliche Selbstverständigung im Hinblick auf deren Gegenstandsbereich.
Indem die Sozialontologie mit der gesellschaftlichen Dimension des menschlichen Daseins als ganzer Schritt zu halten bestrebt ist, steht sie quer zu diversen philosophischen Disziplinen. Für etliche Anstrengungen der Philosophie, welche Phänomenen gelten, die auf dem Boden der Gesellschaft gedeihen – Sprache und Geist des Menschen, sein Erkennen und Handeln z.B. –, stellt sie weiträumig orientierende Einsichten in Aussicht.
Eine mögliche Antwort auf die sozialontologische Frage besteht nun darin, Soziales an das Bewusstsein des Menschen zu binden. Diesen Ansatz hat Searle weniger neu eingeführt als vielmehr erneuert, ist er doch länger schon vorherrschend im ontologischen Begreifen von Sozialem. Danach soll es das menschliche Bewusstsein sein, welches die Rahmenvorstellung hergeben muss, in deren Blickbahn sich die Analyse des Sozialen zu halten habe. So etwa bei A. Quinton, M. Gilbert und Searle, aber auch bereits bei É. Durkheim, G. Simmel und M. Weber.
Allerdings wird auf diese Weise lediglich gewissen Instanzen von Bewusstsein (diese mögen im Übrigen volitiver, kognitiver, affektiver oder welcher Art auch immer sein) eine soziale Seite zugestanden. Nur wenn das Individuum auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, nämlich auf mindestens ein anderes Individuum, ist sein Gerichtetsein sowie all das, was in der Folge davon abhängen mag, sozialer Art. Im Gegenzug heißt dies jedoch, dass alle sonstigen Bewusstseinsinstanzen nichts Soziales an sich haben. Reine Individualität bildet diesem Analyseansatz gemäß die bleibende Substanz des Menschen, Sozialität wird in einige seiner wechselnden Zustände abgedrängt.
Zwar bekundet sich darin die Vorstellung, dass das Soziale der geistigen Realität menschlicher Existenz zugehört. Dem ist gewiss zuzustimmen. Jedoch umfasst diese Realität mehr als nur Bewusstsein. Ist doch der Mangel an Bewusstsein gar nicht dasselbe wie der Mangel an Wissen schlechthin. Ich kann ja sehr wohl etwas wissen, ohne mir dessen bewusst zu sein; vielleicht bin ich auch nicht ohne Weiteres imstande, ausdrücklich zu machen, was ich da weiß. Die Idee, wonach alles Bewusstsein eine andere Dimension unseres Geistes voraussetzt und in Anspruch nimmt, findet sich etwa bei G. Ryle, H.-G. Gadamer, M. Polanyi und J. Habermas.
Dass solch unausdrückliches Wissen soziale Züge aufweist, ist darin mit Händen zu greifen, dass Menschen sich bloß verständlich machen und einander verstehen können, insoweit sie bereits an einer Sphäre des Wir teilhaben. Beispielsweise teilen sie sich in die Regeln ihrer Sprache. Und diese Regeln brauchen den Beteiligten nicht vor Augen zu stehen, damit sie ihnen folgen können. Soziales kommt nicht erst dort ins Spiel, wo ein Akteur sich auf einen anderen bezieht. Dieser vermag sich überhaupt nur auf einen anderen Akteur zu beziehen, wenn anders Soziales längst im Spiel ist.
In das Selbst des Menschen ist immer auch eine Kenntnis von Sozialem eingeschlagen. Und mehr noch. Denn wo einem die Regeln gesellschaftlicher Praxis bekannt sind, da ist diese Bekanntschaft selbst eine soziale. Kennt man doch jene Regeln nicht als einziger; all die anderen, welche an der gesellschaftlichen Praxis mitwirken, tun das ebenfalls. Folgerichtig kann auch dann, wenn das, was da von vielen implizit gewusst wird, seinerseits nichts Gemeinsames ist – wie etwa im Falle von Tatsachen der Natur –, doch das implizite Wissen darum ein vielen gemeinsames sein. An dieser geistigen Dimension hat die Ontologie des Sozialen anzusetzen.
Und solches Wissen lässt ein Individuum auch dort von Grund auf ein soziales sein, wo es gerade einmal nicht an irgendwelchen Anderen orientiert ist. Gesellschaftliche Lebensformen machen sich nicht nur und nicht erst an der Übereinstimmung von Meinungen fest, sondern auch und früher noch an der geteilten Lebenserfahrung der Betreffenden, welche sich u.a. in deren Sprechen und Meinen zeigt. Die Betreffenden sind durch ihre Erfahrenheit zusammengehalten. Und die legt sich in der einen oder anderen Hinsicht in jedwedes Bewusstsein hinein, auch und nicht weniger in das von natürlichen Tatsachen.
Literatur
Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), Paris 71960.
Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), Paris 181973.
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), GW 1, Tübingen 61990.
Geck, Ludwig H. A.: Das Aufkommen des Wortes ‚sozial‘ im Deutschen, in: Muttersprache 71 (1961), S. 294-308.
Geck, Ludwig H. A.: Über das Eindringen des Wortes ‚sozial‘ in die deutsche Sprache, Göttingen 1963.
Gilbert, Margaret: On Social Facts, London/New York 1989.
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns (1981), 2 Bde., Frankfurt a. M. 41995.
Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, New York 1966.
Quinton, Anthony: Social Objects, in: Proceedings of the Aristotelian Society 75 (1975), S. 1-27.
Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, London 1949.
Searle, John R.: The Construction of Social Reality, New York 1995.
Searle, John R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, Oxford 2010.
Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908.
Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 21977.
Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), in: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980, S. 1-30.
Zimmermann, Waldemar: Das ‚Soziale‘ im geschichtlichen Sinn- und Begriffswandel, in: Geck, Ludwig H. A./Kempski, Jürgen von/Meuter, Hanna (Hg.): Studien zur Soziologie, Bd. 1, Mainz 1948, S. 173-191.