Wie führe ich ein gutes Leben, Aristoteles?

Aristoteles’ Tugendethik und ihre empirische Wiederbelebung in der positiven Psychologie

    In Aristoteles’ Tugendethik ist vor allem eines zentral: Die Begründung eines Leitfadens für das gute Leben. 300 Jahre vor Christus legte der antike Philosoph das Fundament für einen solchen Leitfaden in seinem Werk «die Nikomachische Ethik». In den letzten 50 Jahren hat die Tugendethik in der Moralphilosophie wieder an Prominenz gewonnen, so dass ihre Grundsätze bis ins Gebiet der positiven Psychologie vorgedrungen sind. In diesem Artikel wird dementsprechend eine schrittweise Heranführung an die aristotelische Tugendethik unternommen und darauf aufbauend der Zusammenhang der Tugendethik zum Values-In-Action-Modell aus der positiven Psychologie hergestellt. Mit dem psychologischen Modell kann nicht nur das gute Leben empirisch erforscht werden, sondern es können auch Interventionen entwickelt werden, um die Grundsätze von Aristoteles’ Leitfaden konkret in der Gesellschaft anzuwenden und im besten Fall das Leben vieler Menschen zu verbessern.

    Zu Beginn illustriert Aristoteles seinen Leitfaden für ein gutes Leben mit folgender Aussage: Er befähigt uns, einen Zielpunkt im Leben zu erkennen, um wie ein Bogenschütze das Richtige leichter zu treffen (Aristoteles 2020, 1094a23). Hauptbestandteil des Werkes ist also die Bestimmung des Guten als das Glück als auch die Untersuchung, wie das Glück durch Handeln zu erreichen ist. Gemäss Aristoteles kann man das Glück erreichen, indem man den eigenen Charakter kultiviert und lernt, durch Verwendung der Vernunft gemäss den von ihm beschriebenen Tugenden zu handeln. In diesem Sinne untersucht der antike Philosoph also zwei Dinge, die den Inbegriff des guten Lebens verkörpern: Richtiges Handeln und die Entwicklung von Glückseligkeit.

    Als sich die Antike dem Ende zuneigte ging allerdings auch Aristoteles’ Moralphilosophie immer mehr unter. Mit dem wachsenden Einfluss des Christentums schrieb «Gott» vor, wie man leben sollte. Das gute Leben entsprang nun nicht mehr dem Charakter und den inneren Tugenden, sondern dem Gehorsam gegenüber einem Schöpfer. Obwohl das Christentum schliesslich an Bedeutung verlor, richtete sich der Fokus nicht wieder nach innen. Stattdessen suchte man nach einem moralischen Gesetz, dessen Schwerpunkt weiterhin auf äusseren Regeln lag. Es entwickelten sich dabei zwei Ansätze: Der Konsequentialismus und die Deontologie. Konsequentialistische Theorien wie der Utilitarismus schlugen vor, den Fokus auf die Konsequenzen von Handlungen zu legen und dadurch das Wohlbefinden zu maximieren. Deontologische Theorien wie der Kategorische Imperativ Kants’ plädierten währenddessen für eine Übereinstimmung der Handlungen mit klaren Pflichten wie die Regel «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu (Hursthouse 2022). Auch in diesen Theorien findet sich zwar Platz für Tugenden, sie unterscheiden sich aber in grundlegender Weise von der Moraltheorie der Tugendethik. Während Konsequentialisten und Deontologen die Tugenden nämlich als Eigenschaften definieren, die zu guten Konsequenzen führen bzw. als Eigenschaften derjenigen, die ihre Pflichten zuverlässig erfüllen, widerstehen Tugendethiker dem Versuch, die Tugenden im Sinne eines anderen Konzepts zu definieren (Hursthouse 2022). Genau diese Unabhängigkeit von anderen Konzepten war es, welche schliesslich dazu führte, dass der Tugendethik in den letzten Jahrzehnten wieder grössere Beachtung geschenkt wurde. Auslöser für diesen Wandel in der Geschichte der Moralphilosophie war der berühmte Aufsatz «Modern Moral Philosophy» von Elizabeth Ansecombe (Ansecombe 1958). Darin kritisiert sie die Moralphilosophie als unvollständig, da sie auf der Vorstellung eines Gesetzes ohne Gesetzgeber beruht. Anstelle von Gesetzen gewannen daraufhin wieder Tugenden und Charakter an Bedeutung und somit auch die Philosophie Aristoteles’ – die Auffassungen des guten Lebens der antiken Philosophie sind wieder im Fokus.

    In den letzten Jahrzehnten sind Aristoteles’ Ideen sogar über die Grenzen der Philosophie hinaus und in die Forschung der Psychologie eingeflossen. Besonders im Bereich der positiven Psychologie fanden sie Anklang, beispielsweise im sogenannten «Values-in-Action» Modell (Kurz: VIA) von Martin Seligman und Christopher Peterson. Das Modell gilt im Grunde als das sozialwissenschaftliche Äquivalent von Aristoteles’ Tugendethik (Seligman et al. 2004, 89). Laut Seligman und Peterson reicht eine abstrakte Theorie durch plausible Herleitung der Tugenden – wie Aristoteles dies tut – nicht aus. Es braucht zusätzlich Konzepte und empirische Forschung, damit Interventionen erstellt und evaluiert werden können (Seligman et al. 2004, 3). Aufgrund dessen entwarfen die beiden Psychologen mit ihrem Modell eine konkrete Klassifizierung von Tugenden und Charakterstärken. Durch die psychologische Erforschung des Charakters gewinnt Aristoteles’ Leitfaden für das gute Leben an neuer Erklärungskraft und praktischer Ausrichtung.

    Aristoteles Tugendethik

    Um das gute Leben zu bestimmen, beginnt Aristoteles beim Allgemeinen statt bei den Einzelheiten. Er widmet sich zuerst der Bestimmung des obersten Guten und erarbeitet schliesslich von da aus den Weg dahin. Während diese oberste Gute Ziel jeder menschlichen Betätigung ist, betont Aristoteles zugleich, dass es bloss eine Zuspitzung darstellt, um die Wichtigkeit einer Ordnung unter den Zielsetzungen zu betonen (Aristoteles 2020, 1094a2-3, 1094a19-23). Es soll klarstellen, dass ein Zielpunkt notwendig ist, damit kein infiniter Regress der Ziele entsteht (Frede 2020, 322).

    Das oberste Gute bestimmt Aristoteles schliesslich als das Glück. Diese Aussage basiert er auf allgemeiner Übereinstimmung in der Gesellschaft (Aristoteles 2020, 1095a18-20). Uneinigkeiten bestehen hingegen darin, was das Glück ausmacht. Die Antwort darauf leitet Aristoteles von der Funktion des Menschen ab: Wie auch ein Künstler, ein Zimmermann oder unsere Körperteile Funktionen haben, so muss schliesslich auch dem Menschen an sich eine solche eigen sein (Aristoteles 2020, 1097b24-33). Die menschliche Funktion hebt sich von der Funktion der Pflanzen (Wachstum und Ernährung) sowie von der Funktion der Tiere ab, welche allein in der Wahrnehmung besteht. Aristoteles stellt deshalb fest, dass nur das tätige Leben dessen, was Vernunft hat, als Funktion des Menschen übrigbleibt (Aristoteles 2020, 1098a3-4). Das gute Leben hängt schliesslich von der guten Ausübung dieser Funktion ab. Zur Funktion hinzukommen muss also noch das Handeln hinsichtlich der Tugend. So besteht die Funktion des Menschen in der Tätigkeit der Vernunft und die Funktion des guten Menschen in der Tätigkeit der Vernunft gemäss der Tugend (Aristoteles 2020, 1098a6-18). Sehr zentral ist hierbei der Begriff der Tätigkeit. Dafür macht Aristoteles ein schönes Beispiel: Nur wer an den Olympischen Spielen teilnimmt, kann gewinnen – auch wenn es andere gibt, die noch besser wären (Aristoteles 2020, 1099a3-7). Genauso verhält es sich auch mit dem Leben: Nur wer daran teilnimmt und entsprechend der Tugend tätig ist, gewinnt auch die guten Dinge im Leben.

    Da die beiden Tugenden analog zum Aufbau der menschlichen Seele aufgeteilt werden, widmet sich Aristoteles vorweg der Seele. Anhand alter Schriften identifiziert er dabei zwei verschiedene Seelenteile: Einen nicht-rationalen Teil und einen rationalen Teil (Aristoteles 2020, 1102a27-29). Im nicht-rationalen Teil lassen sich zwei weitere Teile unterscheiden. Der erste Teil besteht aus dem vegetativen Vermögen, welches sich um Wachstum und Ernährung sorgt. Obwohl auch der zweite Teil dem nicht-rationalen Seelenteil angehört, hat er doch in gewisser Weise an der Vernunft teil (Aristoteles 2020, 1102b13-14). Er ist unbeherrscht, möchte sich der Vernunft widersetzen und sich von den Affekten leiten lassen. Aristoteles beschreibt den Teil folgendermassen: «Genauso wie gelähmte Körperteile, die man nach rechts bewegen will, stattdessen nach links abgleiten, so verhält es sich auch bei der Seele, da die Bestrebungen der Unbeherrschten dem der Vernunft Entgegengesetzten fehlten» (Aristoteles 2020, 1102b19-22). Der rationale Seelenteil wirkt sich auf diesen nicht-rationalen Teil der Affekte aus, indem er lernen kann, die Affekte zu zügeln und kontrollieren. Aristoteles schreibt, der begehrende und nicht-rationale Seelenteil der Affekte kann der Vernunft gehorchen wie einem Vater (Aristoteles 2020, 1102b30-1103a4). Nun zur Analogen Aufteilung der Tugenden: Die Tugenden, welche dem rationalen Seelenteil entspringen, nennt Aristoteles die rationalen Tugenden. Sie sind die Weisheit, Verständigkeit und Klugheit. Die anderen Tugenden sind die Charaktertugenden. Diese kommen genau dann zur Geltung, wenn der rationale Seelenteil den strebenden Seelenteil der Affekte zu kontrollieren vermag.

    Die Charaktertugenden stellen die wichtigste Neuerung in Aristoteles’ Ethik als eigenständige Disziplin dar (Frede 2020, 329). Sie sollen deshalb im Folgenden untersucht werden. Das Grundgerüst der Charaktertugenden ist die Theorie der Mitte. In diesem Sinne ist eine Charaktertugend eine erworbene Disposition zu moralisch richtigem Handeln, die in der Mitte zwischen Mangel und Übermass liegt. Eine solche triadische Entgegensetzung der Tugenden hat vor Aristoteles noch niemand vorgenommen – man hat der Tugend immer nur ein Laster gegenübergestellt (Frede 2020, 401). Diese Gegenüberstellung von Mangel und Übermass veranschaulicht Aristoteles am Beispiel der Körperkraft und Gesundheit (Aristoteles 2020, 1104a12-18): Sowohl übertriebenes Training als auch zu geringes Training zerstören die Körperkraft, so wie auch zu viel und zu wenig Essen und Trinken die Gesundheit ruinieren, während das Angemessene sie erzeugt, steigert und erhält. Im Grunde ist die Tugend also in ihrem Wesen und der Definition nach eine Mitte. Im Hinblick auf das Beste und das Richtige ist sie aber dennoch ein Extrem (Aristoteles 2020, 1107a7-9).

    Aristoteles belässt es nicht bei dieser groben Konzeption der Tugenden. Er legt eine Liste mit elf Tugenden dar und analysiert diese einzeln. Während diese Untersuchung der einzelnen Tugenden von Leserinnen und Lesern oft vernachlässigt wird, ist sie für Aristoteles sehr wichtig (Frede 2020, 522). Zum einen möchte Aristoteles damit seine Auffassung der Tugenden seinem Lehrer Platon gegenüber rechtfertigen. Platon hat im Gegensatz zu Aristoteles nur vier Kerntugenden benannt. Zum anderen möchte Aristoteles mit der Analyse der einzelnen Tugenden auch seine triadische Anordnung der Tugenden und Laster stützen. Aristoteles schreibt, seine Tugenden seien einer Tabelle zu entnehmen. Diese war vermutlich damals als Schaubild im Vorlesungsraum angebracht (Frede 2020, 436). Es lässt sich schliessen, dass Aristoteles davon ausgeht, damit alle wesentlichen Charaktereigenschaften mit seinem Tugendkatalog erfasst zu haben. Eine Rechtfertigung für dessen Vollständigkeit und Folgerichtigkeit gibt er aber nicht (Frede 2020, 523). Er gibt ausserdem zu, dass es trotz der Tabelle in Einzelfällen schwierig ist, die Mitte zu finden (Aristoteles 2020, 1109b14-26). Dies zeigt er am Beispiel von Zorn. Dabei muss man sorgfältig abwägen, wem gegenüber, aus welchem Anlass, in welchem Ausmass und in welcher Weise man zu Recht zornig ist.

    Allgemeine Kriterien lassen sich aber nicht angeben und so lobt man oft Mangel und nennt denjenigen ausgeglichen oder man lobt Übermass und nennt mannhaft, wer ständig zornig ist. Um die Notwendigkeit dieser sorgfältigen Abwägung aufzuzeigen, geht Aristoteles in Buch 3 und 4 genau auf die einzelnen Tugenden ein. Er bestimmt das Wesen, den spezifischen Gegenstandbereich und die angemessene Art des Verhaltens der Tugenden. Konkrete Anweisungen oder Beispiele für das Verhalten im Bereich der einzelnen Tugenden gibt Aristoteles jedoch nie.

    Schliesslich soll auch der rationale Seelenteil und somit die andere Art von Tugend erläutert werden. Neben den zuvor untersuchten Charaktertugenden, die mit dem irrationalen Seelenteil in Verbindung stehen, entspringen dem rationalen Seelenteil die andere Art von Tugend: die rationalen Tugenden. Diese lassen sich wiederum in zwei Teile gliedern: Die praktische Klugheit, die sich auf die Charaktertugenden und somit auf veränderliche Dinge bezieht und die Weisheit, die sich auf notwendige Tatsachen bezieht (Aristoteles 2020, 1139a6-9). Anders als die praktische Klugheit, kommt der zweite Teil der rationalen Tugenden – die Weisheit – weder mit den Charaktertugenden noch anderweitig mit dem irrationalen Seelenteil in Berührung. Sie ist nämlich nicht auf Handlungen ausgerichtet, sondern nur auf die theoretische Erkenntnis (Aristoteles 2020, 1139a26-30). Aristoteles legt grossen Wert darauf, hervorzuheben, dass sie die wertvollste Wissensart ist und noch weit über der praktischen Klugheit steht. Sie enthält nämlich «das Wissen von den erhabensten Dingen» (Aristoteles 2020, 1141a19-20). Die Gegenstände der Weisheit sind notwendig und unveränderlich (Frede 2020, 679). Diese Weisheit ist im Sinne einer philosophischen Tätigkeit zu verstehen. Sie ist die Kontemplation und Meditation über die ersten Dinge und den Sinn des Lebens. Somit ist sie auch die höchste Tätigkeit der Vernunft und die wertvollste Tugend. Wie so oft macht Aristoteles zur Veranschaulichung der Idee eine Analogie zur Medizin. Dabei entspricht die Weisheit der Gesundheit und die Charaktertugend der Medizin. So wie nun die Gesundheit sich selbst bewirkt, so bewirkt auch die Weisheit das Glück. Als ein Teil der Tugend macht sie uns dadurch glücklich, dass wir sie haben und tätig sind. Die Charaktertugend stellt hingegen zusammen mit der Klugheit das Ziel fest und führt – genau wie die Medizin zur Gesundheit – dazu hin (Aristoteles 2020, 1144a1-9). Während die Klugheit also «nur» dem menschlichen Wohl gilt, bezieht sich die Weisheit auf die besten Dinge im Kosmos (Frede 2020, 713). Da der Mensch nicht das beste Ding im Kosmos ist (Aristoteles 2020, 1141a20-24), kann auch die Klugheit nie Autorität über die Weisheit haben, genauso wenig wie die Medizin über die Gesundheit. Die Klugheit sieht lediglich zu, dass die Weisheit entsteht (Aristoteles 2020, 1144a7-11).

    Nachdem Aristoteles’ Umriss eines guten Lebens nun in seinen Grundzügen ausgebreitet wurde, fehlt noch ein zentrales Element: die Umsetzung. Wie kommt man zu so einem Leben und inwiefern ist es möglich, sich die beiden beschriebenen Tugenden, die zum Glück führen sollen, anzueignen? Natürlich hat Aristoteles auch diese Fragen nicht unbeantwortet gelassen. Jede der beiden Tugenden kann laut Aristoteles auf unterschiedliche Art und Weise erworben werden. Die rationale Tugend wird durch Belehrung erworben, während man sich die Charaktertugend durch Gewöhnung aneignen kann (Aristoteles 2020, 1103a16-19). Damit wird klar, dass keine der beiden Tugenden von Natur aus in uns entsteht. Sie sind zwar beide von Natur aus in uns angelegt, müssen aber zusätzlich durch die Tätigkeit unseres rationalen Seelenteils kultiviert werden. Besonders auf die Aneignung der Charaktertugenden geht Aristoteles ausführlich ein. Die Behauptung, dass auch sie bereits im Menschen angelegt sind, illustriert Aristoteles mit einem Stein, welcher von Natur aus nach unten fällt und niemals daran zu gewöhnen ist, nach oben zu steigen (Aristoteles 2020, 1103a19-23). Den Stein aktiv fallen lassen müssen wir aber trotzdem. Die Tugenden entstehen also nicht von Natur aus, noch müssen sie gegen die Natur angeeignet werden. Stattdessen sind wir laut Aristoteles von Natur aus dazu veranlagt, die Tugenden anzunehmen. Erst wenn wir dies tun und uns schliesslich an sie gewöhnen, dann können wir darin immer vollkommener werden (Aristoteles 2020, 1103a23-26). Diese Betrachtungsweise verbietet es, Aristoteles’ Werk ein biologisches Fundament zuzuschreiben. Der Mensch muss durch Tätigkeit seine angeborene Fähigkeit zu tugendhaftem Handeln entwickeln und anwenden. Erst dadurch kann er gemäss Aristoteles seine natürliche Bestform erreichen (Frede 2020, 405).

    Eine Wiederbelebung in der positiven Psychologie

    Betrachten wir nun die von Aristoteles’ Leitfaden abstammende empirische Forschung, die seine Untersuchungen mit neuer Begründunsgskraft stärkt. Da der Fokus des Leitfadens auf dem Innenleben des Menschen basiert, ist es naheliegend, dafür das Feld der Psychologie zu betreten. Besonders im Bereich der positiven Psychologie lässt sich korrespondierende Forschung finden, und das beispielsweise im Values-In-Action Modell (VIA) von Martin Seligman und Christopher Peterson. Genau wie Aristoteles beschäftigt sich die positive Psychologie mit dem Wohlbefinden und den guten Seiten des Menschen. Seit dem Antritt von Martin Seligman als Präsident der American Psychological Association im Jahr 1998 gewann die neue Forschungsrichtung zunehmend an Prominenz (SWIPPA, 2020). Seligman rief bei seinem Antritt dazu auf, durch die positive Psychologie eine «neue Wissenschaft menschlicher Stärken» zu fördern. Entgegen der traditionellen Psychologie, die sich überwiegend mit Defiziten und pathologischen Aspekten des menschlichen Daseins beschäftigt, widmet sich die positive Psychologie ausschliesslich den positiven Aspekten des Menschseins. Die Kernidee der Forschung ist es, dass die Abwesenheit von psychischer Krankheit zwar vorübergehend das Wohlbefinden ermöglicht, aber dies allein – genau wie bei Aristoteles – noch nicht zu einem guten Leben führt (SWIPPA, 2020).

    Seligman und Peterson legen mit ihrem VIA-Modell, welches sie im Buch «Character Strengths and Virtues» (2004) entwickeln, eine erste Forschungsgrundlage. Das Buch stellt ein Pendant zum «Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders» (DSM) der American Psychiatric Association dar, in dem eine Klassifizierung von Bewertungsstrategien für psychische Störungen gemacht wurde, was zu wirksamen Behandlungen geführt hat (Seligman et al. 2004, 3-4). Die Bemühungen, Interventionen zu entwickeln, die verhindern, dass psychische Störungen überhaupt auftreten, waren zu dem Zeitpunkt noch nicht weit fortgeschritten. Es gab kein mit dem DSM vergleichbares Handbuch für das gute Leben. Genau dies befanden Seligman und Peterson jedoch als sehr vielversprechend. Aus diesem Grund entwickelten sie in ihrem Buch entlang dem gleichen Schema des DSM eine Klassifikation von Charakterstärken und Tugenden, das sie ein «Manual of the Sanities» nennen, also ein Handbuch des gesunden Menschen. Dabei konzentrieren sie sich entgegen dem DSM darauf, was am Menschen richtig ist, insbesondere auf die Charakterstärken, welche ein gutes Leben ermöglichen (Seligman 2004, 4). Seligman möchte mit diesem Handbuch nicht abstreiten, dass es in der Psychologie nicht wichtig ist, sich auf die menschlichen Probleme zu fokussieren und dies auch in Zukunft nicht aufgegeben werden soll. Probleme wird es immer geben. Psychologen, die aber an der Förderung des menschlichen Potenzials interessiert sind, müssen sich anderen Fragen widmen als ihre Vorgänger, die sich mit menschlicher Krankheit beschäftigt haben. Anstelle eines solchen Krankheitsmodells der menschlichen Natur glauben Seligman und Peterson, dass Tugenden und Charakterstärken das Fundament des menschlichen Seins darstellen. Diese Stärken können kultiviert werden, so dass Aktivitäten, die mit den Stärken kongruent sind, den Weg zum psychologisch guten Leben darstellen (Seligman et al. 2004, 5).

    Mit ihrem VIA-Modell entwickeln die beiden Psychologen eine Klassifizierung von Tugenden und Charakterstärken. Eine abstrakte Theorie wie diejenige von Aristoteles reicht laut Seligman und Peterson für eine solche Klassifizierung nicht aus. Es braucht zusätzlich Konzepte und empirische Forschung, damit Interventionen erstellt und evaluiert werden können (Seligman et al. 2004, 3). Im Gegensatz zu Aristoteles leiten Seligman und Peterson ihr Ziel nicht plausibel her. Stattdessen analysieren sie den Lauf der Geschichte und stellen dabei fest, dass durchgehend und in allen Kulturen die gleichen Tugenden geschätzt werden (Seligman et al. 2004, 87). Die Klassifizierung findet neben der von Aristoteles betrachteten Tugend noch auf zwei weiteren Ebenen statt: die Charakterstärken und die Themen. Die Untersuchungen und Messungen ergeben schliesslich eine Liste aus 24 Charakterstärken, die sechs Kerntugenden zugeordnet werden können und immer im Kontext von situationsabhängigen Themen vorhanden sind. Der Ausgangspunkt und Fokus der Nachforschungen sind die Charakterstärken, da diese laut Seligman und Peterson eine gute Balance zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten darstellen.

    Die Kerntugenden (Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mässigkeit und Transzendenz) wurden in allen Kulturen und im Laufe der Zeit übereinstimmend geschätzt (Seligman et al. 2004, 14). In historischen Umfragen kommen sie immer wieder zum Vorschein. Seligman und Peterson argumentieren, dass sie universell sind und womöglich sogar in der Biologie durch einen evolutionären Prozess gegründet wurden. Die beiden Psychologen schreiben, dass ihnen bei ihrer Forschung oft entgegengehalten wurde, dass es keine Tugenden gibt, die universell und in allen Kulturen geschätzt werden (Seligman et al. 2004, 33). Sie gaben dennoch nicht auf, verliessen sich auf die Empirie und erforschten die Frage, welche Tugenden eine vorbildliche Person in allen Bereichen der Gesellschaft wie der Philosophie, Religion, Politik und Bildung ausmacht. Dabei konzentrierten sie sich besonders auf dominante Traditionen wie dem Taoismus in China, dem Hinduismus in Südasien oder dem Christentum im Westen. Nach Abschliessen dieser Datenerhebung wurde jede Liste an Tugenden durch Auffinden thematisch ähnlicher Tugenden zu einer sich abzeichnenden Kerntugend analysiert (Seligman et al. 2004, 35). So ergab sich schliesslich eine historische und kulturübergreifende Konvergenz der sechs Kerntugenden. Auch bei Aristoteles lassen sich diese Tugenden grösstenteils wiedererkennen. Während Aristoteles’ Liste die ursprünglichen platonischen vier Tugenden Umfasst (Weisheit, Gerechtigkeit, Mut, Mässigung), so fügt er ihnen noch eine Reihe weiterer Tugenden hinzu wie Freundlichkeit, Grosszügigkeit, Unterhaltsamkeit oder Besonnenheit (Frede 2020, 436). Die Transzendenz erhält bei Aristoteles noch keinen offiziellen Status. Ihre wichtige Stellung wird in seinem Werk jedoch klar deutlich, da er die Tugend der Weisheit als die vollkommenste bezeichnet. Deren Ausübung, die Kontemplation und Philosophie, ist transzendent, da sie auf ein «göttliches Element» im Menschen hinweist (Seligman et al. 2004, 47). Auch die Menschlichkeit benennt Aristoteles nicht ausdrücklich als Tugend. Dennoch finden sich in seinem Werk häufig Begriffe wie Freundschaft, Grosszügigkeit und Wohltätigkeit wieder, was eine Tugend der Menschlichkeit problemlos zulässt.

    Diese empirische Erforschung und Bestätigung des Aristotelischen Tugendkatalogs macht das VIA-Modell von Seligman und Peterson sehr wertvoll für eine Widerbelebung der Tugendethik in der Moderne. Das ist aber bei weitem noch nicht alles. Was das VIA umso gewinnbringender macht, ist schliesslich der Schritt von der abstrakten Ebene der Tugenden auf die konkrete Ebene der Charakterstärken und die noch konkretere Ebene der Themen. Im Grunde genommen sind die Stärken als Prozesse und Mechanismen die psychologischen Zutaten, welche die Tugenden definieren. Mit diesem Vorgehen taucht das VIA tiefer in die Erforschung der menschlichen Psyche ein als Aristoteles. Mit der gleichen Methode wie bei der Klassifizierung der Tugenden entwickelten Seligman und Peterson die oben genannte Liste der 24 Charakterstärken. Dafür sammelten sie unzählige Daten von Stärken historischer Persönlichkeiten wie Karl dem Grossen, über Programme zur Charaktererziehung, Grusskarten, populären Songtexten, bis hin zu den Profilen von Pokémon-Figuren (Seligman et al. 2004, 15). Um die ermittelten Stärken zu konsolidieren, suchten Seligman und Peterson schliesslich nach ähnlichen Eigenschaften und stellten so eine Reihe an Kriterien auf, welche von Charakterstärken erfüllt werden müssen. Ein solches Kriterium besagt beispielsweise, dass eine Stärke zu vielen Erfüllungen beiträgt, welche für einem selbst als auch für andere das gute Leben ausmachen. Beispielsweise kann die Tugend der Weisheit durch die Stärken Kreativität, Neugierde, Liebe zum Lernen, Offenheit und Perspektive erreicht werden (Seligman et al. 2004, 13). Seligman und Peterson sind dabei zufrieden, jemanden, der pro Tugend ein bis zwei Stärken aufzeigt, als von gutem Charakter zu bezeichnen. Eine interessante Überlegung ist es, ob Aristoteles dieser Feststellung zustimmen würde oder, ob für ihn eine stärkere Verinnerlichung der Tugenden notwendig ist, um von wahrlich gutem Charakter zu sein. Weiterführende Erforschungen an diesem Punkt wären vielversprechend.

    Schliesslich beziehen Seligman und Peterson die Charakterstärken auf situationsabhängige Themen. Sie sind die spezifischen Gewohnheiten, welche die Menschen dazu führen, in gegebenen Situationen die passende Charakterstärke zu manifestieren (Seligman et al. 2004, 14). Auch hier zeigt sich wiederum eine interessante Parallele zu Aristoteles’ Konzeption. Auch er sprach sich dafür aus, dass man die Tugenden durch Gewohnheit verinnerlichen und über die Zeit hinweg immer wieder ausüben muss, um einen guten Charakter zu entwickeln. Im Gegensatz zu den Charakterstärken sind die Themen in spezifischen Situationen lokalisiert. Beispielsweise sind die Themen der Empathie, Inklusivität und Positivität relevant für die Exzellenz im Bereich des Arbeitsplatz. Alle drei Themen fallen auch unter die Charakterstärke der Freundlichkeit, welche wiederum zusammen mit Liebe und sozialer Intelligenz unter die Tugend der Menschlichkeit fällt. Es kann nun sein, dass jemand bei der Arbeit als auch zuhause sehr kompetitiv ist, dieses Thema sich jedoch auf unterschiedliche Weise manifestiert. Ein Thema macht also oft nur Sinn, um ein Verhalten in einer bestimmten Umgebung zu beschreiben. Durch diese Themen können Seligman und Peterson das VIA vor legitimer Kritik schützen, da es grosse sozio-kulturelle Unterschiede gibt, wie die Menschen das Gute auffassen. Variationen finden laut den Psychologen nämlich immer auf der Ebene der Themen statt und nicht auf derjenigen der Charakterstärken und schon gar nicht auf der Ebene der Tugenden (Seligman et al. 2004, 14).

    Was das VIA schliesslich von vielen früheren Versuchen, den guten Charakter zu beschreiben, unterscheidet, ist die Beschäftigung von Seligman und Peterson mit deren Messung und Bewertung. Aufgrund davon können Möglichkeiten erarbeitet werden, um Massnahmen in der angewandten Forschung einzusetzen. Die Psychologen betonen, dass ihre Bewertungsarbeit ein laufendes Projekt ist und es für die Ausarbeitung von Massnahmen noch viel Arbeit braucht (Seligman et al. 2004, 625). Um die Tugenden und Charakterstärken messen zu können, entwarfen Seligman und Peterson zusammen mit dem Amerikanischen Values-in-Action Institute einen Selbstauskunftsfragebogen, den sogenannten VIA-IS1. Seit 2004 wird der Fragebogen in dieser Form eingesetzt und kontinuierlich weiterentwickelt (Universität Zürich, 2015). Für die auf dem Fragebogen basierende konkrete Anwendung des VIA-Modells in der Gesellschaft betonen die Forscher folgende Faustregel: Es gilt Lebensbereiche zu finden, in denen Exzellenz anerkannt, gefeiert und gefördert wird (Seligman et al. 2004, 639). Offensichtliche Beispiele dafür sind der Sport, der Arbeitsplatz, Freundschaften, Kindererziehung oder die Schule. Die Klink ist hingegen kein guter Ort, um nach Spitzenleistungen zu suchen. Genau wie bei Aristoteles sind die aus der positiven psychologischen Forschung von Seligman und Peterson resultierenden Interventionen darauf ausgerichtet das gute Leben zu erhalten und kultivieren. Der Unterschied: Mit dem VIA-Modell kann Aristoteles’ Theorie konkret in der Gesellschaft angewendet und dazu genutzt werden, vielen Menschen einen möglichen Leitfaden für das gute Leben zugänglich zu machen.

     

    Literatur

    Anscombe, G.E.M. 1958. “Modern Moral Philosophy”. Philosophy, 33:1–19.

    Christopher, Peterson & Seligman, Martin E. P. 2004. Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford: Oxford University Press.

    Frede, Dorothea. 2020. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzung mit Einleitung und Kommentar. (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Band 6.1 und 6.2). Berlin/Boston: Walter de Gruyter.

    Hursthouse, Rosalind & Glen Pettigrove. 2022. “Virtue Ethics”. In Zalta, Edward N. & Nodelman, Uri (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford: Metaphysics Research Lab, Stanford University.

    Universität Zürich. 2015. “VIA-IS. Information zur Interpretation Ihrer Ergebnisse”. Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik. Universität Zürich. https://www.charakterstaerken.org/VIA_Interpretationshilfe.pdf