Hellsichtiger Trost: Glauben, Wissen, Philosophieren

Der hellsichtige Trost, den wir uns von der Philosophie erträumen können, ist vielleicht, uns nicht als eines fixen Fundaments bedürftig misszuverstehen.

    «Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen  beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.»
    —  Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, Satz 6.52.

     

    Es schien lange so, als gehe es nicht mehr lange, bis wir alles wüssten. Wie viele wuchs ich im festen Glauben auf, dass die Menschheit kraft ihrer Rationalität sich selbst und ihre Umwelt immer besser verstehen würde. Ich dachte, das ‹Projekt Aufklärung› schreite unaufhörlich seiner Erfüllung entgegen. Doch plötzlich wurden wir Zeugen, wie überall Phänomene eines tiefen Irrationalismus aus dem Boden schiessen: Populistinnen entscheiden mit offensichtlich inkompetenten Kantidatinnen Wahlen für sich. Klimaleugnerinnen bezweifeln, was für mich selbstverständlich scheint. Verschwörungstheortiker gewinnen mit abstrusesten Geschichten Zulauf. Impfgegner und COVID-Skeptikerinnen lehnen wider die Erkenntnisse der Wissenschaft und die Gebote der Solidarität die von der Regierung getroffenen Massnahmen ab und vergleichen sich mit den Opfern der Nationalsozialisten. Warum hat das Projekt Aufklärung in diesen Fällen versagt? Ich kann mir das alles nicht erklären. Wenn ich mich in meinem Umfeld umhöre, so scheint es, als sei ich nicht der einzige, dem es so geht.

    Diese hobby-ethnologische Beobachtung ist zunächst einmal spannend an sich. Erstens lässt sich fragen, was dies denn über mich und mein Umfeld aussagt. Was bedeutet es, dass uns die Fähigkeit populäre politische Positionen im eigenen Land nachzuvollziehen völlig abgeht? Was sagt dies über meine ‘Bubble’ aus? Ist es nicht elitistisch und egozentrisch, Abweichungen von meinem politischen Standpunkt als «Versagen des Projektes Aufklärung» zu empfinden? Ich kann doch nicht allen Ernstes behaupten, dass meine politische Meinung das Mass des rationalen und aufgeklärten Denkens darstellt.[1]

    Zweitens stellt sich die Frage, was es für unsere Gesellschaften bedeutet, wenn sich rivalisierende Lager nicht mehr verstehen können. Wie können wir als Gesellschaft einen Konsens erreichen, wenn signifikante Teile der Gesellschaft sich gegenseitig als  «irrational» und «unverständlich» bezeichnen? Wie soll es möglich sein, einen deliberativen demokratischen Prozess zu gestalten, an dem sich maximal viele beteiligt fühlen, wenn wir uns nicht auf basale rationale Grundprinzipien (z.B. ein Vertrauen gegenüber der Wissenschaft) einigen können?[2]

    Diese Fragen sind zwar spannend, doch seien sie erst einmal dahingestellt. Ihnen zum Trotz möchte ich zur Ausgangsproblematik zurückkehren: Wie können wir diese Irrationalismen (Populismus, Verschwörungstheorien, Impfgegner, etc.) erklären? Hier ist ein äusserst spekulativer und vereinfachender Erklärungsversuch:

    Die «irrationalen» Phänomene der letzten Jahre sind Ausdruck einer Sehnsucht nach Gewissheit, die im 20. Jahrhundert abhanden gekommen ist. Hauptschuldige dafür ist die Wissenschaft. Die Wissenschaft hat die Religion abgelöst mit dem Versprechen, neue Gewissheiten zu schaffen. Dieses Versprechen konnte sie aber nicht einlösen. Wissenschaft kann nicht die Art von Sicherheit und existenziellem Gegenüber sein, wie es die Religion zuvor war. Die Konklusion eines wissenschaftlichen Papers kann unmöglich denselben Stellenwert einnehmen wie das «Amen» nach dem Gebet. Da sich mehr und mehr offenbart, dass es der Wissenschaft nicht zusteht, existentielle Grundbedürfnisse abzudecken, werden neue Gewissheiten gesucht und in den Versprechen der Populisten und den Narrativen der Verschwörungstheoretiker gefunden.

    Etwas mehr Detail.

    Es ist eine volkstümliche Weisheit, dass zu viel Zweifeln ungesund ist. Dem schliesst sich die moderne Psychiatrie an. Einige stellen sich derart viele Fragen und sind von Zweifeln so bedrängt, dass sie als von einer «Angststörung» oder «Zwangsgedanken» betroffen gelten.[3] Die Absenz von Gewissheit scheint unangenehm, verstörend und nimmt im Extremfall pathologisches Ausmass an. Ein tiefes Bedürfnis nach Gewissheiten und dem Abschalten des in-Frage-stellens scheint daher einen menschlichen Zug darzustellen.

    Eine religiöse Lebensweise hat zum Teil den Zweck, dieses Bedürfnis nach Gewissheit zu bedienen. So gibt es zum Beispiel in Gottesdiensten verschiedener Christlicher Konfessionen das sogenannte Credo. Dabei werden gewisse Glaubenssätze rezitiert und nachgesprochen. Man sagt Dinge wie «Ja, ich glaube an die Auferstehung» oder «Ja, ich glaube an den jüngsten Tag». Beendet wird dies alles mit einem «Amen». Dieses Amen macht deutlich: Hier ist kein Platz für Zweifel. An diesem Punkt kann der Zweifel abgebrochen werden. Man übergibt sich der Gewissheit. Dieser Aspekt des vertrauenden Glaubens scheint mir ein zentrales Element der religiösen Lebensweise zu sein, wie sie im 20. Jahrhundert immer mehr verdrängt wurde.

    Ein klein wenig Evidenz für diese Verdrängungsbewegung: Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert lautete eine weitverbreitete Hoffnung, dass die Wissenschaft das Leben der Menschen zum Besseren wenden würde. Schön veranschaulichen dies die Philosophen des Wiener-Kreises — eine Gruppe, aktiv in den 1910er und 20er Jahren, um die Denker Moritz Schlick (der von den Nazis ermordet wurde), Rudolf Carnap, Otto Neurath, Friedrich Waissmann, Carl Hempel (denen die Flucht gelang) und andere. In ihrem «Manifest» vertraten die Philosophen die Ansicht, dass die neuen Naturwissenschaften und die wissenschaftliche Philosophie, welche erstere begründen sollte, nicht nur die technischen, sondern auch die sozialen, politischen und sogar moralischen Probleme der Menschheit lösen werden.[4]

    Heute ist eine solche Ansicht als «Szientismus» bekannt, als eine verklärende und überhöhende Ansicht der Wissenschaft.[5] Während schon Zeitgenossen die Wiener-Kreisler dafür kritisierten (siehe das einleitende Wittgenstein Zitat) erfreut sich diese Ansicht—dass die Wissenschaft die meisten, wenn nicht alle, Probleme lösen kann—bis heute grosser Popularität. So sind zum Beispiel die Wirtschaftswissenschaften durchzogen von der die Idee des Ökonomen als Ingenieur unserer Gesellschaft, der durch wissenschaftliche Berechnungen herausfinden kann welche Wirtschaftspolitik die objektiv beste ist.[6] Auch in der Physik lassen sich solche Züge festmachen, träumte doch der verstorbene Stephen Hawking von einer «Theorie von Allem».[7] Letztlich scheint mir auch die gängige Ansicht, dass neue Innovationen unseren Planeten vor der Erderwärmung retten werden einen Hauch szientistischer Hoffnung in sich zu tragen.

    Dem Szientismus entgegen läuft einerseits eine kritische Geschichtsschreibung der Wissenschaften, wie auch grosse Teile der Wissenschaftskommunikation selbst. Betrachtet man die Geschichte der Wissenschaften mit nüchternem Blick, so wird klar dass Wissenschaft nie nur das Projekt Aufklärung war.[8] Die Science and Technology Studies haben gezeigt, dass die Wissensproduktion der Wissenschaft selbst immer historisch und politisch situiert ist.  Andererseits haben wir gerade in der COVID-19 Pandemie erlebt, wie nüchtern und trocken viele WissenschaftlerInnen kommunizieren. Die höchstmögliche Gewissheit findet durchaus manchmal ihren Ausdruck in «Wir haben keine Evidenz das Gegenteil anzunehmen». Dass ein solcher Satz nicht allen die Angst vor der Impfung nehmen kann, ist irgendwie klar. Wäre die Wissenschaft fähig zu sagen «Wir versprechen Ihnen, es wird (so Gott will) nichts passieren» so wäre es vielleicht anders. Dies kann sie aber nicht—zu Recht nicht.

    Meine Hypothese ist also die folgende: Wir haben ein tief sitzendes Bedürfnis nach Sicherheit und der Absenz von Zweifeln. Religionen konnten dieses Bedürfnis teilweise befriedigen. Zur Jahrhundertwende in Europa hat die Wissenschaft die Religion ein Stück weit abgelöst und sich damit diese Hoffnung nach Sicherheit aufgebürdet. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde offenbar, dass die Wissenschaft diese Erwartungen nicht erfüllen kann. Im beginnenden 21. Jahrhundert erleben wir nun wie nicht-wissenschaftliche, nicht-liberale Agenten diese unerfüllte Nachfrage bespielen.

    So viel zur spekulativen Erklärungen der gegenwärtigen «Irrationalismen». Angenommen dies träfe zu, wie weiter? Manch pessimistische Szenarien sind leider allzu leicht vorstellbar (e.g. eine Rückkehr zu dogmatischen Sicherheiten religiöser, nationalistischer, patriarchaler Natur, etc.). Eine hoffnungsvolle Erzählung hingegen könnte wie folgt lauten: Die «Zeit der Gewissheiten»[9] ist endgültig vorbei, ihr Ersatz unmöglich. Das bedeutet, wir müssen lernen mit Unsicherheit und Ambivalenz umzugehen. Wir müssen die Ungewissheit aushalten.[10] Und das heisst nichts anderes als philosophieren lernen.

    Dies mag überraschend scheinen, wurde doch Philosophie genau als der Versuch verstanden, die Wissenschaften, ein politisches System, ja das Menschsein überhaupt auf ein «sicheres Fundament»[11], eine Gewissheit zu stellen. Wird Philosophie so begriffen (was sie vielerorts ja tatsächlich wird) scheint sie aber ein besonders aussichtsloser Teil des wissenschaftlichen Projektes zu sein. Weder ist ihre Zunft fähig, sich auf etablierte Gewissheiten zu einigen, noch kümmern sich Wissenschaftlerinnen oder Politiker gross um die in der Philosophie generierten «Erkenntnisse».

    Seit der Antike hat es hat jedoch immer wieder Versuche gegeben, die Philosophie genau nicht als Lieferantin sicherer Fundamente zu verstehen, sondern als Lehre, wie mit dem Skeptizismus und der Abwesenheit von Gewissheiten umgegangen werden kann.[12] Insofern glaube ich, anders als der junge Wittgenstein, dass die Philosophie durchaus unsere Lebensprobleme berühren kann und auch soll. Die Wissenschaft allein ist nicht genug. Die Grenzen des wissenschaftlich Zeigbaren, das Bedürfnis nach Sicherheit und der Umgang mit Ungewissheit stellen uns vor existentielle Probleme, die sich in den verschiedensten Phänomenen des Alltags offenbaren. Der hellsichtige Trost, den wir uns erträumen können, ist daher der: Vielleicht kann uns die Philosophie davor bewahren, diese Phänomene als einem fixen Fundament bedürftig misszuverstehen.

     


    [1] Oder etwa doch? Sagt es vielleicht etwas über uns als denkende Wesen aus, dass wir dies tun? Der Solothurner Rapper Manillio meinte einmal «Jeder Rapper muss glauben, dass seine Rapcrew die beste aller Rapcrews ist. Sonst sollte er nicht bei seiner Rapcrew sein». Ich könnte mir gut vorstellen, dass etwas ähnliches auf unsere (politischen) Überzeugungen zutrifft.
    [2] Diese Idee, dass wir einen solch rationalen Grundkonsens brauchen ist in der politischen Theorie breit vertreten, siehe z.B. Jürgen Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. Für alternative Ansätze, siehe z.B. Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London: Verso, 2000; On the Political, London: Verso 2005. Es muss auch gefragt werden, inwiefern dies auf Staaten die bereits historisch starke kulturelle oder religiöser Fragmentierungen aufweisen zutrifft. Ich danke Yongjoon Youn für diese Differenzierung.
    [3] Graham Davey and Frances Meeten, “The perseverative worry bout: A review of cognitive, affective and motivational factors that contribute to worry perseveration”, Biological Psychology, 121: pp. 233–243, 2016; Jane Friedman, “Checking again”, Philosophical Issues, 29(1): pp. 84–96, 2019; Evan Taylor, “Discordant knowing: A puzzle about insight in obsessive–compulsive disorder”, Mind & Language, 2020.
    [4] Carnap, Rudolf, Hans Hahn and Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis, Wien: Wolf, 1929.
    [5] Für eine szientistische Position aus dem 19. Jahrhundert siehe William K. Clifford, “The ethics of belief”, in T. Madigan, (ed.), The ethics of belief and other essays, Amherst, MA: Prometheus, 1999 [1877]: pp. 70–96.
    [6] Siehe z.B: Abba P. Lerner, “The Economics and Politics of Consumer Sovereignty”, American Economic Review, 62(2), 1972: p. 259; Friedrich Hayek, The Political Order of a Free People , Chicago: University of Chicago Press, 1979: p. 149; cf. Quinn Slobodian, Globalists – The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2018.
    [7] Stephen W. Hawking, Kurze Antworten auf grosse Fragen, Klett-Cotta: Stuttgart, 2018, S. 40.
    [8] Siehe z.B., Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer Wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980 [1935]; Thomas S. Kuhn, Die Struktur Wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973; Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel, Berlin: Akademie Verlag; 1996, Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2014.
    [9] Zygmunt Bauman, In Search of Politics, Cambridge: Polity Press, 1999.
    [10] Karl Jaspers kritisiert die Psychoanalyse dafür, dass sie uns eine falsche Sicherheit verspricht, wobei das wahrlich heilende wäre, mit der Unsicherheit umzugehen (siehe Karl Jaspers (1919), Psychologie der Weltanschauungen. Springer, Berlin; Carmen Lea Dege, (2020), “To Karl Jaspers, uncertainty is not to be overcome but understood», Psyche, 9.9.2020: https://psyche.co/ideas/to-karl-jaspers-uncertainty-is-not-to-be-overcome-but-understood). Ob diese Kritik fair ist, sei dahingestellt (siehe Hampe, M., Schneider, P., J. Guggenheim, D. Strassberg (2016), Im Medium des Unbewussten. Zur Theorie der Psychoanalyse, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer: 147ff.).
    [11] So die Projekte Descartes, Kants, etc.
    [12] Siehe zum Beispiel Martha C. Nussbaum, Therapy of Desire, 1994 New Jersey: Princeton University Press; Pierre Hadot, Philosophy as Way of Life, Malden, MA: Blackwell, 1995; Stanely Cavell, The Claim for Reason, Oxford: Oxford University Press, 1979.