Dieser Artikel ist zuerst auf dem Philosophie-Blog "prae|faktisch" erschienen.
Vor einiger Zeit habe ich eine Tagung zum Thema Tierethik organisiert. Die internationalen Referent*innen brachten sehr unterschiedliche normative Positionen ein und egal aus welcher Perspektive wir die vielfältigen Mensch-Tier-Beziehungen reflektierten, das Ergebnis war immer, dass unser menschliches Verhalten überall grob defizitär ist. Die Stimmung, die diese Erkenntnis mit sich gebracht hatte, war bedrückend und nicht jedem gelang es, mit der Spannung zwischen den gemeinsam erarbeiteten und für angemessen erachteten ethischen Imperativen und der eigenen Praxis umzugehen.
„Das Schlimme ist“, hörte man nach einer längeren Stille aus dem Publikum, „dass diese Tierrechtsaktivisten so extrem sind. Stellen Sie sich vor, in meiner Heimatstadt wurde bei einer Demo sogar einmal mit einem Stein das Fenster von einem Schlachthaus eingeschlagen.“
Einen Moment zögerten die Referent*innen zu antworten, dann reagierte unser kanadischer Gast auf seine stille und besonnene Art. „Natürlich ist es nicht gut, Steine gegen Fenster zu werfen“, meinte er, „aber als Gesellschaft sollten wir uns meiner Meinung nach weniger um ein zerbrochenes Fenster Sorgen machen, als um das, was sich hinter diesem Fenster ereignet.“
Eine zweite Momentaufnahme: Im Zuge einer Sommerakademie werden die Dozent*innen gebeten, die Abende mit Filmen und Vorträgen zu gestalten. Mein Partner und ich schlagen den Film „Dominion“ vor, was ohne Rückfragen akzeptiert wird. Im Anschluss an den Filmabend zeigen sich manche Kolleg*innen aber empört über die emotionalisierende Art, wie die Filmemacher den grausamen Alltag in Mast- und Schlachtbetrieben eingefangen haben. Das Problem, das dringenden Diskussionsbedarf zu erzeugen scheint, ist nicht, wie die Tiere, deren Fleisch auf unseren Tellern landet, jeglicher Lebensqualität beraubt, gequält und getötet werden, sondern: Ist es angemessen, die Studierenden mit einem derart brutalen Film zu konfrontieren.
In diesen und vielen anderen Situationen findet eine eigenartige Verschiebung des moralischen Fragebedarfs statt. Wer auf Unrecht aufmerksam machen will, wird als kognitiv und charakterlich defizitär dargestellt oder gar ins kriminelle Eck gerückt. Das war interessanter Weise schon immer so. Zwar nicht unbedingt in Zusammenhang mit der Tierrechtsbewegung, denn die ist noch eher jung oder zumindest verhältnismäßig jung, lässt man Peter Singers „Animal Liberation“ aus dem Jahr 1975 als ihr Gründungsmanifest gelten. Nein, die Parallelen lassen sich zu anderen emanzipatorischen Bewegungen ziehen, namentlich dem Kampf gegen die Sklaverei und der Emanzipation der Frauen.
In beiden Fällen wurden diejenigen, die ein Ende des Unrechts forderten – das die Sklaverei den Sklaven und das Patriarchat den Frauen antaten, indem ihnen elementare Rechte vorenthalten wurden –, für unverständig, unmoralisch, verrückt oder kriminell erklärt. Die Literatur aus dieser Zeit ist voll von beeindruckenden Zeugnissen, manchmal ließen sich die Texte – wollte man nur die jeweils genannten Akteure austauschen – eins zu eins in die Gegenwart übertragen.
Eine zweite Parallele besteht darin, dass die Frage nach dem richtigen Umgang mit Sklaven, Frauen und Tieren zu einer Frage des persönlichen Geschmacks degradiert wurde bzw. wird, nicht weit entfernt von Fragen, ob ich zu meiner Pizza lieber Wein oder Bier trinke.
Die Argumentation ist immer die gleiche: Wie ich meine Sklaven behandle, ist meine Sache. Wie ich meine Frau behandle, ist meine Sache. Wie ich (meine) Tiere behandle, bzw. welcher Behandlung von Tieren ich durch mein Kauf- und Konsumverhalten zustimme, ist meine Sache. Weil wir tolerant sind, akzeptieren wir Vegetarier in unserer Mitte und sogar die leider so extremen Veganer. Ähnlich tolerant gaben sich vermutlich auch diejenigen, die persönlich nichts gegen die Verfechter der Emanzipation der Frau und die Gegner der Sklaverei hatten, schließlich war es ja deren persönliche Meinung, eine Frage des Geschmacks – wie schon gesagt. Und so wie man in der gegenwärtigen Debatte immer wieder hört, es gäbe eine Reihe von Betrieben, die ihr Schlachtvieh anständig behandeln, gab es natürlich auch damals einige Männer die ihre Frauen anständig behandelten, ihre Meinung respektierten und einen wertschätzenden Umgang pflegten. Und es gab bestimmt auch einige Sklavenhalter, die ihre Sklaven anständig behandelten, sie nicht schlugen und sich nicht zu Tode schuften ließen. Ja, so konnte man gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder lesen, vielen Sklaven ging es bei ihrem Herren so gut, dass sie gar nicht frei sein, die Plantage nicht verlassen wollten.
Allein, das ist nicht der (relevante) Punkt. Entscheidend ist vielmehr, dass Menschen – Sklaven und/oder Frauen – ohne Angabe guter Gründe elementare Rechte, wir nennen sie Menschenrechte, abgesprochen wurden. Im Lauf der Diskurse und Auseinandersetzungen hat man sich schließlich darauf geeinigt, dass das nicht legitim ist. Und man hat sich darauf geeinigt, dass der Umgang mit anderen Menschen, mögen sie noch so ohnmächtig und ihre Stimmen noch so unterrepräsentiert sein, eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist. Wie Menschenrechte in einer Gesellschaft umgesetzt werden, ist eben keine Frage des Geschmacks. Wie Menschenrechte in einer Gesellschaft umgesetzt werden, macht diese Gesellschaft als Ganze besser, gerechter, fortschrittlicher. Dasselbe gilt für den menschlichen Umgang mit (nichtmenschlichen) Tieren. Wie wir sie behandeln, ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sagt etwas über die Qualität unsere Gesellschaft aus. Ihnen elementare Rechte – wie das Recht, nicht gequält oder getötet zu werden – abzusprechen, ist nicht nur nicht legitim, es ist ein Unrecht, das die Generationen nach uns – so bleibt zu hoffen – klarer als solches sehen werden. Rückblickend werden sie sich dann wohl auch über unsere Blindheit, Kälte und Gleichgültigkeit wundern, so wie wir das heute tun, wenn wir uns im gemütlichen Lehnstuhl des Gerechten historische Berichte über die Sklaverei zu Gemüte führen.