Täglich hören wir auf den Kanälen der mittlerweile unsere Lebenswelten prägenden Medien von unfreien Staatsformen, von Menschen, die sich gegen ihre Unterdrücker erheben und dafür einen hohen Preis zahlen, von Vergewaltigungen, Menschenhandel und allerlei andern Grausamkeiten. Was in den Medien thematisiert wird erzeugt auch einen gewissen Widerhall in der Bevölkerung. Je nach Tragweite des Themas fällt der Widerhall unterschiedlich aus. Bei schrecklichen Taten folgt auf den ersten Schock das moralische Urteil über den Täter, die Tätergruppe oder die ausführende Instanz. Man verlangt nach einem Ausgleich, wie auch immer dieser Begriff geartet sein sollte. Dabei geht es nicht nur um Vergeltung, sondern auch darum, dass die unmenschlich handelnden Menschen aus dem Verkehr gezogen werden sollen, sodass diese keinen weiteren Schaden anrichten können.
Kurz gesagt: Man bestraft diese Menschen für ihre Unmenschlichkeit.
Bei dieser Feststellung wird der eigentliche Knackpunkt klar: Wenn man die Unmenschlichkeit bestrafen will, dann muss man gezwungenermassen mit einer Definition der Menschlichkeit aufwarten.
Man muss sich fragen, was den Mensch zum Menschen macht. Diese Frage kann mit dem Begriff der Menschenwürde beantwortet werden. Diese Zuschreibung von Wert, welche unabhängig von Rasse, Kultur oder Religion geschehen muss, ist jedem Menschen gegeben. Dieser Wert resultiert aus der Einhaltung der universalistischen Menschenrechte. Kant formulierte seine Gedanken zur Menschenwürde in seiner Idee des Instrumentalisierungsverbots, wonach jeder Mensch ein Zweck an sich sei und nie für einen anderen Zweck eingespannt werden dürfe. Seine Menschenwürde wird demnach dann verletzt, wenn ein Mensch bloss als Mittel für fremde Zwecke verwendet wird.
Dennoch erklärt dieses Instrumentalisierungsverbot nicht, was es für Folgen mit sich zieht, wenn Menschen die Menschenwürde abgesprochen wird.
Als die grauenvollster Auswuchs der Geschichte bezüglich der Würde des Menschen gilt das dritte Reich. Als ein nach dem Zeitalter der Aufklärung undenkbares Szenario stellte der Nationalsozialismus eine Zäsur dar für den Glauben an einen irreversibel zivilisierten Westen.
Als die Kooperative zwischen West und Ost siegreich aus dem zweiten Weltkrieg hervorging, nahm ein komplexes Thema der Jurisdiktion seinen Lauf:
Wie sollte man die Nazis und ihre Schergen für ihre Untaten bestrafen?
Es war den Meisten klar, dass die Nazis für ihren Völkermord gerade stehen mussten, es stellte sich aber die Frage, nach welchem Gesetz man die Nazis verurteilen sollte. Die Täter handelten zum Zeitpunkt der Untaten nicht gegen das bestehende deutsche Recht, wodurch sie nicht durch ebendieses verurteilt werden konnten.
Einer der berühmtesten Prozesse der Aufarbeitung der Kriegsgeschichte war derjenige von Adolf Eichmann. Er fand unter grosser Beachtung der Öffentlichkeit in Jerusalem statt. Adolf Eichmann war während der NS-Zeit in Deutschland Obersturmbannführer und hatte die Aufgabe von seinem Schreibtisch aus die Logistik der Deportation von rund sechs Millionen Juden sicherzustellen. Für die Berichterstattung der New York Times wurde Hannah Arendt nach Jerusalem geschickt, mit der Aufgabe, über den Prozess Korrespondenz zu führen.
Einer der interessanten Gedanken, die sie entwickelt hat, ist derjenige über die Menschenwürde. Die kruden Überlegungen der Nazis bezüglich der Behandlung von „Untermenschen“ weisen auf eine gewichtige Meta-Ebene hin: Die Nazis meinten, dass die ihrige Rasse die Überlegene sei, was analog dazu mit sich zog, dass andere Menschen weniger wert waren. Dadurch, dass sie die Juden als Untermenschen benannten, beraubten sie die Juden ihrer Menschenwürde. Da sie andere Menschen als Unmenschen diffamierten, verloren sie selbst den Status des Menschseins.
Dieser Prozess ist Hannah Arendt zufolge zu vergleichen mit der Situation in der isonomischen Polis; Die Idee war, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich wären und durch diese Gleichheit frei seien. Da aber Sklavenhalterei betrieben wurde, ging diese Freiheit für gewisse Menschen verloren. Da niemand frei sein kann in einem unfreien Staat, ging diese Freiheit auch für alle Anderen verloren.
Durch diesen Vergleich könnte man sagen, dass es sich mit der Würde des Menschen gleich wie mit der Freiheit verhält; Wird sie einigen Menschen abgesprochen, verliert sie derjenige der dies tut ebenfalls.
Nun öffnet sich die praktische Front, die sich auf die Verurteilung Eichmanns bezieht: Wie müssen Menschen behandelt werden, die unmenschlich handeln, beziehungsweise gewissen Menschen keine Würde zusprechen?
Die gesetzliche Gewalt ist eine der wenigen legitimen Einschränkungen des Rechts auf Freiheit in der Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben. So dürfen Staaten ihren Bürgern die Freiheit entziehen, sofern diese gegen die gebräuchliche Rechtsordnung verstossen. Nach universeller Konzeption der Menschenrechte dürfte dies eigentlich nicht möglich sein, da die Beraubung der individuellen Freiheit des Menschen durch jedwede Akteure oder Institutionen ebenfalls ein Verstoss gegen ein Grundrecht darstellt.
Dürfen Verstösse eines Akteurs gegen die Würde anderer Menschen dadurch bestraft werden, dass man den Delinquenten einen relevanten Teil seiner Menschenwürde abspricht?
Oder anders ausgedrückt: Kann sich die Menschenwürde nur dann behaupten, wenn sie unmenschliche Handlungen unter eine Strafe stellt, die dem Täter einen signifikanten Teil seiner Würde nimmt? Das wäre ja wie wenn man den Totalitarismus durch totalitäre Methoden bekämpfen würde; Unsinnig, da man genau das als Werkzeug anwendet, was man als Phänomen zu verhindern sucht.
Ist dies der schmale Grat, der die Justiz von der Siegerjustiz trennt?
Adolf Eichmann wurde 1962 in Israel erhängt.