Russisches Kriegsschiff, fick dich!

Der russische Präsident Wladimir Putin hat zumindest ein Ziel erreicht: eine neue Weltordnung. Der Kampf der Systeme ist zurück. Und es ist Zeit, das Lager zu wählen.

    Am Morgen der Invasion tauchte ein Kriegs­schiff vor der ukrainischen Schlangen­insel auf. Auf die Aufforderung, zu kapitulieren, berieten sich die hoffnungslos unterlegenen 13 Grenzsoldaten ein paar Sekunden. Und antworteten: «Russisches Kriegs­schiff, fick dich!»

    Wenn nicht alles täuscht, war das ein Satz für die Geschichts­bücher. Denn die 13 Grenzwächter blieben nicht die Einzigen, die das sagten. Kurz danach wiederholte es die gesamte freie Welt.

    Es folgten lange Tage, in denen fast ausschliesslich unwahrscheinliche Dinge passierten. Niemand hätte etwa geglaubt, dass die EU entschlossen handeln könnte, die ukrainische Armee Kiew verteidigen und Russland sich in ein gigantisches Nordkorea verwandeln würde.

    Die Welt drehte sich, wie hundert Jahre zuvor einer Legende nach Lenin gesagt haben soll: «Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert – und Wochen, in denen Jahrzehnte passieren.»

    Das Gespenstische war die Klarheit dabei. Was tags zuvor undenkbar war, schien tags darauf kaum anders möglich. Es war, als wäre man in einen Albtraum hinein erwacht.

    Oder als würden Puzzle­steine von selbst in ein Bild herunter­regnen.

    Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Es war, als hätte man davor nicht gesehen, was seit langem im Gang war: Der Krieg schwelt schon seit Jahren, nicht nur in der Ukraine.

    Nun ist er ausgebrochen. Und wir sind zurück im 20. Jahrhundert. Zurück im Kampf der Systeme: Demokratie oder Diktatur.

    Es ist wieder Zeit, sein Lager zu wählen: Freiheit oder Faschismus.

     

    Putin, der Stümper

    Bis letzten Monat galt Wladimir Putin als kühler, skrupelloser Stratege. Letzteres war für ihn auch moralisch wichtig. Denn der Sieg im Machtspiel ist die einzige Recht­fertigung für Despoten: Sämtliche Untaten verwandeln sich dadurch in Realismus.

    Doch davon kann keine Rede mehr sein. Selbst bei hartem Nachdenken fällt einem kein Politiker ein, der nach Jahren der Vorbereitung das exakte Gegenteil seiner Pläne erreichte:

    • Putins wichtigstes Kriegsziel war, die Ukraine von der Karte zu streichen. Stattdessen bombte er sie zum Symbol des Mutes und der Freiheit. Egal wie der Krieg ausgeht, die Ukraine wird nie wieder verschwinden. Nichts einigt mehr als ein gerechter Kampf. Und nichts ist so unsterblich wie ein Symbol.
    • Das Nebenziel war, Europa zu demütigen und dessen Schwäche vorzuführen. Doch das Wunder geschah: Die EU einigte sich. Und das sehr schnell. Und auf die konsequentesten Sanktionen ihrer Geschichte.
    • Und langfristig? Deutschland rüstet nach Jahrzehnten Zurück­haltung wieder auf. Und gut möglich, dass die EU aufhört, ein reines Wirtschafts­projekt zu sein – und sich als militärische und politische Macht begreift. Dazu ist die zuvor müde Nato wieder da – und zum ersten Mal denken Schweden und Finnland über einen Beitritt nach.
    • Stattdessen zeigte sich die Schwäche einer Institution, die die ganze Welt gefürchtet hatte. Die russische Armee blamierte sich. Nichts funktionierte, Konvois gerieten in Hinterhalte, ukrainische Traktoren stahlen Panzer. (Witze im Netz bezeichnen die ukrainischen Landwirte bereits als fünftgrösste Armee Europas.) Bei der Invasion sprach alles von einem Blitzkrieg, heute rechnet niemand mehr mit dem russischen Sieg.
    • Die gefürchtete russische Propaganda­industrie, über Jahre aufgebaut, wurde schon in der ersten Nacht von der Ukraine vernichtet. Es war, als hätte jemand die Troll­fabriken im wichtigsten Moment abgeschaltet.
    • Russland selbst hat jede Chance auf eine Zukunft als Grossmacht verloren. Wirtschaftlich steht es vor dem Bankrott. Innenpolitisch verwandelte es sich von einer Herrschaft durch Propaganda in eine Herrschaft durch Schrecken. Das realistischste Szenario unter Putin ist, eine Kolonie Chinas zu werden.
    • Zwei Jahrzehnte arbeitete Präsident Putin an seinem Bild als Typ mit den melonen­grossen Eiern. Nun wurde er mühelos von seinem ukrainischen Kollegen Wolodimir Selenski überholt, der trotz Bomben und Mord­kommandos in Kiew blieb. Während Putin als verbitterter Redner an einem 20-Meter-Tisch im Gedächtnis bleibt.

    Es ist fast egal, was die Zukunft bringt. Eine solche Blamage lässt sich nicht korrigieren. Putins Platz in den Geschichts­büchern ist nun klar – die Frage ist nur, ob unter den Stümpern oder den Verbrechern.

    Vielleicht ist es für Präsident Putin ein Trost, dass sein Versagen kein persönliches ist, sondern eine Berufs­krankheit. Wären Autokraten weise, müssten sie beten: Herr, lass mich jung sterben! Denn langlebige autokratische Herrschaften enden mit Gewalt, in Agonie, in Schande.

     

    Der Fluch der Autokraten

    Wladimir Putin ist seit über 20 Jahren an der Macht. Zug um Zug hat er sämtliche Konkurrenz eliminiert: zu ehrgeizige Oligarchen, Politiker und Militärs, die freie Presse, jetzt das Internet. (Und von seiner Ehefrau hat man seit Jahren auch nichts gehört.)

    Irgendwann ist niemand mit Wider­spruch übrig. Und auch sehr misstrauische Leute haben keine Abwehr gegen pausenloses Lob. Irgendwann glauben sie an die eigene Überlegenheit.

    Was heisst, dass Autokraten über kurz oder lang so funktionieren wie die strukturell dümmsten Leute. Denn normaler­weise erkennt man intelligente Menschen an ihren Selbst­zweifeln; die dümmsten daran, dass sie sich überall für Expertinnen halten, weil sie vom eigenen Unwissen keine Ahnung haben.

    Der Mann an der Spitze ahnt das – und achtet immer misstrauischer auf Loyalität. Was dazu führt, dass er immer absurder frisierte Nachrichten bekommt. Und nicht nur er, auch seine Minister. Und deren Beamten. Und endlos weiter hinunter in der Befehlskette.

    Was dazu führt, dass jeder harmlose Spezialist mit realistischem Blick wegen Loyalitäts­problemen Ärger bekommt. Am Ende bestehen grosse Teile des vom starken Mann regierten Imperiums nur noch auf dem Papier.

    Ein Reich aus Vakuum entsteht.

     

    Gut in Gewalt, schlecht im Krieg

    Das Vakuum verschärft sich, wenn der oberste Chef ein Gangster ist. Und Putin ist märchenhaft reich – nicht wenige Analysten halten ihn für den reichsten Menschen des Planeten. Offiziell verdiente er zwar vor den Sanktionen um die 140’000 Dollar, so zumindest eine offizielle Angabe aus dem Jahr 2018; sein Ferien­häuschen am Schwarzen Meer ist ein Traum aus cremefarbenem Kitsch für 1,4 Milliarden Dollar.

    Und auch wenn Präsident Putin bewundernswert diskret ist – seine Vertrauten wurden alle Milliardäre.

    Nun sollte man eigentlich denken, Gangster verstehen etwas von Gewalt. Es ist ihr Kerngeschäft. Und Putin investierte auch systematisch mehrere hundert Milliarden Dollar in die Modernisierung der russischen Armee.

    Doch als er sie in die Ukraine befahl, standen in den Zeug­häusern oft nur Rost und Papier – Panzer hatten keine Ersatzteile, die Raketenwerfer brüchige Reifen, der Treibstoff war irgendwo. Die Truppen hatten im Umgang mit Geld von ihrem Kommandanten gelernt. Putins Modernisierung landete zum Grossteil in Uniform­taschen.

    Und wie bei Diktatoren üblich, kaufte die Armee funkelnde Superwaffen, aber viel zu wenig langweilige Lastwagen. Eine Armee ist vor allem ein Logistik­unternehmen. Ohne Nachschub ist sie ein Koloss mit Stummel­beinen.

    Putins anderes Problem ist: Mit nur Gewalt gewinnt man Macht, aber verliert man den Krieg. So wurden seine Soldaten in der ganzen Ukraine mit Panzerabwehr­raketen begrüsst. Dabei war – zumindest im Osten des Landes – ein Empfang mit Blumen erwartet worden.

    Mit Grund. Die Ukraine war lange tief gespalten: der ukrainisch­sprachige Westen, der russisch­sprachige Osten. Bei allen Wahlen bis zur Maidan-Revolution 2014 hatten beide Teile komplett andere Parteien gewählt – im Westen pro Europa, im Osten die Kandidaten des Kreml. Doch das änderte sich: 2019 wurde Selenski flächendeckend gewählt. Warum?

    Weil Putin gehandelt hatte. Gleichzeitig mit der Besetzung der Krim finanzierte und bewaffnete er 2014 auch die Rebellion in zwei ukrainischen Provinzen im Donbass. Dort regierten nun seit acht Jahren putintreue Kriegsherren, führten Dauerkrieg und raubten alle aus, die sich ihrer Truppe nicht anschlossen. In Russland konnte Putin das als Befreiung verkaufen – in der Ukraine war man zu nah dran.

    So war den russischsprachigen Ukrainerinnen klar, dass Putin nicht ihr Bruder war, sondern der Bruder der Gangster – und dass sie wie die Löwen kämpfen mussten, wenn ihnen ihre Zukunft lieb war.

    (Was sich als richtige Vermutung heraus­stellte: Die mehrheitlich russisch­sprachigen Städte werden nun Tag für Tag von der russischen Armee zu Schutt geschossen.)

     

    Idioten an die Macht

    Doch die wirkliche Tragödie an einer Autokratie sind nicht die gestohlenen Milliarden, sondern das gestohlene Leben. Weil die Gesellschaft systematisch mit Zynikern, Bürokratinnen und Idioten durchsetzt wird.

    Das, weil Autokratien von der Struktur her der Mafia gleichen: der Boss, seine Vertrauens­leute, deren Vertrauens­leute, dann der Rest der Welt.

    Mafiabanden sind nicht inkompetent: Sie beherrschen das Aussaugen von Geschäften. Aber nicht deren Aufbau. Deshalb sind sie weltweit vor allem in illegalen Branchen wie Drogen­schmuggel tätig. Oder wenn legal: in einfachen Geschäften. Der Klassiker ist der Export. Wer gestohlene Ware verkauft, macht immer Marge.

    Übernimmt eine Mafia jedoch eine komplexere Branche, etwa eine Industrie in einem umkämpften Markt, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Sie ruiniert das Geschäft fast umgehend. Oder sie hört auf, eine Mafia zu sein.

    Diese Logik, so der Historiker und Journalist Kamil Galeev, erklärt die wirtschaftliche Macht­struktur in Putins Russland:

    • Vom Einfluss, Vermögen, Prestige her ganz oben stehen die Oligarchen der Öl- und Gasindustrie. Diese wurde den alten Oligarchen weggenommen und ist jetzt unter der Kontrolle von Putins Vertrauten. Weil sie den Löwenanteil an den Exporten ausmacht – und weil Rohstoffe verkaufen auch ohne jede Erfahrung lukrativ ist: Jeder Idiot kann damit sehr schnell sehr reich werden.

    • Die Ausbeutung von Gold, Eisen, Nickel, Kupfer etc. verlangt einiges mehr an Know-how. Putin beliess die Schürf­rechte deshalb in den Händen der Oligarchen, die er von seinem Vorgänger im Präsidenten­amt, Boris Jelzin, übernommen hatte – unter der Bedingung, dass sie sich aus der Politik heraushalten.

    • Komplexe Branchen wie Informatik und Industrie überlässt die Elite notgedrungen den Unter­nehmerinnen und Ingenieuren, kurz: den Nerds. Doch diese haben kein Prestige und keine Lobby. (So ist einem Oligarchen etwa ziemlich egal, ob die Import­preise für Maschinen­teile bei sinkendem Rubel ins Uferlose steigen. Sie wollen billige Maschinen für ihre Konzerne. Und wenn sie dies dann nicht schaffen, lässt man Raubkopien von tschechischen Modellen herstellen.)

    Das Charakteristische der autokratischen Ökonomie ist, dass sie in der Praxis das Synonym für politische Macht ist. Und das in zwei Richtungen:

    1. Wer die richtigen Verbindungen zur Macht hat, bekommt das Geschäft.

    2. Wer Geschäfte macht, bekommt Macht. Deshalb wird genau darauf geachtet, dass nur die richtigen Leute Geschäfte machen. (Die Industrie wird von den Oligarchen systematisch klein­gehalten.)

    Letzteres wird bei Autokratien oft vergessen. Es gilt nicht nur, dass für die Karriere vor allem Loyalität und Verbindungen zählen – und Fähigkeiten fast nichts. Sondern es gilt auch umgekehrt: Wenn das Ziel der Führung Machterhalt ist, werden Kompetenz, Effizienz, Engagement per se als verdächtig angesehen. (Das ist auch der Grund, warum Sie einen tyrannischen Chef nie durch gute Arbeit besänftigen werden.)

    Kurz: Zum Machterhalt in einem autokratischen Staat gehört notwendig die Sabotage aller Sektoren, in denen sich eine Gegen­macht formieren könnte.

    (Das Prinzip der Sabotage gilt natürlich auch für die Oligarchen selbst: Der Preis, Oligarch zu bleiben, ist politisches Eunuchentum. Auch ihre Macht bemisst sich fast ausschliesslich durch die Nähe zu Putins Ohr. Dazu wird von ihnen die Bereitschaft verlangt, Putins Projekte zu finanzieren: politische wie Trollfabriken, private wie Putins Palast.)

    In diesem System des Machterhaltes durch Fesselung gelten wirtschaftliche Defizite im besten Fall als Kollateral­schäden. Im Schnitt sinkt das Brutto­sozialprodukt in einer Diktatur bei jedem weiteren Jahr des Mannes an der Macht um 0,12 Prozentpunkte.

    In Putins Russland sind die Paria-Sektoren die Industrie (Russland hat den Industrialisierungs­grad eines Schwellen­landes), die Provinz­regierungen und die Armee.

    Auf den ersten Blick ist Russland ein Militärland. Es hat Atomraketen, die zweitgrösste Armee überhaupt – und der offizielle Mythos des Landes beruht auf dem Sieg über Nazideutschland.

    Doch in Wahrheit steht die russische Armee gesellschaftlich nur wenig über den Kakerlaken in ihren Kasernen. Es ist kein Zufall, dass ganze Militär­einheiten, sogar die Atomraketen­silos, an die russische Mafia Schutzgeld zahlen – die Mafia steht höher in der Hierarchie. So werden Offiziere am Fernsehen verspottet, Generäle bei zu viel Popularität liquidiert, die Ausbildung ist schlecht, die Ausrüstung ebenfalls, die Manieren noch schlimmer: In den Kasernen herrscht oft Mobbing – und es ist nicht unüblich, dass Rekruten von ihren Offizieren in die Prostitution verkauft werden. Kein Wunder, drückt sich, wer kann – die Rekruten kommen zur Mehrheit aus den mausarmen Provinzen, in denen bestimmte Ethnien leben.

    Der Grund ist einfach: Die Herrschaft Putins stützt sich auf die Sicherheits­dienste – deshalb wird die Armee möglichst tief unten gehalten. Und überall werden militär­fremde Geheimdienst­leute in die Hierarchie infiltriert. Und ansonsten im Zweifel die Unbeliebtesten und Unbegabtesten zum Offizier befördert.

    Putins Autokratie spricht endlos von Überlegenheit und Stolz; was sie bewirkt, ist das, was ein Befall mit Parasiten immer bewirkt: Lähmung.

    Die Farbe der Autokratie ist die Mischung zwischen Grausamkeit und Grau. Ein Leben ohne Lebendigkeit.

    Kurz: Präsident Putin war schon lange vor dem Einmarsch in die Ukraine alles andere als ein erfolgreicher Staatsmann.

    Doch woher der weltweite Kult um ihn?

     

    Faschismus GmbH

    Warum nennt Trump Putin ein «Genie», Berlusconi diesen «die Nummer 1» als politischer Leader, Roger Köppel ihn den «letzten Realisten Europas»? Warum die Bewunderung von Matteo Salvini, Viktor Orbán, Marine Le Pen, Tucker Carlson, Jair Bolsonaro?

    Die Antwort: Putin war, zumindest bis vor wenigen Wochen, die ideale Verkörperung eines Faschismus, eines zivilisierten, einträglichen Faschismus, eines physisch und politisch überlebbaren Faschismus.

    Denn radikaler Faschismus hat mit Politik nichts zu tun; es gibt nichts mehr zu verhandeln. Faschismus ist ein Kult – der Kult von Reinheit und Stärke. Doch in der Praxis ist er der Kult der Vernichtung – was schwach ist, muss ausgemerzt werden. Erst die anderen, dann man selbst – wer, das ist nur eine Frage des Datums.

    Kein Wunder, ist eine Staatsform der Vernichtung nur noch bei radikalen Selbst­mördern populär: Sie ist nicht lange überlebbar.

    Die protofaschistische Autokratie ist die Staatsform der Impotenz – sie bringt nichts hervor. Sie ist weit stabiler, weil ihr Ziel nicht Veränderung ist. Weder durch konkrete Massnahmen noch durch Revolution. Sie setzt vor allem auf Rhetorik. Ihr Heldentum besteht in endloser Beschwörung der Stärke – und in der noch endloseren Anklage der Schwachheit.

    Wobei die Stärke stets nur in der ruhm­reichen Vergangenheit und der sieg­reichen Zukunft wohnt – wie in Trumps genialer Formel «Make America Great Again!».

    Während in der Gegenwart der Starke sich in der Diktatur der Schwächlinge durchquälen muss – durch einen Sumpf von Weichheit, Dekadenz, Geschlechter­auflösung, Zensur und Moralin. Was leider dazu führt, dass er dauernd beim Lösen der Probleme zurück­gehalten wird.

    Die Autokratie ist die Omikron-Variante des Faschismus. Mit abgemilderten Symptomen (statt Vernichtung des politischen Gegners die Vernichtung des politischen Diskurses, statt Strassenkampf Kulturkampf), aber dafür umso ansteckender. Das nicht zuletzt, weil die «Gutmenschen verhindern alles»-Endlos­schleife sowohl für autokratische Politiker in der Opposition wie auch an der Macht brauchbar ist.

    Natürlich befürwortet man Grausamkeiten. Aber diese waren, falls es Ärger gibt, einfach nur «Realismus». Oder, falls es wirklich Ärger gibt, «ein Scherz». Oder wenn das auch nicht klappt: «Fake News».

    Kurz: Die Anhänger der Autokratie haben etwas auch in funktionierenden Demokratien wirklich Brauchbares erfunden: Faschismus ohne Haftung.

     

    Bullshit

    Auch deshalb ist Putin der Held: Er hat die autoritäre Propaganda perfektioniert und weltweit finanziert.

    Die neue Propaganda funktioniert sehr anders als im 20. Jahrhundert, als es vor allem darum ging, den Gegner von seinem System zu überzeugen. Sie ist weitgehend von jeder Substanz abgekoppelt: eine Mutation, die sie extrem automatisierbar, extrem anpassungs­fähig, kurz: extrem viral macht.

    Ihre Rezepte sind im Groben:

    1. Sie ist laut. Sie läuft auf möglichst vielen Kanälen – von Social Media bis zum eigenen News­sender bis hin zu Studien und Kongressen. Was zählt, ist die Quantität. Je öfter jemand dieselbe Aussage hört, desto plausibler wird sie.

    2. Sie ist schnell. Menschen tendieren dazu, an der ersten Information festzuhalten, die sie zum Thema gehört haben.

    3. Sie ist unabhängig von Fakten. Der Verzicht auf Recherche, sogar auf Plausibilität, ist ein entscheidender Vorteil, wenn es um Quantität und Tempo geht. (Und nie ist man schneller, als wenn man das Ereignis selbst erfunden hat.) Wobei auch Fakten nicht verschmäht werden. Wichtig ist nur, im Publikum permanent Zweifel zu säen. Und seine Feinde andauernd mit den eigenen Dingen zu beschäftigen.

    4. Sie pfeift auf Konsistenz. Was heisst, dass man unbelastet von den eigenen Argumenten losschlagen kann. (Etwa die Weltverschwörung der Juden beklagen und zehn Minuten später jemandem Antisemitismus vorwerfen.) Sodass man jede Beliebige mit jedem beliebigen Vorwurf vor sich hertreiben kann.

    Steve Bannon, der ehemalige Trump-Wahlkampfleiter, fasste seine Strategie so zusammen: «To flood the zone with shit.»

    Und der Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko, verknappte die Formel sogar auf ein einziges Wort. Als ein Reporter ihn inmitten der Trümmer seiner Stadt fragte, was er dazu sage, dass die Russen darauf bestünden, keine zivilen Ziele zu bombardieren: «Bullshit!»

    In der Tat hat Bullshit jede Unschuld verloren. Die Zeiten sind vorbei, als Bullshit lästige Zeit­verschwendung an Vernissagen und Kader­sitzungen war. Bullshit ist heute die schärfste Waffe der weltweiten Rechten.

    Und erstaunlich vielseitig:

    • Donald Trump gebührt die Entdeckung, dass in der Politik Bullshit auch ohne Tarnung funktioniert. Bei Kritik wirft man wie damals auf dem Pausenplatz der Gegenseite das Doppelte vor. Oder raunzt trocken: «Fake News!» Oder redet einfach irgend­etwas. Das ist enorm effizient, besonders für Regierungs­politiker: Hat man das Sagen, braucht man auf nichts mehr zu antworten.

    • Bullshit ist auch der Rohstoff für den Kultur­kampf – bei dem es statt um konkrete Politik grundsätzlich um Dinge geht, die im Leben der Leute, die darüber reden, nicht vorkommen: Burkas, Intersex­toiletten, Gender­sternchen, Redeverbote, Kinderblut trinkende Politiker, Schokoladen­köpfe, Illuminaten und Impf­schäden.

    • Last, but not least ist Bullshit auch das Kernstück für die Huldigung autoritärer Politiker.

    Der führende Schweizer Putin-Anhänger, als Politiker und Publizist in der Partei des mächtigsten Schweizer Oligarchen, Roger Köppel, schrieb etwa am Vorabend der Invasion:

    «Putin entlarvt den hohlen Moralismus seiner Gegner. Und die Dekadenz des Westens. Während sich unsere Politiker damit befassen, ob Minder­jährige ohne Einwilligung der Eltern bei der Einwohner­kontrolle für siebzig Franken ihr Geschlecht abändern dürfen, fährt Putin mit seinen Panzer­divisionen auf. Botschaft: Es gibt da draussen doch noch so etwas wie eine harte Wirklichkeit der Tatsachen, nicht nur das eingebildete Metaversum der ‹Diskurse› und ‹Narrative›, mit denen man sich die Welt so zurechtlegt, wie man sie gerne hätte. Vielleicht, hoffentlich ist Putin der Schock, den der Westen braucht, um wieder zur Vernunft zu kommen.»

    «Kleine Psychologie der Putin-Kritik», «Weltwoche», 23.02.2022.

     

    Gesetzt den Fall, das wäre Teil einer ernsthaften Debatte. Was liesse sich darauf antworten? «Glauben Sie tatsächlich, dass Herr Putin wegen seiner mangelnden Wokeness kritisiert wird und nicht wegen des Zusammenzugs einer Invasions­armee? Und dass daran Putins Kritiker vor allem stört, dass dadurch vom unbürokratischen Geschlechts­wechsel für Schweizer Kinder abgelenkt wird, als dass eine Invasions­armee eine Invasion vorbereitet?»

    Auch wenn Herr Köppel gern behauptet, mit einer anderen Meinung die Debatte zu beleben – es lässt sich absolut nichts Gescheites auf seine Texte antworten.

    Ausserdem hätte, während man noch redet, Herr Köppel längst bereits ein Dutzend weitere Videos, Leitartikel oder Tweets veröffentlicht: Etwa dass «jeder Fünftklässler» wisse, dass man mit dem Bully auf dem Pausenplatz «klarkommen» müsse und dass also die «Weisheit des Hausverstands» gebiete, alle Waffen­lieferungen und Sanktionen gegen Russland einzustellen. Und: dass er sich angesichts der geschichts­vergessenen Kriegstreiberei der Konkurrenz als einen der letzten lupenreinen Pazifisten empfinde. Et cetera.

    Was lässt sich dazu sagen?

    Eigentlich nichts. Es sind einfach Worte, die Roger Köppel aus dem Mund fallen, es könnten auch andere sein, es kommt gar nicht darauf an.

    Dazu gibt es nicht einmal jemanden, der spricht. Nichts von diesen obigen Gedanken ist persönlich. Es ist vorgestanzte Industrieware, ein Set an Formulierungen, das rund um den Planeten von Politikern und Publizisten manuell neu zusammen­gesteckt wird.

    So produzierte in etwa zur gleichen Minute, als Köppel seinen Putin-Essay schrieb, Steve Bannon eine Radioshow zum gleichen Thema. Zu Gast war Erik Prince, der Gründer einer berüchtigten Söldnerfirma:

    Bannon: «Putin ist nicht woke. Er ist anti-woke.»

    Prince: «Das russische Volk weiss noch, welche Toilette benutzt werden soll.»

    Bannon: «Wie viele Geschlechter gibt es in Russland?»

    Prince: «Zwei.»

    Bannon: «Sie hängen dort nicht die Pride-Flaggen raus …»

    Prince: «Ja, und Buben nehmen dort im College nicht an Schwimm­wettbewerben für Mädchen teil.»

    Bannon: «Wie rückwärtsgewandt! Wie primitiv! Wie mittelalterlich!»

    Aus: «War Room», dem Podcast von Steve Bannon.

     

    Kurz: Es handelt sich um den international standardisierten Mahlstrom, der die öffentliche Debatte mit austauschbarem Bullshit flutet.

    Natürlich, es ist kein Zufall, dass vor allem gealterte, lausbübische Herren mit einer Leidenschaft für die immer gleichen Tabu­brüche dieses Gewerbe betreiben. Es ist intellektuelle Impotenz.

    Aus allem, was sie von sich geben, folgt: nichts.

    Doch das wäre zu freundlich gedacht. Es handelt sich nicht um privaten Verfall. Es handelt sich um die pausenlose Verstopfung des öffentlichen Diskurses, um einen Angriff auf die Demokratie.

    Kurz: um professionelle protofaschistische Propaganda.

    Und deshalb gibt es doch eine Antwort auf Texte wie den von Roger Köppel: «Russisches Kriegs­schiff, fick dich!»

     

    Auf der Höhe der Zeit

    Fast alle Beteiligten, auch in der Ukraine, hatten Putins Aufmarsch bis Stunden vor dem Einmarsch für einen Bluff gehalten.

    Der Überfall kam als Schock. Präsident Putin hielt am russischen Fernsehen eine lange Rede. Kurz danach rollten von drei Seiten russische Panzer in die Ukraine.

    Doch die Antwort darauf kam ebenfalls als Schock, sehr schnell, sehr entschlossen.

    Schon am Abend des zweiten Tages hatte die ukrainische Armee den Grossteil der Voraus­kommandos der Russen getötet. Sie blockierte die Strassen nach Kiew, attackierte die Nachschub­wege und brachte der übermächtigen russischen Armee furchtbare Verluste bei.

    Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski tauschte Anzug und Krawatte mit einem olivgrünen T-Shirt und wurde weltweit zum Gesicht des Widerstandes. Spätestens, als ihm die USA die Möglichkeit zur Flucht anboten und Selenski (zumindest der Legende nach) erwiderte: «Ich brauche Munition, nicht ein Taxi.»

    Kurz darauf beschlossen die USA und die EU weit massivere Sanktionen als erwartet; ein paar Tage nach dem Einmarsch waren der Rubelkurs, die internationalen Banken­verbindungen, die Börse und 30 Jahre wirtschaftlicher Aufbau ruiniert.

    Darüber hinaus fielen reihenweise Tabus – Deutschland, traditionell der engste Partner Russlands in der EU, stoppte das Pipeline­projekt Nord Stream 2, beschloss eine dauerhafte massive Aufrüstung und lieferte Waffen in die Ukraine. Das neutrale Schweden lieferte ebenfalls Waffen. Über 600 internationale Konzerne zogen sich aus Russland zurück. Und am Ende war, zur Verblüffung der Welt, sogar die Schweiz an Bord.

    Woher dieser Widerstand – wie aus dem Nichts?

    2014 lief das noch völlig anders. Bei Nacht und Nebel hatten Elite­soldaten der russischen Armee in Uniformen ohne Abzeichen die Krim besetzt. Die russischen Truppen im Donbass hatten die ukrainische Armee fast mühelos abgeschlachtet, die EU und die USA waren zerstritten und ihre Sanktionen ein trauriger Scherz.

    Vielleicht gerade deshalb. Es gibt ein Gesetz, dass das Land, das einen Krieg verliert, im Frieden danach gewinnt. Deshalb, weil die Sieger keinen Grund haben, alles neu zu denken, die Verlierer aber dringend.

    Zumindest in diesem Fall taten sie es.

    Zuvor korrupt, starr, schlecht ausgebildet wie heute die russische, wurde die ukrainische Armee 2016 völlig neu aufgestellt. Man hatte erlebt, dass die strikte Befehls­kette die Soldaten auf dem Schlachtfeld gefesselt hatte – bis die höheren Offiziere eine Entscheidung der niederrangigen genehmigt hatten, waren diese oft bereits tot.

    Also demokratisierte man die Entscheide nach unten – und bildete (mit amerikanischen Militär­spezialisten) die Unteroffiziere aus. Dazu kam das Glück, dass das Geld fehlte: So wurden keine Superwaffen beschafft, sondern eher unsexy Material: türkische Drohnen und vergleichsweise billige tragbare Anti-Flugzeug- und Anti-Panzer-Raketen. Diese erwiesen sich nun als über Erwarten effektiv. (Auch, weil die russische Armee es nie schaffte, ihre verschiedenen Truppen als Ensemble einzusetzen – so konnten kleine ukrainische Kommandos sie einzeln ausschalten.)

    Dazu hatten die Offiziere der Truppen Kriegs­erfahrung: Im Osten der Ukraine hielten die Putin-finanzierten Rebellen einen unerklärten, aber brutalen Kleinkrieg am Schwelen – mit 14’000 Toten in den letzten acht Jahren.

    Und last, but not least hatte Putin 2014 das Land geeinigt. Zuerst, indem er den moskautreuen Präsidenten Wiktor Janukowitsch dazu brachte, in letzter Minute ein Abkommen mit der EU zu kippen. Worauf Studentinnen auf dem Maidanplatz in Kiew für ihre Zukunft demonstrierten, täglich, über Monate. Janukowitsch liess sie mithilfe von russischen Agenten zusammen­knüppeln. Worauf ihre Eltern und Grosseltern sich den Studentinnen anschlossen. Janukowitsch liess mit scharfer Munition schiessen – ein paar Tage später war er gestürzt. Janukowitsch floh, laut Gerüchten mit Kisten voller Dollar, nach Moskau. Putin nutzte das Chaos und liess über Nacht die Krim besetzen. Danach konnte sich die ukrainische Armee vor Freiwilligen kaum retten.

    Und nicht zuletzt lieferte Putin der ukrainischen Armee den Schub der ersten Erfolge, indem er die Sünde beging, an die eigene Propaganda zu glauben. Da er offiziell keinen Krieg, sondern eine «Spezial­operation» gegen das «Regime der Nazis und Drogen­süchtigen» begann, schickte er konsequent Spezialpolizei und Fallschirm­jäger voraus. Diese waren auf Aufstände spezialisiert, sahen furcht­erregend aus, waren aber nur leicht bewaffnet, völlig kriegs­unerfahren – und nach wenigen Tagen tot.

    Kein Mensch hat mehr für die Einigkeit der Ukraine und die Stärke ihrer Armee getan als Wladimir Putin. Trotzdem wäre es falsch, vor allem über ihn zu reden. Nach dem ersten Schock waren in der Ukraine und in den westlichen Ländern sehr viele Leute auf der Höhe der Zeit.

     

    Ideen als Waffe

    Denn das wirklich Neue war, dass das westliche Lager auf Putins Überfall nicht nur mit Härte reagierte. Sondern mit Einfalls­reichtum.

    Und das nicht mit kleinen Verbesserungen, sondern mit echten Ideen – solchen, die Einsatz und Können verlangen.

    • In der Ukraine mit der Neuerfindung der eigenen Armee als Armee von unten.

    • In Deutschland, wo durch die neue rotgrünliberale Regierung die gesamte Sicherheits­politik neu ausgerichtet wurde.

    Entscheidend war nicht zuletzt die Erfindungs­kraft zweier Präsidenten:

    • Währenddessen erfand der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski eine archaische Form der Kriegs­propaganda neu: die Propaganda des Muts. In der Schlacht gehört der Feldherr an die Spitze. Vielleicht brauchte es gerade einen Entertainer im Präsidenten­amt, um das zu wissen: wie ansteckend Mut ist. Dafür ist es egal, dass eine Geschichte erfunden ist. Man sieht jemand Mutigen im Kino und verlässt es ein paar Zentimeter grösser. Es spielt nicht einmal eine Rolle, wenn hartgesottene Profi­politiker im Publikum sitzen. Angeblich gab den EU-Staatschefs ein Videocall mit Selenski den letzten Anstoss, bei den Sanktionen keine Kompromisse zu machen, als er sie mit den Worten begrüsste: «Meine Damen und Herren, das ist vielleicht die letzte Gelegenheit, mich lebendig zu sehen.»

    Weiss der Teufel, ob es ausreicht. Weiss der Teufel, was noch kommt. Aber für ein Mal waren die Demokratien des Westens auf der Höhe der Zeit.

    Doch wenn nicht nicht alles täuscht, waren die ersten Wochen nur der Anfang des Schreckens.

     

    Weltkrieg

    Russlands Präsident Putin hat letztlich nur noch eine Option – seine Schande mit Blut abzuwaschen. Dadurch, dass er das Bruderland, das er befreien wollte, als Friedhof erobert.

    Und falls das scheitert, den Ausweg aller Despoten zu gehen: die eigene Grösse durch den Umfang ihres Scheiterns zu verewigen.

    Bis jetzt sprechen die Handlungen von Präsident Putin für sich: In sämtlichen kleinen Kriegen, die er anzettelte, liess er nach dem ersten Widerstand ganze Städte dem Erdboden gleich­machen. Und unglücklicher­weise ist die russische Armee eine Artillerie­armee. Deren Stärke: Infra­struktur zerstören. Und Zivilisten töten.

    Und sie haben bereits angefangen: Die noch vor kurzem blühende Hafenstadt Mariupol ist ein kalter, blutiger Trümmer­haufen, allein bei der gescheiterten Belagerung von Kiew starben im ersten Kriegsmonat 75 Kinder, in der Kleinstadt Butscha hinterliessen die abrückenden russischen Truppen die Strassen, Keller und Vorgärten voller Leichen der Bewohner.

    Wenn nicht alles täuscht, ist das auch die gezielte Strategie der russischen Kriegs­führung: Je mehr Terror sie verbreitet, desto günstiger die Verhandlungs­position – weil niemand mit Verantwortung rechtfertigen kann, dass ihr wahlloses Töten weitergeht.

    Man sollte sich keine Illusionen machen, dass Unfähigkeit Autokraten harmloser macht. Nichts ist gefährlicher als Stümper.

    Im zweiten Land, das er ruiniert – in Russland –, hat Putin den gleichen Weg gewählt: den Weg des Terrors. In einem einzigen Monat wurde aus einer autoritären Demokratie ein voll ausgebildeter faschistischer Staat. Auf Verbreitung von unerwünschten Nachrichten über den Krieg stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis; sämtliche Medien sind unter Zensur; das Internet wurde abgekoppelt; Leute werden an Jubel­veranstaltungen gekarrt; in Geheim­diensten und Armee werden erste Offiziere verhaftet; Putin selbst hält Reden, in denen er eine «Säuberung» verspricht und dass sein Volk Verräter ausspucken werde wie «Fliegen, die einem versehentlich in den Mund geflogen sind».

    Diese Drohung galt zwar fürs Erste den Oligarchen, die sich ins Ausland abgesetzt haben – aber solche Drohungen bleiben nie auf eine Gruppe beschränkt.

    Was Putins Lage betrifft, ist sie unklar. Diktatoren enden selten mit Ansage. Sondern meist dadurch, dass sich ein rangniedriger Teil der Elite durch den Mann an der Spitze bedroht fühlt. Und handelt.

    Wer das in Russland sein könnte, ist unklar. Putins persönliche Kumpels an der Spitze der Macht, seine Geheimdienst­chefs, Minister und Oligarchen haben ihre Position nicht durch irgendwelche Fähigkeiten erhalten. Sondern durch ihre Nähe zum Präsidenten. Sie haben ohne ihn keine Legitimation.

    Und ein Aufstand wird nicht passieren. Im ersten Monat des Krieges stieg die erhobene Zustimmung für Putin von 71 auf 83 Prozent. Was immer passiert: Schuld ist der Westen. Und wenn nicht: Dann werden es korrupte Funktionäre vermasselt haben – der Präsident wurde betrogen.

    Trotzdem steht Putin an der Wand. Die russische Wirtschaft rast auf einen Bankrott zu, der Rubel vielleicht auf eine Hyper­inflation, und die russische Armee ist nicht mehr viel wert.

    Es braucht wenig Fantasie, um zu wissen, dass in den Schalt­zentralen Russlands das Chaos regiert. Auf nichts ist mehr Verlass, das Argument «Wir machen das doch so …» ist tot. Normen sind tot. Planung ist tot. Denn das ist das Wesen des Chaos, dass man nur noch reagiert.

    Dafür werden überall Schuldige gesucht. Für die jetzigen wie die zukünftigen Desaster. Was heisst: Jede kämpft ab sofort für sich. Was ebenfalls heisst: Waren, Informationen, Gelder – alles wird gehortet, in den Ämtern, in den Provinzen, in jedem Haushalt. Russland zerfällt aus Angst; und die einzige Gegenkraft ist der Terror.

    (Beispielsweise ist Zucker bereits Anlass für Hamster­käufe, Prügeleien, Diebstahl und Verhaftungen.)

    Kann sein, dass das Regime über Nacht zusammen­bricht. Kann aber auch sein, dass es nach weiteren Ressourcen forscht. Und dann müssen wir uns auf etwas gefasst machen.

    Laut den Briefen eines angeblichen Analysten im Geheimdienst FSB arbeiten die Agenten ohne Pause an einem Szenario, das auf die letzte grosse Ressource setzt: dass der Westen sich mehr vor einem Krieg fürchtet als die russische Regierung.

    Das Szenario beinhaltet, dass Sanktionen und Waffen­lieferungen von Russland offiziell als Kriegs­erklärung gewertet werden. Und man dem Westen ein Ultimatum stellt. Sofort Schluss damit, ansonsten würden Raketen auf Estland, Lettland und Litauen geschossen – und vor allem auf Polen. Das deshalb, weil Polen die offene Grenze zur Ukraine ist: Die Flüchtlinge kommen raus, die Waffen und Hilfsgüter kommen rein.

    Das als realistisch eingestufte Ziel in diesem Szenario ist, dass der Westen sich am Ende einschüchtern lässt und die Ukraine dem russischen Zugriff überlässt. Wonach der Sieg dort möglich wird, mit Marionetten­regierung, Massen­verhaftungen und Umerziehungs­lagern.

    Gut möglich, dass das nur Unfug ist. Und der Absender ein Propagandist des russischen Geheim­dienstes, der verbreitet, was Putins letzter grosser Trumpf ist: Angst. Oder ein Mitarbeiter des ukrainischen Geheim­dienstes, der sagt, warum die Nato eingreifen muss: aus Angst. Oder ein Paranoider, der verbreitet, was er fühlt: Angst.

    Hört man die Regierungen, klingt es nicht viel gemütlicher. Die Amerikaner warnen vor Chemie­waffen in der Ukraine und Cyberattentaten im Westen. Während ein Sprecher des Kreml auf CNN den Einsatz von atomaren Waffen nicht ausschliesst, falls «die Existenz Russlands» bedroht sei.

    Wobei das wahrscheinlichste Szenario das eines langen, grausamen Zerfleischens in der Ukraine ist. Nach einem Monat schmerzhafter Verluste beschloss die russische Generalität, dass das Kriegsziel nie ein Regime­wechsel in Kiew gewesen war, sondern von Anfang an die Ausschaltung der ukrainischen Armee. Nun zieht Russland die Truppen im rohstoff­reichen Osten der Ukraine zusammen.

    Es wird noch einiges an Nerven brauchen, an Haltung, Klarheit und Glück. Denn es ist absolut unvorhersagbar, was passiert. Das auch, weil Wladimir Putin zumindest in der Vergangenheit immer eine einzige Strategie wählte: eskalieren. So absurd es ist: Der Dritte Weltkrieg ist für 2022 tatsächlich eine denkbare Variante geworden.

    Wer weiss, wenn Sie Mann und Frau sind, werden Sie in irgendeinem Bunker diesen Dialog führen:

    Sie als Mann: «Unglaublich, dass jetzt der ganze Planet zerstört wird, nur weil ein einziger Typ nicht bekommen hat, was er wollte …»
    Sie als Frau: «Willkommen in meinem Alltag.»
    Und das ist dann das Letzte, was Sie sagen.

    (Diese Szene wurde hier eigentlich nur geschrieben, weil Frauen in dieser Geschichte sonst komplett abwesend sind.)

     

    Der Club der Autokraten

    Anfang Februar 2022, drei Wochen vor der Invasion, unterzeichneten Russland und China ein Abkommen «gemeinsamer grenzenloser Freundschaft». Das war am Vorabend der Eröffnungs­feier der Olympischen Winterspiele in Peking – und wie man später las, versprach Russlands Präsident Putin dem chinesischen Parteichef Xi, mit dem Überfall auf die Ukraine bis nach der Schluss­feier zu warten.

    Das Treffen war ein Zeichen des Selbstbewusstseins der autoritären Politik. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 begreifen sich China und Russland immer deutlicher als Modell für die Zukunft. Seither wiederholt ihre Propaganda: Demokratien sind moralisch dekadent und politisch schwach. Sie kriegen ihr Zeug nicht mehr auf die Reihe. Wir werden gewinnen!

    Die Zuversicht hat Gründe: In den letzten Jahren sind immer mehr Demokratien gekippt.

    Denn eine Menge Demokratien sind nahe der Mitte gespalten. Wahlen sind dadurch ein Tanz auf der Rasier­klinge. Ein paar mickrige Stimmen – und das Land kippt in eine völlig andere Richtung. Trump schlug Clinton in den entscheidenden Swing-Staaten um rund hundert­tausend Stimmen, so wie Biden später Trump. Die Briten stimmten mit 52:48 Prozent für den Brexit. (In der Schweiz gewann die Massen­einwanderungs­initiative mit 50,3 Prozent.)

    Die nächste Runde folgt in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron gewann im ersten Wahlgang gegen die Putin-Verbündete Marine Le Pen, laut aktuellen Umfragen gewinnt er die Stichwahl mit 54 zu 46 Prozent. Das Vorhersage­modell des «Economist» gibt ihm 80 Prozent Chancen auf den Wahlsieg. Was ist, als würde die Demokratie im Zentrum Europas russisches Roulette spielen. (Einfach mit eineinhalb Patronen im Revolver.)

    Mit einer entschlossenen Person an der Spitze braucht das autoritäre Lager nur einen einzigen Sieg. Viele autoritäre Staatschefs wurden demokratisch gewählt – beim ersten Mal. Wladimir Putin genügte dieser erste Wahlsieg, um eine stabile Herrschaft aufzubauen, andere, wie Donald Trump, scheiterten knapp.

    Wobei eine stabile autoritäre Herrschaft eine Illusion ist. Sie entwickelt sich in Schüben, meist, wenn die eigene Macht auf Widerstand trifft. Trump versuchte einen Aufstand, als er die Wiederwahl verlor. Putin begann, sich als spiritueller Retter Russlands zu begreifen, als 2011 bis 2013 im ganzen Land gegen Wahlbetrug demonstriert wurde. (Er änderte quasi den Status vom Gewählten zum Erwählten.) Viktor Orbán wurde 2002 als gläubiger Liberaler abgewählt – bei der zweiten Wahl 2010 siegte er als Verkünder der illiberalen Demokratie.

    Die Schübe gehen immer in die gleiche Richtung: Faschismus. Mit jedem Schub schneller.

    In ihrem grossen Essay «The Bad Guys Are Winning» beschrieb Anne Applebaum unter anderem die Entwicklung des weissrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der immerhin 26 Jahre im Amt war. Nach seiner sechsten Wahl 2020 demonstrierten Hundert­tausende, Tag für Tag. Lukaschenko liess Demonstranten erst reden, dann verprügeln, aber die Proteste wuchsen weiter. Bis Lukaschenkos Rivale Putin ihm ein Flugzeug mit FSB-Geheimagenten schickte. Darauf änderte das Regime seine Taktik: Die wilden Massen­verhaftungen hörten auf, stattdessen machte die Polizei gezielte nächtliche Besuche – Putins Spezialisten wussten, dass es genügte, einzelne wichtige Figuren des Protestes zu eliminieren, damit der Rest in Apathie verfiel.

    Lukaschenko überschritt nun eine rote Linie nach der andern. Lange waren Oppositionelle einfach ins Gefängnis gesteckt worden. Nun kam die Folter. Wenige Monate später folgten die Vergewaltigungen. Es folgten die Morde. Erst im Inland, dann im Ausland. Und schliesslich zwang die Luftwaffe ein kommerzielles Linien­flugzeug beim Überflug Richtung Litauen auf den Boden, in dem ein oppositioneller Blogger sass.

    Putin lieferte Lukaschenko im Prinzip denselben Service, den er einige Jahre zuvor dem syrischen Diktator Assad geliefert hatte.

    Die Alternative wäre das chinesische Paket gewesen: 1. Erkenne alle innenpolitischen Ansprüche Chinas an. 2. Kauf dir chinesische Überwachungs­technik, betrieben von einer Crew von chinesischen Spezialisten. 3. Akzeptiere chinesisches Investment – und wir machen dich auch persönlich reich. 4. Lehn dich zurück.

    Das Motiv für solche Hilfsdienste war ein doppelter Schock: 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, dann 2010 im Arabischen Frühling fielen Diktatoren wie Domino­steine. Damit wurde ihren überlebenden Kollegen klar:

    1. Mut und Rebellion sind ansteckend.

    2. Rebellion, egal wo, muss im Keim erstickt werden.

    3. Dabei lohnt sich Solidarität über alle Grenzen hinweg.

    In der Tat spielt die Ideologie unter autoritären Regimes fast keine Rolle mehr. Wie auch immer die offizielle Propaganda lautet, in der Praxis gibt es heute eine autoritäre Internationale.

    Lukaschenko ist nun zwar in der freien Welt ein Ausgestossener. Aber das bedeutet nicht, dass er isoliert ist. Er hat kein Problem mit Chinas Kommunisten, saudischen Scheichs, der Militärjunta in Burma, den Klerikern im Iran, den Taliban, dem sozialistischen Venezuela.

    Im 20. Jahrhundert war das noch anders: Dem Politbüro der Sowjetunion und einem faschistischen Diktator wie Pinochet in Chile waren die eigene Ideologie und ihr guter Ruf in der Welt noch umständliche Verrenkungen wert – und sie hätten jeden verhaftet, der sie für Leute gleichen Schlags erklärt hätte.

    Heute gibt es keine Scham mehr. Unter autoritären Regimes ist das Image so unwichtig wie die Regierungs­bilanz. Niemand hebt die Augenbraue, wenn man sein Land ruiniert hat, solange man die Macht behält. Maduro herrscht in Venezula über ein Armen­viertel, Assad in Syrien über einen Schlachthof.

    Und es ist im autoritären Lager auch kein Problem, wenn man – wie die Junta in Burma – einen Völkermord begeht. Und falls es Protest gibt, interessiert nicht, wie breit, friedlich, weltweit beachtet dieser Protest ist. Was zählt, ist, dass man ihn niederschlägt, in Minsk genauso wie in Hongkong.

    Rechtfertigungen braucht es auch nicht mehr. Meistens genügt ein Schimpfwort, etwa: «Imperialisten!» Putin gab sich Mühe. Er fand beim Angriff auf die Ukraine sogar zwei: «Nazis und Drogen­süchtige.»

    So läuft das im Club.

     

    Der Angriff im Westen

    Die Demokratie in der Ukraine war alles andere als perfekt. Genauso wenig ihr Präsident Selenski – fünf Monate vor der Invasion wurde enthüllt, dass er diverse Offshore-Konten eröffnet hatte.

    Trotzdem zögerten die Ukrainerinnen keine Sekunde, ihre unperfekte Demokratie gegen die zweitgrösste Armee des Planeten zu verteidigen. Sie hatten einen Grund, ihr Leben aufs Spiel zu setzen: Sie wussten noch aus Erfahrung, was es bedeutet, wenn ein Land dem Club beitritt.

    Weiter westlich hatte man mehr Glück. So viel, dass vergessen ging, dass man je welches gebraucht hatte.

    Nach dem Fall der Mauer, in den Neunziger­jahren, siegte die Theorie, dass es gar nicht anders kommen konnte: dass Demokratie und freie Märkte nicht das Resultat eines langen, gefährlichen Kampfes waren, sondern einer natur­gesetzlichen Entwicklung.

    Wie bei jeder Ideologie war die Strafe Blindheit. Man hielt die autoritären Strömungen, Parteien, Staaten für Zurück­gebliebene. Und nahm ihre Propaganda nicht ernst. So wenig wie später ihre Kriegs­erklärung.

    Der Einmarsch in die Ukraine hat plötzlich klar­gemacht: Der Faschismus ist zurück. Und zwar überall. Autoritäre Regierungen sitzen nicht nur in Russland. Sondern in China und Pakistan, Brasilien und Bolivien, im Iran und in Saudi­arabien, Indien und Nordkorea, Syrien und Ägypten – sowie in Ungarn, Serbien und Polen, mitten in der EU.

    Überhaupt gibt es nur wenige demokratische Länder, die frei von Krebs sind: Autoritäre Parteien wuchern überall in Europa. Und nicht nur Parteien: Während der Pandemie marschierten in ganz Europa spontane Bewegungen, deren harter Kern nur kurz bei der medizinischen Debatte blieb. Und dann schnell kippte: in Richtung radikale Politik (Diktatur stürzen!), Misstrauen (Politik, Wissenschaft, Presse – alle gekauft!), Wirklichkeits­verzerrung (der QAnon-Scheiss), Darwinismus (Durchseuchung trennt Starke von Schwachen), Sadismus (alle Geimpften sterben in zwei Wochen – gut so!), Gejammer (wir leben wie die Juden unter den Nazis), Grössenwahn (der Bundesrat muss uns die Regierung überlassen). Die einzige Konstanz dabei: Umgangs­formen aus der Hölle.

    Keine Frage, es gibt ehrenwerte Gründe, sich nicht impfen zu lassen. Aber keinen einzigen Grund, sich so zu benehmen. Der laute Teil der Proteste war eine Sauce von Esoterikerinnen, Verbitterten und den Rechts­radikalen, die ihrerseits fast gezwungen waren, mitzumarschieren, weil ihre Themen bereits ohne sie auf den Plakaten standen.

    Kein Zufall, dass Rechtsaussen-Politiker, Verschwörungs­anhängerinnen, Corona-Skeptiker und die Putin-Verehrerinnen nun zusammen­wachsen. So etwa zeigten nach der Invasion in die Ukraine 40 Prozent der SVP-Sympathisanten Verständnis für Putin. Und in Kanada hielten 26 Prozent der Ungeimpften den russischen Einmarsch für gerechtfertigt, aber nur 2 Prozent der Geimpften.

    Der autoritäre Block formiert sich. Und nicht durch Zufall sieht er fast überall in der Welt gleich aus.

    Seit Jahren haben Russland und China ungestört ihr Netzwerk aufgebaut. China nimmt seinen Einfluss vor allem durch harte Währung. Weltweit kaufen die Chinesen Infrastruktur: Häfen, Flughäfen, Tele­kommunikation, Immobilien, Schlüssel­industrien (wie in der Schweiz den Saatgut­hersteller Syngenta), dazu bauen sie eine gigantische neue Seiden­strasse durch Asien. Sodass sie eines Tages den Rest der Welt nicht einmal mehr erpressen müssen, weil alle wissen, dass ohne Peking das Licht ausgeht.

    Russland ging den billigeren Weg durch die Finanzierung einer Armee von Trollen, die die Demokratien der Welt mit Zweifel und Bullshit fluten. Während China durch Konstruktives die Welt einschnürt, gelang Russland ein Wunderwerk an Destruktivität – die erfolgreichste Sabotage­maschine der Geschichte. Der pausenlose Strom von Lärm, Gift und schierem Unfug schädigt die Effizienz der angegriffenen Länder durch Misstrauen, Reibereien, Zeitverschwendung.

    Plus zwei Triumphe, von denen die Sowjetunion nur hatte träumen können. Ohne den Angriff der russischen Propaganda gäbe es mit hoher Wahrscheinlichkeit: keinen Brexit, keinen Präsidenten Donald Trump.

    Nicht ohne Grund verlor Putin fast allen Respekt. Die zwei mächtigsten angelsächsischen Länder – gelähmt durch eine lächerlich billige Investition in Bullshit.

    Und weiss der Teufel, ob ihm diese Investition nicht noch den Sieg bringt – bei den amerikanischen Wahlen 2024. Denn die Republikaner sind bereits eine faschistische Partei. Für Trump sind sie bereit für alles – sogar zur Recht­fertigung des Sturms auf den Kongress. (So findet praktisch kein Republikaner mehr etwas dabei, wenn die Frau eines der sieben obersten Richter der USA sich mit Trumps Stabschef darüber austauscht, die Präsidenten­wahl für ungültig zu erklären, die gewählten demokratischen Politiker zu verhaften und vor ein Militär­tribunal zu stellen.)

    Die Republikanische Partei der USA ist mit Abstand die grösste Bedrohung für die Zivilisation im 21. Jahrhundert – bei einem Sieg 2024 würde Trump mit dem Putsch nicht mehr bis zwei Wochen vor Ende seiner Präsidentschaft warten.

    Das Entsetzliche ist, dass die Partei bis auf die Knochen verrottet ist. Sagen wir, Trump verliert 2024. Gewinnt dann seine Kopie 2028? Oder erst 2032?

    Wenn kein Wunder passiert, ist Amerika in naher Zukunft im Lager der Faschisten.

    Was wiederum heisst, dass man sich vor dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs nicht mehr fürchten muss. Er ist längst im Gang.

    Und das Ende ist alles andere als sicher: Autoritäre Regimes regieren etwa die Hälfte der Menschheit, sie haben Unterstützung von mächtigen Gruppen in den Demokratien, sie haben eine Propaganda­struktur und -strategie und sie haben ein gemeinsames Ziel: ein Land nach dem anderen zu kippen.

    Es ist Zeit, mit der eigenen Blindheit Schluss zu machen. Wir können uns keine weiteren Verluste leisten.

    Es geht in der Ukraine nicht nur um die Ukraine. Es geht um alles.

     

    Nach dem Aufstehen

    Eine Ermutigung ist, dass man mit seiner Inkompetenz nicht allein ist. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wurde bei den ersten Raketen­einschlägen am 24. Februar um 5 Uhr morgens zu Hause geweckt. Später sagte er: «Niemand von uns war für den Krieg bereit, bis er ausbrach, niemand von uns.»

    Der Präsident hielt sich an eine einfache Regel: «Wie mein Vater sagte: Wenn du keinen Schimmer hast, was du tun sollst, sei ehrlich und dann klappts schon. Weil, wenn du ehrlich bist, glauben dir die Leute. Versuch, nicht so zu tun als ob.»

    Und immerhin: Bis jetzt haben sich weder Selenski noch sein Land schlecht geschlagen.

    Aufrichtigkeit ist nicht die schlechteste Idee. Denn im Unbekannten hat man keinen anderen Kompass. Und wir sind in einer unbekannten Welt erwacht: ohne Neutralität zwischen Gut und Böse. Es gibt unglaublich viel zu überdenken, über Bord zu werfen, zu tun.

    Ein paar Aufgaben liegen auf der Hand:

    • Geld und Waffen in die Ukraine zu liefern: Schon deshalb, weil dieses Land auch unsere Freiheit verteidigt.

    • Im Finanzplatz zu recherchieren, wo Russland weiter verwundbar ist. Plus eine schnelle, vielleicht sofortige Abkoppelung vom russischen Gas.

    • Bei obigem nicht zu warten. Wie Selenski zu Recht bemerkte: «Wir hören, dass die Entscheidung über mehr Sanktionen davon abhängt, ob Russland Giftgas einsetzt. Das ist nicht die richtige Reihenfolge. Wir sind keine Meerschweinchen.»

    Der Rest wird einiges komplexer: Etwa der Umbau zum politischen Projekt und die Aufrüstung der EU; eine Wirtschaft, die weniger auf Effizienz als auf Resilienz angelegt ist; eine Energie­politik, die von den Öl- und Gas-Autokratien unabhängig macht; die Frage, wie die Demokraten in der Demokratie zusammen­arbeiten; die wirksamste Strategie gegenüber den U-Boot-Parteien der Autoritären; das Lahmlegen der Trollfabriken und der Aufbau von Gegen­propaganda in den autokratischen Ländern; bessere Nerven gegenüber Atombomben-Drohungen; das Beenden der Gewohnheit, auf Tritte ans Schienbein mit dem Überreichen einer Business-Visitenkarte zu antworten.

    Kurz: Lauter Dinge, für die die aktuellen Rezept­bücher leer sind.

     

    Die Rückkehr der Politik

    Das deshalb: Die Epoche unserer Jugend ist soeben unter­gegangen. Mit Putins Einmarsch wurde auch das letzte der drei grossen Versprechen der Neunziger­jahre gebrochen:

    1. Der freie Markt ermittelt rationale Preise –> der Crash des internationalen Bankensystems 2008

    2. Wandel durch Handel: Durch offene Märkte entstehen offene Gesellschaften –> die Riesenmärkte China und Russland exportieren die Autokratie

    3. Globalisierung eliminiert Krieg: Handels­partner zu bombardieren, ist ein schlechtes Geschäft –> Russlands Invasion

    Im Rückblick erscheint der Neoliberalismus fast rührend: als Wiederkehr der romantischen Idee «zurück zur Natur». Nur dass der Traum dieses Mal in ökonomischen Modellen ausgedrückt wurde: dass das Paradies wiederkehrt, wenn nur der Mensch nicht eingreift.

    Der Bankencrash, die Corona-Pandemie, die autoritäre Internationale zeigten, dass es kein Naturgesetz gibt, das zur Maximierung von Vernunft und Harmonie führt. Die Botschaft war stattdessen, dass es keine Ausrede mehr gab, sich vor Politik zu drücken. Weil ohne einen Rahmen alles zerfällt: die Freiheit, die Gesellschaft, sogar die Banken.

    Dazu geht der Motor der dreissig Jahre währenden ultraliberalen Epoche gerade kaputt – die Globalisierung. Das, weil sich zeigte, wie verwundbar komplexe Lieferketten die Welt machen.

    1. Während der Pandemie: wenn Grenzen schliessen – und ganze Branchen ohne Nachschub still­stehen.

    2. Durch die Wucht der Sanktionen: China und Co. werden versuchen, ihre Finanz- und Warenflüsse an den USA vorbei­zuleiten.

    3. Durch Russlands Angriffskrieg: Der Westen versucht, sich von Rohstoffen und Investments seiner Feinde unabhängig zu machen.

    Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Produktion lokaler, teurer, nationaler: Weil in einer in Lager gespaltenen Welt nicht mehr Effizienz das Hauptziel ist, sondern Resilienz.

    Es ist, wie Olivia Kühni in ihrem Essay schrieb, Zeit für die Rückkehr der Politik.

    So streiten am Grab des Neo­liberalismus zwei dezidiert politisch gedachte Wirtschafts­systeme um die Übernahme des Erbes: Big Brother und Big Government.

    • Big Brother: Wer die politische Macht hat, bekommt Zugriff auf die Wirtschaft. Und macht sich und seine Anhänger reich.

    • Big Government: Wer die politische Macht hat, verteilt möglichst viel des Kapitals an Projekte und Bevölkerung.

    Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren eine globale Mindest­steuer entstand, so wie Corona-Hilfspakete, und dass in der Schweiz gleich drei Steuer­erleichterungs-Vorlagen abgelehnt wurden. (Und kein Zufall, dass sowohl Biden wie Scholz mit der Parole «Respekt» in den Wahlkampf gingen.)

    Das, weil für viele Demokratien das Gefühl von Ungleichheit eine echte Gefahr geworden ist. Fühlt ein genügend grosser Teil sich zu wenig respektiert, reicht eine Wahl und das Land kippt.

    Immerhin stehen wir nicht das erste Mal an dieser Klippe.

     

    Kampf der Systeme

    Tatsächlich haben Freiheit und Kapitalismus schon ein paar Mal gegen autoritäre Systeme gesiegt – wie?

    Durch das, was autoritäre Systeme nicht hinkriegen: sich neu erfinden.

    Ihren einsamen Sieg im 19. Jahrhundert schaffte die liberale Revolution in der Schweiz. Er gelang ihr nicht im kurzen Sonderbunds­krieg, sondern im Wirbel danach. Als die siegreichen Liberalen in horrendem Tempo Verfassung, Gesetz­bücher, Gerichte, Volks­schulen, Universitäten, Währung, Eisenbahnen, Banken, etwas später die Volksrechte, kurz: ein ganzes Land aus der grünen Wiese stampften.

    Es war eine Verbeugung vor dem Menschen durch die Tat.

    In den USA war die Antwort von Franklin D. Roosevelt auf die Depression der Dreissiger­jahre «nichts zu fürchten als die Furcht selbst» – und Experimente: ein Chaos aus mehreren Dutzend Infrastruktur­programmen, Zerschlagung der Monopole, hohen Spitzensteuern, höheren Löhnen – das war die Wiege der westlichen Mittelklasse. Und Roosevelts Antwort auf den National­sozialismus war ein schamloser Griff in die legale Trickkiste: ein Vertrag, Grossbritannien (später auch der Sowjetunion) Tausende Schiffs­ladungen Kriegsmaterial «auszuleihen» – eine Unverschämtheit, die wahrscheinlich den Weltkrieg entschied. (Die US-Propaganda taufte die Waffen­schmieden «Förderbänder der Demokratie».)

    Die junge Mittelklasse, mit hohen Löhnen und hohen Steuern, gewann an den zivilen Förder­bändern auch den nächsten Kampf: den Kalten Krieg gegen das sowjetische Imperium.

    Der Kapitalismus überzeugte weniger durch Geschichts­theorie, sondern durch: Fernseh­geräte, Wasch­maschinen, Turmfrisuren, Zigaretten, Farbfilme, Existenzialismus, Swimming­pools, Rock ’n’ Roll, Einfamilien­häuser, Comics, Rock­konzerte, Strand­ferien, Revolten und Automobile.

    Also durch eine Fülle von quietsch­buntem Zeug, verkauft mit quietsch­bunten Versprechen. Dass eine Menge Schrott darunter war, war nicht so schlimm: Das Entscheidende war, dass der Kapitalismus sich entwickelt hatte, von Angebot zu Nachfrage, vom kühlen Blick des Fabrikanten zum träumerischen Blick des Verkäufers: Er begriff den Menschen als Wesen der Sehnsucht.

    Kurz: Die Demokratien der Vergangenheit liessen sich, umgeben von Feinden, etwas einfallen: einen liberalen Staat, den New Deal, die soziale Markt­wirtschaft. Sie lieferten ihren Bürgerinnen mehr Teilhabe. Und mehr Würde.

    (Würde ist im Deutschen nicht ohne Grund auch ein Konjunktiv: Würde besteht darin, Möglichkeiten zu haben.)

    Demokratische Erneuerung funktioniert bis heute als Kampf­strategie: Wie anfällig Autokratien darauf sind, sah man schon im ersten Monat des Krieges.

    • Mit einer neuen Philosophie überrumpelte die ukrainische Armee die russische Kriegs­maschine: Bei den Ukrainern entscheiden kleine Einheiten auf dem Feld, die Russinnen folgen der Befehlskette.

    • Dazu waren die Angreifer böse überrascht, dass in der Ukraine die einzelnen Bürger­meister und Gouverneure selbst entschieden – so war der Kriegsplan, die Regierung in Kiew zu kippen, schon vor dem ersten Schuss Altpapier.

    • Ebenso unterschätzte man in Moskau die Wucht des Wider­standes: Man glaubte nicht, dass Biden, der EU, Selenski etwas Energisches einfallen könnte. (Zyniker sehen alles voraus, ausser dass jemand ein Herz hat.)

    Ohne das würde nun die russische Flagge über Kiew wehen. Denn wenn beide Seiten nach den gleichen Regeln spielen, gewinnen die Autoritären – weil sie sich nicht daran halten.

    Nicht umsonst gehört zur Verehrung starker Männer der Kult der Grausamkeit. Mit der Begründung: Sie können noch harte Entscheidungen fällen. Und im Gegensatz zu den verweichlichten Demokratien noch Opfer bringen. Was auch stimmt: Prinzipien und Leute, auch die eigenen, sind für sie Spielmaterial.

    Doch die grosse Stärke der Demokratien ist gerade die: Ihnen können weder die Regeln noch die Menschen egal sein. Keine Demokratie funktioniert ohne Rechtsstaat – und keine Demokratie überlebt ohne Würde: ohne die Möglichkeit ihrer Bürgerinnen, etwas aus ihrem Leben zu machen.

    Selenski etwa weiss das: «Was immer passiert, wir alle müssen an die Zukunft denken, was aus der Ukraine nach dem Krieg wird, was wir vom Leben wollen, denn das ist der Krieg um unsere Zukunft.» Er hat recht: Wer gegen Leute wie Putin kämpft, muss an die Zukunft denken.

    Denn die grösste Gefahr droht Demokratien nicht von aussen, sondern von innen: Wenn Misstrauen und politischer Lärm sie lahm­gelegt haben und ein Kandidat wie Trump fragt: «Was habt ihr zu verlieren?»

    Die Entscheidung im Kampf der Systeme fällt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Politik. Genauer in der Frage, ob die Demokratien noch die Kraft und die Fantasie haben für einen grossen Wurf.

     

    Unser Job

    Und – schaffen wir etwas Neues?

    Noch vor ein paar Wochen hätte man gesagt: undenkbar. Doch seitdem sind viele undenkbare Dinge passiert. Die Vereinigten Staaten waren voraus­blickend. Europa einig. Und die Ukrainer hatten das Herz, das Können und die Geheimdienst­informationen, um die russische Militär­maschine auflaufen zu lassen.

    Es ist Zeit, ein paar eigene Meinungen über Bord zu werfen, zuzuhören, Bündnisse zu schliessen und schnell zu lernen. Denn der Faschismus ist zurück. Und er will eine Revanche. Noch weiss niemand, ob der kommende Krieg heiss oder kalt wird. Klar ist nur: Wir gewinnen, weil sonst nichts bleibt, was das Leben lebenswert macht. Oder eleganter gesagt: Russisches Kriegsschiff, fick dich!

    Das alles ist nichts Neues. Generationen haben für die Demokratien gekämpft, in denen wir aufgewachsen sind. Nun ist die Reihe an uns.