Lebenskunst

Ein anstößiger Titel!

«Philosophische Lebenskunst», das ist der Titel einer philosophischen Disziplin, der, wie man ihn dreht und wendet, aneckt.

    Diejenigen, die der Philosophie mit einiger Skepsis gegenüberstehen, sehen sich in ihrem Urteil bestätigt, dass die Philosophie mehr Probleme schafft als löst, konkret: Sie empfiehlt selbst das Leben zu lehren, wo dies doch so ziemlich das einzige ist, das wir ganz einfach beherrschen, denn wir tun es ja immer schon. Den Gebildeten unter den Verächtern der Philosophie kommt dann schnell einmal Thales in den Sinn, also den Begründer der europäischen Philosophie, der sich so tief in weltabgehobene Gedanken verstieg, dass er in einen Brunnen vor seinen Füssen stürzte. Kritiker der Lebenskunst finden sich aber auch in der Philosophie: Den meisten Fachphilosophen und –philosophinnen gilt die Lebenskunst als seichtes Gewässer, Mit dieser Ansicht kann man sich mühelos auf Kant beziehen, der die Lebenskunst-Philosophie als die Bedrohung der (wahren) Philosophie betrachtet: Wer sich nicht länger an strenge Begriffe hält und statt dessen einen "salto mortale" veranstaltet, beginnt "poetisch zu philosophieren", was nach Ansicht der Königsberger Buchführung ebenso merkwürdig wäre, als würde ein Kaufmann "seine Handelsbücher künftig nicht in Prosa sondern in Versen schreiben." (1) In seiner Auseinandersetzung mit Christian Garve (1742-1798) hat Kant für derlei Ungereimtheiten einen Begriff populär gemacht, der bis heute als tauglicher Totschlagsbegriff gilt, der populäre Begriff lautet "Popularphilosophie". Unter Popularphilosophie versteht Kant "einen ekelhaften Mischmasch von zusammegestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Prinzipien." (2) Lebenskunst entspricht nun ziemlich genau dem, was Kant als "Mischmasch" bezeichnet, denn hier werden beispielsweise Wahlentscheidungen und ihre empirischen Bedingungen, beispielsweise die der eigenen leiblich-körperlichen Befindlichkeit, des naturalen und sozialen Umfeldes und Vieles mehr zusammengemischt.

    2. Was Lebenskunst ist und was Lebenskünstler nicht sind

    Lebenskünstler, so lautet ein zeitgenössisches Urteil, sind selbstzentriert bis hin zum Egoistischen und Egomanischen. Meiner Meinung nach sagt dieses Urteil mehr über unsere Zeit aus als über die Lebenskunst: Lebenskünstler, so möchte ich behaupten, erscheinen deshalb als selbstzentriert, weil sie sich vor der Kultur der Gegenwart, die ich als besonders selbstvergessen bezeichnen möchte, besonders deutlich abheben. In unserer Kultur, die auf der einen Seite von einer extremen materialistischen Orientierung geprägt ist und auf der anderen Seite durch eine Theoriesprache getränkt ist, die das gelebte Leben immer weniger zu fassen vermag, wirken Lebenskünstler besonders grell. Auffällig bis anstössig waren Lebenskünstler aber immer schon. Besonderen Anstoss erregte bereits der erste Lebenskünstler der abendländischen Kultur, Sokrates: Sokrates (469-399) lehrt, wie vielleicht kein anderer, was Lebenskunst bedeutet. Dies tut er dadurch, dass er sein Leben lebend darstellt. Dies tut er nicht durch Belehrung, etwa in dem er sagen würde, «ich lebe jetzt so oder tue dies und nicht jenes, um ein Kunstwerk aus meinem Leben zu machen.» Beispielgebend für die Lebenskunst wirkt Sokrates, weil er mit seinem Leben gerade nichts zeigen will, und gerade nicht belehren will. Die Gestaltung seines Lebens ist das Thema von Sokrates´ Leben, ohne das sein Sterben gar nicht zu verstehen wäre. In dem Werk seines Lebens erscheint Sokrates so überzeugend, dass er einigen als der einzige Freie der europäischen Kultur gilt. Wenngleich vielleicht nie mehr erreicht, so ist Sokrates doch das grosse Vorbild geworden. Freiheit ist seither das grosse Ziel der Menschheit geblieben. Freiheit, in diesem Sinne ist jedoch nicht zu verwechseln mit Autonomie, wie sie vor allem unter Federführung Kants sich herausbildet: Freiheit, wie sie sich in einem Prozess der Gestaltung des eigenen Lebens ebenso zum Ausdruck bringt, wie sie diese Gestaltung erst ermöglicht, ist zu verstehen als Autarkie. «Autarkeia» meint die innere Freiheit, ein Zustand, bei dem das Ich nur von sich selbst abhängig ist. Diesem Ziel der Autarkeia sind in der Nachfolge Sokrates` Lebensentwürfe vorgestellt worden, die die Abhängigkeit von Anderem und Anderen zu verringern versuchen. Trotz der im Einzelnen bestehenden Unterschiede kommen diese Lebensentwürfe darin überein, dass Autarkie nicht in einer Bewegung nach aussen, sondern alleine von innen her begründet werden kann. Diesem Ziel gemäss, muss man, wie es Epiktet (50-138) empfiehlt, dem eigenen Leben ein "festes Gepräge und Muster" (3) geben. Und hierhin liegt die Herausforderung eines jeden Projekts der Lebenskunst: Diesen Rahmen, in den man sein Leben fasst, muss jeder, der sein Leben leben will und d.h., jeder, der sein Leben als sein Leben leben will, selber bauen. Die Rahmung des eigenen Lebens offenbart dabei die Besonderheit des menschlichen Lebens. Das Kunstwerk, das auf diese Weise entsteht, ist ein originäres Werk. Und in dieser Weise sind wir alle Künstler unseres Lebens. Und wir sind dies, biographisch gesehen, schon sehr lange. Seit dem wir den Weg unseres Lebens als unseren Lebensweg zu begreifen begonnen haben, haben wir in Permanenz nahezu unendlich viele Entscheidungen darüber getroffen, wie wir leben wollen bzw. wie wir unser Leben leben wollen. Damit haben wir seit dieser Zeit auch begonnen, unsere Auto-Biographie zu schreiben. Auch hier wird deutlich, dass die Natur und die Kultur nicht voneinander zu trennen sind, denn wie wir uns zu unserer Natur verhalten, diese Frage unserer Selbstkultur, schreibt sich nicht weniger in unser Leben ein, wie die Wahl unserer Philosophie. Der Begriff «Auto-Biographie» ist daher wörtlich zu verstehen, als das, was sich in unser Leben selbst eingeschrieben hat. Künstler, Künstlerin unseres Lebens sind wir also alle. Wozu brauchen wir dann aber eine philosophische Lebenskunst?

    3. Lebenskunst als Aufklärung

    Der philosophischen Lebenskunst im Besonderen kommt dieselbe Aufgabe zu wie der Philosophie im Allgemeinen: das ist Aufklärung. Philosophie hilft uns, einiges von dem, was wir können und vermögen, besser zu verstehen und in der Folge vielleicht auch besser zu machen. Diese Besserung verdankt sich Einsichten, die uns entweder durch die Philosophie erst vermittelt werden oder durch die Philosophie immerhin vertieft werden. Im Folgenden möchte ich nach dem Potential der genannten Einsichten fragen und ausloten, warum es lohnend sein kann, sich diesen Einsichten zu öffnen. Diese Frage drängt sich auch deshalb auf, weil die genannten Einsichten nicht in erster Linie die Annehmlichkeiten des menschlichen Daseins befördern. Vielmehr verhelfen sie im Sinne des Nietzscheschen «Werde, der Du bist» (4), das eigene Menschsein zu artikulieren und weiter zu entwickeln. Dabei gewinnt der Mensch, wie wir gesehen haben, Autarkie. Diese Minderung der Drücke von vielfachen Abhängigkeiten in denen sich der Mensch befindet, ist jedoch nur ein sekundärer Effekt der Lebenskunst. Primärer Effekt der Gestaltung des Lebens ist die Grundlegung eines Selbstverhältnisses, das allen anderen Selbstverhältnissen vorausgeht. Dieses Selbstverhältnis möchte ich als Authentizität bezeichnen. Anders als die auf den Möglichkeitssinn bedachte und auf Selbstreflexion angewiesene Annahme der Autonomie setzt die Authentizität bei einem vorreflexiven Selbstverhältnis an. Präreflexives Wissen ist den Menschen vielfach und nahezu über ihre gesamte Lebensspanne zugänglich. Primäre Vorstellungen des Bei-Sich-Seins sind unabhängig von selbstreflexiven Kompetenzen möglich und werden vor allem bei Störungen und Verletzungen der Authentizität erlebt. (5) Bevor Autonomie entwickelt werden kann, muss der Mensch seine Authentizität erfahren können. Und nicht erst als autonomer, sondern bereits als authentischer Mensch kommt er zu sich. In seiner Authentizität wird er auch anderen gegenüber deutlich. Das gelebte und gestaltete Leben wird so zum Gesicht des Menschen. Mit seinem Leben wird er den anderen unverwechselbares Gegenüber; sie erkennen ihn an und identifizieren sein Leben mit seiner Person; und jeder Künstler, jede Künstlerin des Lebens findet in sich den Menschen seines bzw. ihres Lebens. Lebenskünstler entwerfen ein Leben, das authentischer Ausdruck ihres Selbst ist. Die Authentizität des Daseins, wie sie sich exemplarisch in den genannten Beziehungen zeigt, die man lebend, also in bewusst gestaltetem Vollzug des Lebens, begründet – also beispielsweise die Beziehung zu anderen Menschen, zur Natur, zum Leib – dieser Authentizität kommt eine ethische Bedeutung zu: Authentizität artikuliert sich unter anderem durch die Vielzahl von Wahlentscheidungen, die derjenige, der sein Leben gestaltet, trifft: In all diesen Entscheidungen, wenn beispielsweise jene Lebensform einer anderen vorgezogen wird, artikulieren sich sowohl Wertungen wie auch Werte. Damit verweist die Authentizität des Lebens auch auf eine Ethik. Die Ethik der Authentizität unterscheidet sich dabei grundlegend von einer Ethik der Autonomie. Lebenskünstler kümmern und orientieren sich nicht an den Vorstellungen und Erwartungen der anderen und ihrer Umwelt, sondern entwickeln ihr Leben aus sich heraus: Sie horchen also nicht auf die unterschwelligen Erwartungen von Macht und Geltung, wie sie die Gesellschaft einem einflüstert, sondern sie kultivieren ein Leben, das ureigensten Vorstellungen von Lebendigsein entspricht: Lebenskünstler suchen die Beziehung zu anderen Menschen unabhängig ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres damit verbundenen Mehrwertes, Lebenskünstler öffnen sich für Naturerfahrungen, sie leben in Gärten und mit Tieren und kultivieren bei all dem ein Wahrnehmungsbewusstsein, das unverstelllt ist: Die Wahrnehmung der Lebenskünstler ist nicht verstellt durch fremde Erwartungen, die wie eine Fremdwährung sind, die ich im eigenen Land nicht nutzen und höchstens tauschen kann. So wollen auch Lebenskünstler sich nicht auf Tauschvaluta einlassen, sondern selber leben.

     

    *Der Text basiert auf "Lebenskunst des Naturzeitraum. Vom Ringen um die dritte Dimension." In A. Classen (Hg.): Wahres Leben und Tod vom 16. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Berlin 2012: De Gruyter, S. 111-136.

    1) I. Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe Bd. VI, Frankfurt/M. 1977, S. 386f.

    2) I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VII. Frankfurt/M. 1974, S. BA 31.

    3) Epiktet, Handbüchlein der Moral. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 1992, Nr. 33, S. 51.

    4) F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, siehe Anm.3, Aph. 270, S. 519.

    5) A. Brenner, Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. Würzburg 2006, S. 241f.