Der Patient tritt dem Mediziner in scheinbarer Unvereinbarkeit zweier Blickrichtungen gegenüber. Zum einen begegnet er ihm als Organismus. In erkennender Blickstellung ist er dem Mediziner Objekt; ein kranker Körper, den es zu heilen gilt. Zum anderen entzieht sich der Patient als Person seiner Vergegenständlichung, d.h. der erkennenden Verfügung über seinen Körper. In dieser Aporie, in dieser Unvereinbarkeit der beiden Blickrichtungen von Organismus und Person sieht der Philosoph Helmuth Plessner den Grund dafür, warum es ein besonderes ärztliches Denken, warum es eine Philosophie des Arztes gibt[1].
Warum es einer Philosophie des ärztlichen Denkens bedarf, offenbart sich am sichtbarsten an Grenzphänomenen. Sie zeigen auf, dass sich die beiden Blickrichtungen von Organismus und Person nicht einfach auf einen Nenner bringen lassen. So z. B. in der Frage um Sterbehilfe: Was in der Perspektive der Lebenserhaltung angemessen scheint, muss nicht zwangsläufig auch mit Blick auf die Person angemessen sein. Grenzphänomene werden zum Gegenstand gesellschaftspoltischer Debatten, wie sie z. B. um Hirntod oder Abtreibung geführt werden. Die Frage, wo (menschliches) Leben anfängt und wo es aufhört, wird dabei in engem Zusammenhang mit der Frage um Personalität verhandelt. Ist Abtreibung legal? Was sind die Gründe, die für ein (menschliches) Leben sprechen, welches es rechtlich zu schützen gilt? Ist mangelnde Hirnaktivität die Grenze, an der eine Person von uns gegangen ist - obgleich der Organismus noch Vitalzeichen von sich gibt?
Der Patient entzieht sich dem Mediziner und muss sich ihm entziehen. Nicht, weil Leben sich generell nicht gänzlich unter einer naturwissenschaftlichen Perspektive begreifen lässt, d.h. in gewissem Sinn irrational ist. Sondern weil dieses Leben, menschliches Leben, ihn zugleich immer auch als Person anspricht. Das Problem der Vereinbarkeit beider Aspekte ist Aufgabe einer Philosophie des ärztlichen Denkens. Ihr obliegt die Versöhnung des Gegensatzes von verstehender Aufgeschlossenheit, die eine Person erst ins Blickfeld der Aufmerksamkeit rückt und der erkennenden Objektivierung des Organismus als Gegenstand der Medizin. Ist damit der Vorrang der Philosophie vor der Medizin proklamiert? Hat sich der Arzt zunächst den Werken Aristoteles, Hegels oder Kants zu widmen, bevor er den Patienten zu sich ruft? Mit Nichten. Nicht die Werke Aristoteles, Hegels oder Kants, sondern die tägliche Entscheidung bildet den Arzt. Aber die wissenschaftlich disziplinierte Erfahrung leitet seine Bildung. Hier kommt der Philosophie Aufgabe und Verantwortung zu, mehr zu sein, als eine rein akademische Beschäftigung. Nicht der Mediziner hat sich ihr, sondern die Philosophie hat sich ihm zuzuwenden. "Zurück zu den Dingen!" fordert der Philosoph Edmund Husserl und richtet sich damit an eine Philosophie, die sich von der Wirklichkeit, dem Leben, der gesellschaftspolitischen Realität der Welt abgewendet hat. Bedeutet dies nun für den Philosophen, um beim Thema zu bleiben, das Buch gegen den Rezeptblock einzutauschen? Auch dies ist zu verneinen. Der Philosoph hat nicht in das Leben einzuwirken, doch obliegt es ihm, es zu verstehen zu geben.
[1] Plessner, H. (1923) Über die Erkenntnisquellen des Arztes. In ders.: Gesammelte Schriften IX, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 45-55.