Aiyana Rosen hat vor zehn Jahren den Arbeitskreis für Human-Animal Studies, Chimaira, mitbegründet und arbeitet momentan an ihrer Dissertation, einer genealogischen Betrachtung von Mensch-Tier-Verhältnissen, an der Freien Universität Berlin. Wir sprechen mit ihr über Human-Animal Studies, den political turn der Tierethik und tierpolitischen Handlungsbedarf in Deutschland und der Schweiz.
Die Besonderheit des Menschen herauszukehren, ist philosophiegeschichtlich ein wiederkehrendes Motiv. Der Blickwinkel der Human-Animal Studies ist ein anderer. Warum?
Das Verständnis von Mensch und Tier als einem Gegensatzpaar, deren Seiten durch einen tiefen Graben voneinander getrennt sind, ist für die europäische Kultur und Geschichte zentral. In Europa, aber auch darüber hinaus, sind wir von dieser Vorstellung so sehr geprägt, dass es uns als selbstverständlich erscheint, uns selbst nicht als Tiere zu begreifen. Dieser Gegensatz hat auch die Philosophiegeschichte maßgeblich bestimmt. Vom Zwischenkiefer über den aufrechten Gang und die Fähigkeit zur Langeweile bis hin zur Sprache: Kaum etwas scheint es zu geben, das noch nicht herangezogen wurde, um die Sonderstellung des Menschen auf dieser Erde zu begründen.
Dabei konnten nicht nur die Evolutionstheorie, sondern auch neuere ethologische Forschung, etwa zum Werkzeuggebrauch von Krähen, zur komplexen Kommunikation von Walen und Delphinen oder zur Fähigkeit der Planung von Menschenaffen, aufzeigen, dass es keine empirische Grundlage dafür gibt, zwischen Menschen auf der einen und allen anderen Tieren auf der anderen Seite kategorisch zu unterscheiden. Wir Menschen sind den anderen Tieren in vielerlei Hinsicht ähnlich, vor allem den Säugetieren und hier vor allem den Primaten. Gleichzeitig unterscheiden wir uns natürlich auch auf vielfältigste Weise von ihnen. Sei es in besonderen Möglichkeiten der politischen Organisation oder der Kommunikation. Sei es in einem besonderen Potential zur Zerstörung, aber auch zur Veränderung. Das sind Besonderheiten, die zwar nicht für jeden einzelnen Menschen, aber für uns als Spezies kennzeichnend sind. Nur lassen sich solche charakteristischen Merkmale eben auch für andere Tierarten wie Mauersegler, Oktopusse, Ameisen oder Blauwale diagnostizieren, die ebenfalls ihre ganz eigenen Formen der Kommunikation, Intelligenz und sozialen Organisation haben. Gerade unsere Besonderheit teilen wir doch mit allen anderen Lebewesen, die diese Erde bevölkern. Dass wir Menschen uns stärker vom Gorilla unterscheiden als der Gorilla etwa von der Zwergwespe entbehrt daher jeglicher empirischer Grundlage. Auf die Illegitimität dieser Grenze zwischen Mensch und Tier, die durch einen tiefen Graben gekennzeichnet ist, und vor allem auch auf ihre Gewaltförmigkeit hat unter anderem Jacques Derrida eindrücklich hingewiesen.
Die Kritik an dem dichotomen Gegensatz zwischen Mensch und ‚Tier‘, die sich etwa in den Human-Animal Studies findet, schlägt sich auch auf der Begriffsebene nieder. Der Begriff „nichtmenschliche Tiere“ – oder auch „andere Tiere“ – wird hier verwendet und soll an der Selbstverständlichkeit dieses Gegensatzes rütteln. Der Begriff ersetzt also die Bezeichnung „Tiere“, die eben meist alle Tiere mit Ausnahme des Menschen meint. Allerdings ist der Begriff „nichtmenschliche Tiere“ auch nicht ideal. Er kann lediglich aufrütteln, ein Stolpern verursachen, zum Nachdenken anregen. Den Mensch-Tier-Dualismus vollständig auflösen kann er natürlich nicht. Auch mit diesem Begriff werden die anderen Tiere darüber definiert, was sie nicht sind, also über ihren Gegensatz zum Menschen. Den Begriff „andere Tiere“ finde ich daher eigentlich noch schöner. Andere Tiere als ich, der*die ich auch ein Tier bin…
Die Tierethik als philosophische Teildisziplin gibt es doch schon lange. Die Human-Animal Studies sind noch recht jung. Besteht denn überhaupt eine Notwendigkeit für dieses neue Forschungsfeld?
Es wäre schön, wenn es die Human-Animal Studies nicht bräuchte. Denn dass dieses Forschungsfeld gebraucht wird, lässt sich nur mit einem Mangel in den anderen Disziplinen erklären, ähnlich wie es ja auch bei den Gender Studies der Fall ist. Mit Ausnahme der Philosophie haben die Geistes- und Sozialwissenschaften noch bis vor Kurzem Mensch-Tier-Verhältnisse weitestgehend außer Acht gelassen. Insbesondere Forschung, die andere Tiere mit einbezog, ohne diese zu verdinglichen oder als Ressourcen für den Menschen zu instrumentalisieren, gab es kaum.
Mich freut es sehr, dass sich das in manchen Bereichen mittlerweile ändert. Der Mainstream bleibt bislang sicher weitestgehend unberührt, aber an den Rändern schleichen sich die ‚anderen Tiere‘ in die Disziplinen ein und verweisen auf komplexe Verhältnisse, die verhandelt und verändert werden müssen. Dazu tragen in großen Teilen Forscher*innen bei, die sich als Vertreter*innen der Human-Animal Studies begreifen und Themen wie die landwirtschaftliche Tierhaltung, die Verwobenheit verschiedener Diskriminierungsverhältnisse, Tierrechte oder die Bedeutung nichtmenschlicher Tiere für unsere gemeinsame und verflochtene Geschichte in ihre jeweiligen Disziplinen einbringen.
Die Tierethik kann hingegen mittlerweile auf eine längere Geschichte zurückblicken. Aber auch hier gibt es Veränderungen, die ich nur begrüßen kann. Durch den political turn der Tierethik der letzten Jahre beginnt mittlerweile auch die Politische Philosophie sich diesen Debatten zu stellen. Donaldson und Kymlickas „Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights“ hat vor einigen Jahren hohe Wellen geschlagen. Nun erschien vor ein paar Tagen das Buch „Politische Philosophie der Tierrechte“ des Berliner Professors für Politische Philosophie Bernd Ladwig. Diese Neuerscheinung kann die Debatte hoffentlich noch weiter voranbringen.
Zu den Debatten über Mensch-Tier-Verhältnisse in verschiedensten Disziplinen konnte ja sicher auch Ihr Arbeitskreis mit Publikationen und Veranstaltungen einen Beitrag leisten. Was motiviert Sie denn, in diesem Bereich zu forschen und sich dort zu engagieren?
Mich motiviert es, die unsäglichen Verhältnisse, in denen wir mit anderen Tieren leben, aber auch mit dem, was wir ‚Natur‘ nennen, zu hinterfragen. Und ich hoffe auch, dazu beitragen zu können, diese Verhältnisse eines Tages tiefgreifend zu verändern.
Dass eine solche Veränderung dringend notwendig ist, zeigen uns nicht nur die Lebensbedingungen, die Tiere in den tierindustriellen Anlagen zu erleiden haben. Auch der Klimawandel oder die Gefahr von Pandemien, die wir im Moment sehr eindrücklich zu spüren bekommen, stellen Bereiche dar, die eng mit Fragen der Mensch-Tier-Verhältnisse verbunden sind. Und deren Lösung eine radikale Veränderung dieser Verhältnisse erfordert. So ist es etwa keineswegs unwahrscheinlich, dass die multiresistenten Keime, die hauptsächlich in der Intensivtierhaltung entstehen, die nächste große Gesundheitskrise auslösen werden. Und wie eng der Klimawandel etwa mit der Nutztierhaltung verbunden ist, die einen enormen CO2- und Methan-Fußabdruck hat, wissen wir eigentlich alle. Leider gerät die notwendige Agrarwende aber in den Debatten um Klimapolitik allzu oft aus dem Blickfeld.
Das sind ja alles sehr praktische und auch politisch zu lösende Probleme, denen wir uns gegenübersehen. Wenn Sie mal die Frage nach den Tierrechten fokussieren, wo sehen Sie dann den dringendsten Handlungsbedarf?
Die Versäumnisse sind so umfassend, dass es mir schwerfällt, auf diese Frage eine klare Antwort zu geben. Einer von vielen Bereichen, in dem ein enormer Bedarf besteht, die politischen Bestimmungen zu verändern, ist sicherlich die Haltung von Tieren in der Landwirtschaft. In Deutschland legitimiert die Tierschutzgesetzgebung Verhältnisse, bei denen die Bodenhaltung von mehreren hunderttausend Hühnern bei einem Platzangebot von 9 Hennen pro m2 die Norm darstellt. Auch die Haltung von Säuen in fast vollständiger Bewegungsunfähigkeit mehrere Monate im Jahr – zunächst in Kastenständen und später dann in sogenannten Abferkelbuchten – ist übliche und gesetzeskonforme Praxis. Auch in der Schweiz sind die Verhältnisse kaum besser. Zwar hat die Schweiz das strengste Tierschutzgesetz der Welt, jedoch sagt dies tatsächlich mehr darüber aus, wie die Rechte von empfindungsfähigen Lebewesen weltweit mit Füßen getreten werden. Denn auch in der Schweiz leben über eine halbe Million Schweine auf engstem Raum ohne jemals Tageslicht zu sehen. Das ist gesetzeskonforme Praxis. Zusätzlich zur unzureichenden Gesetzgebung kommt jedoch noch das Problem, dass die ohnehin schon mangelhaften Bestimmungen kaum überprüft werden, Veterinärämter wegschauen, ein ganzes System daran beteiligt ist, Verstöße gegen das Tierschutzgesetz zu ignorieren und zu verschleiern. In Deutschland haben wir die Situation, dass beinahe alle Anklagen gegen Nutztierhalter*innen im Sande verlaufen, selbst wenn einwandfreies Beweismaterial gegen diese vorliegt. Und auch in der Schweiz tauchen immer wieder erschreckende Videos auf, die grauenhafte Verhältnisse in Tierhaltungsanlagen aufzeigen. Und dabei handelt es sich um weit mehr als nur um Einzelfälle. Hier sind also zwei Aspekte Teil des Problems: die unzureichende Ahndung von Verstößen gegen das Tierschutzgesetz, aber auch die vollkommen unzureichenden Gesetze selbst.
Ein weiterer Bereich, in dem dringend auf eine Veränderung hingearbeitet werden muss, sind die Agrarsubventionen. In der Schweiz und in der EU fließen diese bislang vor allem an flächenstarke, intensiv wirtschaftende Betriebe, die nicht nur Tiere auf krasseste Weise ausbeuten, sondern deren Wirtschaftsweise auch die Lebensgrundlagen dieses Planeten zerstört. Momentan ist die Situation so, dass sich viele Höfe – bzw. tierindustrielle Anlagen –, um zu überleben, vergrößern und weiter industrialisieren müssen. Hier muss entgegengesteuert werden. Wir brauchen Anreize für mehr Ökologie, mehr Vielfalt, mehr Pflanzenkost – und diese müssen auch finanzieller Natur sein. Dass die Politik hier vielfach mit dem Finger auf die Verbraucher*innen zeigt, ist daher Augenwischerei. Denn parallel fördert sie aus ökonomischen Gründen die Produktion von Billig-Produkten. Für den deutschen Kontext kommt noch hinzu, dass Deutschland mittlerweile auch im Bereich der Landwirtschaft eine Export-Nation ist. Ändert sich also der Konsum, nicht aber die Politik, würde sich der Export-Anteil einfach entsprechend vergrößern. In der Schweiz ist die Situation etwas anders. Bezogen auf Tierprodukte gibt es lediglich bei Milchprodukten einen Export-Überschuss, der aber nicht sehr hoch ausfällt. Insgesamt ist es sicherlich wichtig und notwendig, den individuellen Konsum zu verändern. Auch wenn es sicher kaum jemandem leicht fällt, liebgewonnene Gewohnheiten aufzugeben. Dennoch darf die Kritik an dieser Stelle eben nicht aufhören. Auch über den individuellen Konsum hinaus müssen wir als Gesellschaft klar machen, dass das System sich ändern muss und dass wir die derzeit bestehenden Verhältnisse so nicht mehr hinnehmen werden.
Ihrer Ansicht nach müssen wir die Tierhaltung und die Agrarpolitik also radikal überdenken. Eine Frage habe ich noch zu den aktuellen politischen Tierrechtsdebatten. Dort geht es darum, wie die Interessen und Bedürfnisse von Tieren in den politischen Prozess eingebracht werden könnten. Aber es gibt im Moment erheblichen Dissens darüber, was eine Tierart jeweils braucht. Die Tiere zu ihren Bedürfnissen befragen können wir nicht. Wie gehen Sie mit dieser Schwierigkeit um?
Als fühlende Lebewesen mit einem Interesse an Leben und Wohlergehen teilen wir einen großen Erfahrungshorizont mit nichtmenschlichen Tieren. Diesen anzuerkennen und auf Basis dieser Gemeinsamkeiten genauer hinzuschauen und hinzuhören, eröffnet uns Möglichkeiten der Verständigung und des Verständnisses. Manche Menschen haben sich auf diese Weise in unterschiedlichsten Kontexten eine beeindruckende Kenntnis anderer Spezies erarbeitet. Man denke nur an Jane Goodall, die jahrzehntelang in einem Nationalpark in Tansania Schimpansen beobachtete.
Dennoch wird unsere Perspektive immer eine menschliche sein. Und ganz auflösen lässt sich diese Schwierigkeit daher sicher nicht. Allerdings sind wir auch in anderen Situationen mit einem zumindest ähnlichen Problem konfrontiert. Etwa wenn wir uns für die Rechte von Menschen einsetzen, die wir zu ihren Bedürfnissen und Wünschen nicht befragen können, etwa Menschen mit sehr starken Behinderungen.
Das Problem liegt meines Erachtens allerdings woanders. Stellen wir uns einmal vor, wir würden die Menschen, die von der Sklaverei profitieren, zu den Bedürfnissen der Sklav*innen befragen. Könnten wir mit belastbaren, neutralen Ergebnissen rechnen? Eine vergleichbare Situation haben wir im Moment jedoch in Bezug auf nichtmenschliche Tiere. Die Tierschutzgesetze werden maßgeblich von der Agrarlobby mitbestimmt; ethologische Forschung zu Kühen oder Schweinen wird an Agrarinstituten durchgeführt, für die die Erwirtschaftung von Gewinnen mit den Tieren eine zentrale Grundlage ihres Selbstverständnisses darstellt. Dass da Interessenskonflikte bestehen, ist unvermeidbar. Diese Verhältnisse führen dann dazu, dass etwa die Haltung in dunklen Ställen mit Spaltenböden zu „Tierwohl“ umdeklariert wird – wie es zumindest in Deutschland mit dem neuen „Tierwohl-Label“ derzeit der Fall ist – oder eine Haltungsform als „artgerecht“ bezeichnet wird, weil es einen kleinen Außenbereich gibt, der angesichts der Masse an gehaltenen Tieren für die meisten Tiere gar nicht erreichbar ist. Hier geht es aber darum, Produkte zu verkaufen, indem man den Konsument*innen ein reineres Gewissen verspricht. Von tiefstem Herzen glauben, dass solche Haltungsformen für die Tiere gut sind, tut sicher kaum jemand.
Wenn dann Tierschutzorganisationen oder unabhängige Institute und Wissenschaftler*innen zu anderen Ergebnissen kommen, was die Interessen und Bedürfnisse nichtmenschlicher Tiere angeht, entsteht natürlich der Eindruck, als gäbe es ernstzunehmende Differenzen darüber, was die Bedürfnisse bestimmter Tierarten seien. Zwar wird es in Detailfragen sicher immer Diskussionen geben, die dann eben zu führen und auszuhalten sind. Ich bin aber überzeugt, wenn man denjenigen die Beantwortung der Frage nach den tierlichen Bedürfnissen überlassen würde, die nicht von der Ausbeutung dieser Tiere profitieren, dann bestünde in den grundlegenden Fragen sicher weitestgehende Einigkeit.
Wie diese Bedürfnisse und Interessen dann in den politischen Prozess einfließen könnten, dazu gibt es verschiedene Konzepte und Ideen, etwa Konzepte der politischen Repräsentation. Wir bräuchten also eine Erweiterung politischer Prozesse, aber auch neue Richtlinien und Grundlagen der Interessensabwägung. Es dürfen dann eben nicht mehr in fast allen Fällen die menschlichen Interessen – und seien sie noch so trivial – höher gewertet werden als grundlegende Interessen nichtmenschlicher Tiere, wie etwa deren Interesse an Leben und körperlicher Unversehrtheit.