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Kantianismus für Tiere

Wer Tiere mag, kommt bei Immanuel Kant nicht auf seine Kosten.

    Wer Tiere mag, kommt bei Immanuel Kant nicht auf seine Kosten. Er vertrat, dass wir gegenüber Tieren keine Pflichten haben, ihnen keine Achtung schulden und sie als blosses Mittel behandeln dürfen. Genauso haben Tiere laut Kant weder Rechte noch Würde. Insgesamt reservierte Kant die moralphilosophischen Begriffe, für die er so berühmt ist, für den Menschen, oder genauer: für Vernunftwesen.

     

    Dass Kant die Tiere so grundsätzlich ausschloss, ist schade. Erstens macht es seinen ethischen Ansatz für die meisten Leute weniger attraktiv. Zwar halten viele – ich selbst eingeschlossen – den Kantianismus für einen interessanten, vielseitigen und plausiblen ethischen Ansatz, doch den Ausschluss der Tiere nehmen nur wenige gern in Kauf. Zweitens macht der Ausschluss der Tiere Kants Moralphilosophie weniger interessant für die Tierethik, in der Kant einen entsprechend schlechten Ruf hat. Und das, obwohl wir schon im Alltag manchmal "kantianisch" über Tiere sprechen – zum Beispiel können wir mit Aussagen wie "Tiere soll man achten", "wir sind den Tieren gegenüber verpflichtet" oder "die Würde des Tieres ist zu schützen" durchaus etwas anfangen. Dass uns der Kantianismus hier keine grössere Hilfe bietet, unsere alltägliche ethische Perspektive besser zu verstehen, ist eine verpasste Chance.

     

    Was wir in dieser Situation brauchen, ist ein "Kantianismus für Tiere". Damit meine ich einen ethischen Ansatz, der im Grunde Kant folgt, aber die Tiere einbezieht. Doch wie müsste so ein Ansatz aussehen? Das ist die Grundfrage, mit der ich mich in meinem Projekt auseinandersetze. Meine zentrale These lautet, dass wir den herkömmlichen Kantianismus nur punktuell und relativ geringfügig abändern müssen, um Tiere einzubeziehen. Der allergrösste Teil des kantischen Systems bleibt erhalten, zusammen mit seinen theoretischen Vorzügen.

     

    Am besten beginnt man mit einer Diagnose: Woran liegt es denn, dass Kant die Tiere nicht grundlegend einbezog? Gemäss den Überlegungen, die ich in meinem Projekt vorstelle, liegt dies grob gesehen an zwei Faktoren: Der erste Faktor ist, dass Kant ein ganz bestimmtes Bild des Tiers hatte, nämlich das Tier als blosses Instinktwesen. Tiere bewegen sich durch die Welt, so die Behauptung, indem sie sinnliche Inputs automatisch in Verhaltens-Outputs umwandeln. Tiere sind nach dieser Auffassung weitgehend passive Reiz-Reaktions-Wesen. Laut Kant verfügt zwar auch der Mensch über Instinkte, doch er ist ihnen weniger ausgeliefert. Zusätzlich sei der Mensch nämlich fähig, sich vermöge der Vernunft Zwecke zu setzen. Hinzu kommt dann der zweite Faktor: Die moralischen Eigenschaften, um die es geht (ein Gegenüber von Pflichten sein, Würde haben, Achtung verdienen, etc.) sind für Kant an vernünftige Zwecksetzung gebunden. Und das liegt nicht an einer willkürlichen Bevorzugung der Vernunft, wie man sie Kant manchmal unterstellt, sondern es liegt daran, wie Kant diese moralischen Eigenschaften beschreibt und erklärt.

     

    Vor dieser Ausgangslage gibt es verschiedene Strategien, wie man die Tiere zurück ins Bild holen kann. Man könnte versuchen zu behaupten, Kant habe die Tiere krass unterschätzt, denn in Wahrheit seien sie durchaus vernünftig. Diese Strategie halte ich für zu anspruchsvoll, denn zu kantischer Vernunft gehört vieles, was wir bei Tieren nicht einfach so voraussetzen können – zum Beispiel die Fähigkeit, sein Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen auszurichten oder die Moralfähigkeit.

     

    Andersherum könnte man zu sagen versuchen, Kant habe die Tiere schon richtig eingeschätzt, nur knüpfe er rechtliche und moralische Berücksichtigung an übertrieben hohe Ansprüche. Damit würde man Kant also zustimmen, dass Tiere recht einfach gestrickte Instinktwesen sind, aber man würde argumentieren, dass sie das moralisch Entscheidende – etwa die Schmerzfähigkeit – dennoch mitbringen. Doch wir müssten ziemlich weit von Kant abweichen, um für die moralische Berücksichtigung blosser Instinktwesen zu argumentieren. Das Ziel, möglichst nahe an Kant zu bleiben, verfehlen wir so.

     

    Die Lösung ist meiner Auffassung nach, dass man an beiden Stellen den Hebel ansetzt statt nur an einer: Wir können anerkennen, dass sich viele Tiere zielgerichtet verhalten und dass sie also mehr können als blosse Instinktwesen. In einem gewissen Sinne haben auch viele Tiere Zwecke, sie setzen diese Zwecke nur nicht vermöge einer kantischen Vernunft. Und dann können wir argumentieren, dass diese Zielausrichtung der Tiere bereits hinreichend ist für moralische Berücksichtigung in einer kantianischen Moralphilosophie. Wirklich nötig für kantische Moralbeziehungen ist demgemäss nicht beiderseitige Vernunft, sondern kantische Vernunft beim Verpflichtungssubjekt und Zielausrichtung beim zu berücksichtigenden Gegenüber. Im Projekt argumentiere ich, dass solche Argumente für viele kantische Moralbegriffe gelingen können. Damit schlage ich letztlich eine Version von Kantianismus vor, die Tiere einbezieht.

     

    Das Ergbnis des Projekts ist ein ethischer Ansatz oder ein Rahmenwerk. Was der "Kantianismus für Tiere" im Einzelnen von uns verlangt, ist damit noch nicht abschliessend beantwortet – und wie Kant selbst betonte, ist die moralische Beurteilung einzelner Handlungen oder Absichten ohnehin immer eine komplizierte Sache. Doch es ist klar, dass eine Ethik, die uns dazu anhält, Tiere nicht als blosse Mittel zu behandeln, ihre Würde zu achten und ihnen gegenüber unsere Pflicht zu tun, viele heute gängige Praktiken nicht gutheissen wird. Besonders die Verwendung von Tieren als Handelsware oder landwirtschaftlicher Rohstoff wird in diesem Ansatz wohl kaum eine Rechtfertigung finden.

     

    Das Ziel des Projekts ist somit, die Tür für einen "Kantianismus für Tiere" aufzustossen. Wenn wir einmal akzeptieren, dass so eine Auffassung kohärent ist und einen Grossteil der theoretischen Vorzüge des herkömmlichen Kantianismus beibehält, ist schon viel erreicht. Immerhin erhalten wir damit einen weitgehend neuen Ansatz in der Tierethik. Er hilft uns dabei, unsere moralischen Beziehungen zu Tieren zu erfassen und zu begründen. Zugleich hat tierethische Theorie auch die Aufgabe, eine philosophische Basis für Kritik zu bieten, wenn unser Umgang mit Tieren problematisch ist. Wenn wir diese Aufgabe ernst nehmen, sollten wir ergiebige philosophische Ressourcen wie die kantische Moralphilosophie nicht brach liegen lassen.