Die Corona-Krise hat uns die Grenzen der alltäglichen Interaktion wie nur wenige Ereignisse der Vergangenheit vor Augen geführt. Ausfälle, Ausgehverbote und Quarantäne beschränken unsere Handlungsfreiheit zunehmend. Weniger in den Blick ist hingegen die Tatsache gerückt, dass diese Krise uns neue Dimensionen eröffnet hat. Not macht erfinderisch. Die Corona-Krise ist zum Katalysator einer neuen Entwicklung geworden — einer Entwicklung der virtuellen Realität. Gemeint sind damit nicht bloße Simulationen von alltäglichen Handlungsformen. Virtuelle Realitäten sind genauso verbindlich wie es jene nicht-virtuelle Realitäten sind, nach denen wir uns in der Krise vergeblich zurücksehnen. Virtuelle Realitäten existieren unabhängig von räumlichen Begrenzungen. Dadurch stellen sie gerade eine neue Form von Freiheit dar. Wir erzeugen virtuelle Realitäten dann, wenn wir gezwungen sind, Vertrautes aufzugeben und auf neue, andere Weise zu versuchen. Deshalb sollten wir Virtualität und Realität nicht gegeneinander ausspielen. Vielmehr sollten wir Virtualität als eine neue Form von Realität verstehen, die seit der Corona-Krise immer mehr Teil unserer Lebenswelt wird.
Realitäten können demnach auf eigentliche oder auf uneigentliche (d.h. virtuelle) Weise bestehen. Die bloße Simulation hingegen hat insofern keinen realen Gehalt, als sie die Realität unter Absehung bestimmter Merkmale nur modelliert und partiell – strukturanalog – simplifiziert. Virtuelle Realitäten sind jedoch genau so komplex, wie es physikalische Realitäten sind. Das „Oxford Handbook of Virtuality“ bemerkt dazu: „Currently, there is widespread ontological confusion about virtual reality and its relation to the real world, which contributes to a flawed understanding of virtual reality and its potential.“ (Brey 2014, 43) Diese „Konfusion“ rührt daher, dass wir nicht umhin können, virtuellen Gegenständen – wie sie etwa in Computerspielen vorkommen (Feige u.a. 2018) – eine gewisse Realität und Objektivität zuzugestehen, obwohl sie von der physikalischen Realität gänzlich verschieden sind: „Virtual objects do exist, they populate the virtual environments used by millions of users all over the world, and they are things we refer to and interact with.“ (Brey 2014, 43)
Virtuelle Realitäten lassen sich auf verschiedene Weise erzeugen. Die virtuelle Realität, von der hier die Rede ist, verdankt sich der Digitalisierung. Diese stellt jene Mittel zur Verfügung, die wir für die konsequente Entfaltung einer virtuellen Realität benötigen. In Anknüpfung an den Begriff der „Gutenberg-Galaxis“, den der kanadische Kulturwissenschaftler Marshall McLuhan in seinem gleichnamigen Buch 1962 geprägt hat, um den Paradigmenwechsel von der mündlichen zur schriftlichen Kommunikationsform zu bezeichnen, spricht der Schweizer Kulturwissenschaftler Felix Stalder davon, dass wir seit dem Jahr 2000 „eine neue kulturelle Konstellation“ vorfinden, welche durch die Bedingungen der Digitalisierung konstituiert sind (Stalder 2016, 11). Indem die Digitalisierung virtuelle Realität ermöglicht und so Teil unserer Lebenswelt wird, betreten wir den Raum der „Digitalität“. Der Oxforder Philosoph Luciano Floridi hat diesbezüglich folgende Frage aufgeworfen: „Gibt es eine verbindende Perspektive, aus der sich all diese Phänomene [scil. der Digitalisierung] als Aspekte eines einzigen makroskopischen Trends interpretieren lassen?“ (Floridi 2015, 7). Diese verbindende Perspektive ist die Virtualität.
Was ist der Unterschied zwischen Digitalität und Digitalisierung? Während die Digitalisierung das technische Phänomen der Umwandlung analoger in digitale Information betrifft, bezieht sich die Digitalität auf die lebensweltliche Bedeutung der Digitalisierung, und das heißt vor allem: auf virtuelle Realität. Die lebensweltliche Bedeutung der Digitalisierung liegt auf der Hand: Wir können digitale Daten unabhängig von Raum und Zeit konservieren und hypertextuell vernetzen. Wir können einerseits virtuelle Handlungen durch einen bloßen Mausklick vollziehen und unsere Identität dabei verschleiern. Anderseits hinterlassen wir nicht mehr löschbare Spuren im Internet. Nicht nur unser Realitätsbegriff, sondern auch unser Raum- und Zeitbegriff wird im Rahmen der Digitalität strapaziert.
Wenn die Aufgabe der Philosophie darin besteht, „[d]as was ist zu begreifen“, und wenn sie „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“, wie Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt (TWA VII, 26), dann müssen wir für die Digitalität neue Begriffe prägen. Mir scheinen sich dafür zwei Begriffe besonders anzubieten. Zum einen der Begriff der „Interobjektivität“, komplementär zum Begriff der „Intersubjektivität“. Denn virtuelle Realitäten und Objekte stehen in einem viel intimeren Verhältnis zueinander als es physikalische Objekte tun. Luciano Floridi hat in diesem Zusammenhang bereits den Begriff der „Infosphäre“ geprägt, der die ontologische Verwobenheit der Digitalität treffend bezeichnet, die durch eine Reibungslosigkeit und Supraleitfähigkeit der Beziehung ausgezeichnet ist (Floridi 2015, 65). Auch Raum und Zeit spielen im Bereich der digitalen virtuellen Realität eine andere Rolle als in der physikalischen Realität. Digitale Daten sind ortslos, von überall abrufbar, omnipräsent, unmittelbar, zum Greifen nahe. Mir scheint sich für dieses neuartige Phänomen der Begriff des „atopischen Präsentismus“ anzubieten.
Doch eröffnet uns die Digitalität nicht nur neue virtuelle Möglichkeiten, sondern stellt uns auch vor neue virtuelle Probleme. So erwächst aus der Orts- und Zeitlosigkeit virtueller Objekte die ethische Problematik, dass vergangene Ereignisse nicht vergehen. Das Internet vergisst nichts. Es gleicht einem gewaltigen kulturellen Gedächtnis, das alle Informationen durch seine Zeitlosigkeit nebeneinander abbildet. Scheinbar Disparates wird so mit einem Klick in Beziehung gesetzt und unser gewohnter Begriff von Kausalität verliert an Bedeutung. In diesem Zusammenhang hat die „Charta der Digitalen Grundrechte“ der Europäischen Union (www.digitalcharta.eu) in Artikel 18 ein „Recht auf Vergessenwerden“ gefordert: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitalen Neuanfang.“
Philip Specht, Autor des Buches „Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung“, schreibt, diese werde uns „mit der wohl größten zivilisatorischen Herausforderung konfrontieren, die es je zu bewältigen galt.“ (Specht 2018, 10) Es ist bemerkenswert, dass diese digitale Herausforderung gerade in dem Moment virulent wird, wo die Corona-Krise unsere gesamte Zivilisation bedroht. Wir sollten beide Herausforderungen annehmen und das Beste daraus machen: virtuelle Realitäten.
Literatur
Brey, Philip (2014): „The physical and social reality of virtual worlds“. In: Mark Grimshaw: The Oxford Handbook of Virtuality. Oxford.
Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union (www.digitalcharta.eu).
Feige, Daniel M./Ostritsch, Sebastian/Rautzenberg, Markus (Hg.) (2018): Philosophie des Computerspiels: Theorie – Praxis – Ästhetik. Suttgart.
Floridi, Luciano (2015): Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert. Berlin.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1820): Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Theorie Werkausgabe (TWA). Bd. 7. Frankfurt/M. 1986.
McLuhan, Marshall (1962): The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. London.
Specht, Philip (32018): Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Bitcoin, Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt. München.
Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin.