Ein Beitrag von Andreas Bartels

Wissenschafts-Vertrauen als Herausforderung

Sich an der Wissenschaft zu orientieren, ist kein triviales Vorhaben. Voraussetzung dafür ist ein Grundverständnis des Funktionierens von Wissenschaft.

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    Die Wissenschaft steht unter dem Druck von Corona-Pandemie und Klimakrise stärker denn je im Fokus der Öffentlichkeit. Warnungen aus der Wissenschaft vor einer drohenden irreversiblen Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, die schon seit Jahrzehnten kursieren, sind endlich in der Gesellschaft angekommen. Gleichzeitig rücken damit aber auch – sonst im ‚Elfenbeinturm‘ verborgene – Kontroversen der Wissenschaft ins Blickfeld; frühere Erkenntnisse werden durch neue überholt, und auf viele Fragen gibt es nur vorläufige und mit Unsicherheit behaftete Antworten. Dies trägt zur Verunsicherung über den Wert der Wissenschaft bei und löst die Frage aus: Wie kann die Wissenschaft als Ratgeberin der Gesellschaft fungieren, wenn sie selbst unsicher ist? Die neue öffentliche Rolle der Wissenschaft wird von vielen Menschen mit Skepsis betrachtet, von einigen auch mit dezidierter Ablehnung bis hin zur Wissenschaftsfeindschaft. Dies zeigt: Der Wissenschaft zu vertrauen und sich an ihr zu orientieren ist kein triviales Vorhaben: Voraussetzung unseres Vertrauens ist ein Grundverständnis des Funktionierens von Wissenschaft.

    Ein immer noch weit verbreitetes Missverständnis von Wissenschaft besteht in der Annahme, Wissenschaft liefere sichere, ein für alle Mal gültige Erkenntnis. Wer meint, der Vorzug wissenschaftlichen Wissens gegenüber dem Alltagswissen beruhe gerade darauf, Gewissheit zu vermitteln, kann aber leicht enttäuscht werden. Denn er macht die Erfahrung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse häufig umgeworfen und durch neue ersetzt werden, dass selbst wissenschaftliche ExpertInnen untereinander darüber streiten, was erwiesen ist oder eben nicht: Wenn es für sie keine Beweise gibt, wie soll man den Aussagen der Wissenschaft dann vertrauen?

    Gewissheit zu vermitteln – daran führt kein Weg vorbei – ist kein Merkmal der Wissenschaft. Alltagserkenntnisse sind häufig ‚sicherer‘ und haltbarer als wissenschaftliche Erkenntnisse. Unsere gewöhnliche, an den Sinnen orientierte Erfahrung über den Wechsel der Jahreszeiten, über Gefahren im Straßenverkehr oder darüber, welche Nahrungsmittel uns guttun und welche nicht, liefert in der Regel relativ zuverlässige und selten revisionsbedürftige Erkenntnis.

    Wissenschaft dagegen benötigen wir, um Tatsachen zu entdecken, die der gewöhnlichen Erfahrung unzugänglich sind, z.B. Tatsachen darüber, welche Faktoren zur Verbreitung einer Pandemie beitragen oder was für das Abschmelzen der polaren Eiskappen verantwortlich ist. Die Tatsachen, die durch Wissenschaft entdeckt werden sollen, müssen erschlossen werden – sie liegen nicht so einfach zutage. Wissenschaftliche Tatsachen sollen uns Erklärungen für Phänomene unserer Erfahrung liefern – und dadurch zugleich Mittel an die Hand geben, diese Phänomene nach unseren Zielen zu beeinflussen oder zu verändern. So können wir z.B. die Corona-Pandemie nicht ‚in den Griff‘ bekommen, ohne die Faktoren zu ermitteln, von denen ihre Verbreitung abhängt.

    Wenn es um die Erklärung neuer Phänomene geht, sind die Annahmen der Wissenschaft niemals ‚sicher‘. Es gibt immer zu viele grundsätzlich möglich erscheinende Erklärungen für ein Phänomen – aus den vorhandenen Daten können in der Regel keine eindeutigen Schlüsse gezogen werden. Die Konkurrenz der WissenschaftlerInnen sorgt dafür, dass verschiedene mögliche Erklärungen erprobt werden. Weshalb gibt es dennoch guten Grund, der Wissenschaft zu vertrauen? Die Antwort ist: Gerade, weil es eine Vielfalt wissenschaftlicher Ansätze gibt. Wissenschaftliche Kontroversen sind nicht schädlich, sondern produktiv, wenn Neues entdeckt werden soll – sie sorgen u.a. dafür, dass vorgefasste Meinungen immer wieder der Kritik ausgesetzt sind. Für alle Annahmen der Wissenschaft gilt das Prinzip strenger Überprüfung: Gibt es für die Wahrheit der Annahme ausreichende Indizien – über das Phänomen hinaus, das man mit ihr erklären möchte? Erklärt sie dieses Phänomen wirklich? Und erklärt sie es besser als jede andere verfügbare Alternative – z.B., weil sie alle Tatsachen, die mit dem Phänomen verbunden sind, präziser vorhersagt als jede andere Annahme?

    So wurde beispielsweise in der Anfangszeit der Corona-Pandemie heftig über die Erklärung des Phänomens gestritten, dass Corona-Infektionen bei Schulkindern in viel geringerem Maß festgestellt wurden als bei Erwachsenen. Daraus wurde von manchen der Schluss gezogen, Kinder seien viel weniger empfänglich für das Virus. Aber dieser Schluss aus den Daten erwies sich als irreführend. Es stellte sich heraus, dass es eine viel einfachere Erklärung für das Phänomen gibt: Die Daten der getesteten Schulkinder stammten aus einer Zeit, in der aufgrund von Schulferien der Kontakt unter den Kindern reduziert war und deshalb ein wesentlicher Faktor für die Verbreitung des Virus ausfiel.

    Gute wissenschaftliche Studien zeichnen sich dadurch aus, dass sie möglichen Alternativerklärungen nachgehen. Was eine Studie belegen soll, kann nur glaubwürdig sein, wenn Alternativerklärungen möglichst überzeugend ausgeschlossen worden sind. Wichtig ist auch, mögliche Verfälschungen der Ausgangsdaten aufzuspüren (die z.B. durch Auswahl von nicht repräsentativen Testgruppen zustande kommen). Die häufig schon während der Arbeit an einer Studie einsetzende Kritik aus der scientific community sorgt dafür, weitere Schwachstellen zu beseitigen. Kurz: Die systematischen Überprüfungs-Verfahren der Wissenschaft garantieren zwar keine sichere Erkenntnis, sorgen aber dafür – so gut es eben geht – Irrtümer und Fehler zu eliminieren. Wissenschaftliche Meinungsvielfalt ist kein Grund für mangelndes Vertrauen in Wissenschaft – im Gegenteil: Erst das genaue Ausleuchten aller denkbaren Wege – und die Elimination der unbrauchbaren unter ihnen – schafft Verlässlichkeit: Glaubwürdigkeit nach Menschenmaß.

    Was bedeutet dies alles für das Vorhaben, sich an der Wissenschaft zu orientieren? Erstens bedeutet es, dass blindes Vertrauen in ‚die Wissenschaft‘ nicht zielführend ist. Es gibt wissenschaftliche Studien besserer oder schlechterer Qualität, kompetente oder weniger kompetente WissenschaftlerInnen, wenn es um spezifische Fragen geht. Der Laie sollte sich vor allem an Aussagen orientieren, die von ExpertInnen der speziellen Fachdisziplin stammen, die selbst auf diesem Gebiet forschen – ob dies der Fall ist, kann man in Zeiten des Internets auch als Laie an den entsprechenden Publikationslisten feststellen (vgl. Grundmann 2020). Die enorme Spezialisierung innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen hat zur Folge, dass z.B. nicht jeder Mediziner kompetent in virologischen Fragen und nicht jede kompetente Virologin zugleich Expertin für die Beurteilung von Impfstoffen ist. Im Übrigen spricht es immer für die Glaubwürdigkeit von Experten, wenn sie die Grenzen ihrer Expertise selbst benennen.

    Es bedeutet zweitens, sich nicht ausschließlich auf Forschungsergebnisse der Wissenschaft zu verlassen – so, als repräsentierten sie felsenfeste, für immer gültige Wahrheiten – es ist stattdessen wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, wie diese Forschungsergebnisse zustande gekommen sind. Deswegen setzt Wissenschafts-Orientierung Mitdenken voraus – soweit es eben möglich ist. Zwar gibt es in jeder wissenschaftlichen Disziplin Lehrbuchwissen, das kaum noch umstritten ist. Aber wenn es um die Erforschung neuer Phänomene geht, kommt der Konsument von Wissenschaft nicht darum herum, Argumente von WissenschaftlerInnen kritisch zu wägen, mit denen bestimmte Forschungsergebnisse begründet werden: Worauf stützen die jeweiligen WissenschaftlerInnen ihre Behauptungen? Sind diese Ergebnisse durch ausreichend viele Studien (möglichst international) bestätigt? Besitzt das vermeintliche Resultat nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegenüber anderen möglichen Interpretationen? Ist ein Resultat numerisch präzise, oder gibt es nur Tendenzen wieder? Eine kritische Haltung gegenüber Resultaten der Wissenschaft ist nicht mit grundsätzlicher Wissenschafts-Skepsis zu verwechseln. Aber ‚unbedingter‘ Glaube an die Wissenschaft ist genauso unangebracht wie generelle Wissenschafts-Skepsis.

    Und es bedeutet drittens, den Unterschied zwischen Forschungsergebnissen und Handlungsempfehlungen durch Wissenschaftlerinnen oder wissenschaftliche Institutionen zu beachten. Konkrete politische Maßnahmen wie etwa die gegenwärtig diskutierten 2G- oder 3G-Regeln für die Teilnahme am öffentlichen Leben können und müssen zwar wissenschaftlich begleitet und kommentiert werden – weil nur mithilfe wissenschaftlicher Expertise ihre Wirksamkeit eingeschätzt werden kann. Aber grundsätzlich gilt, dass solche Empfehlungen über die wissenschaftliche Expertise hinaus von weiteren praktischen Einschätzungen und Urteilen, manchmal auch von ethischen Urteilen abhängen. In gerade akuten Thematiken wie der Klimakrise mögen diese außer-wissenschaftlichen Prämissen zwar trivial erscheinen – kaum jemand wird die Prämisse in Frage stellen, dass gravierende klimatische Veränderungen auf dem Planeten, die das Überleben der Menschheit gefährden, verhindert werden müssen. Aber in anderen Fällen ist die allgemeine Übereinstimmung vielleicht nicht so groß, wie etwa hinsichtlich von Einschätzungen darüber, welche gesellschaftlichen Werte vorrangig oder welche Risiken akzeptabel sind. In solchen Fällen sollten WissenschaftlerInnen darauf achten, dass sie ihre Handlungsempfehlungen in konditionierter Form bzw. in Form von ceteris paribus-Aussagen geben, z.B. „Unter der Voraussetzung, dass wir diesen Wert für vorrangig halten und jene Risiken nicht eingehen wollen, sollten wir so und so verfahren“, bzw., „Wenn wir von den und den sozialen Folgen absehen, wäre aus wissenschaftlicher Sicht diese Maßnahme zielführend“ (vgl. Schurz 2013). Dies eröffnet z.B. auch die Möglichkeit, die vorgeschlagene Maßnahme abzulehnen, weil man die Prämissen der konditionalen Aussage nicht akzeptiert bzw. die Faktoren, die in der ceteris paribus-Formulierung ‚ausgespart‘ werden, gerade für besonders relevant hält. Konkrete Handlungsempfehlungen aus dem Mund von WissenschaftlerInnen sind zwar legitim, aber anders zu beurteilen als Mitteilungen von Forschungsergebnissen. Vor allem muss immer ganz klar sein, was Ergebnis der Forschung und was Handlungsempfehlung ist.   

    Vertrauen in Wissenschaft ist gerechtfertigt und Orientierung an Wissenschaft nötig. Beides aber setzt Verständnis dafür voraus, wie Wissenschaft funktioniert. Die Wissenschaft ist kein Automat zur Produktion von Wahrheiten, aber Quelle für die beste verfügbare Information auch in Fragen unserer akuten Lebensinteressen.  

     


    Literaturhinweise:

     

    Andreas Bartels (2021): „Wissenschaft“, Grundthemen Philosophie, De Gruyter: Berlin.

     

    Thomas Grundmann (2020): „Wer verdient Vertrauen?“, FAZ.NET 3.4.2020.

     

    Thomas Grundmann (2020): „Mit Wikipedia durch die Corona-Kontroversen“, FAZ.NET 9.10.2020.

     

    Gerhard Schurz (2013): „Wertneutralität und hypothetische Werturteile in den Wissenschaften“, in: Gerhard Schurz/Martin Carrier (Hrsg.): Werte in den Wissenschaften, Suhrkamp: Frankfurt, 305-334.