Wir alle haben Angst. Laut Martin Heidegger ist die Angst eine menschliche Grundbefindlichkeit, der wir nicht ausweichen können, weil sie untrennbar zum In-der-Welt-sein gehört.2 Als Ausdruck unserer leiblichen Existenz zeigt sie sich bereits im Fremdeln eines Kindes, das sich an die sichere Nähe des Vertrauten klammert und allen vermeintlich bösen Blicken ausweicht. In unserer Angst spüren wir, dass wir letztlich immer auf uns selbst zurückgeworfen sind. Alles Klammern nutzt nichts: Letztlich sind und bleiben wir immer allein. Zugleich gibt es im Leben eines jeden Menschen auch ganz konkrete Angstobjekte, die ihren Ursprung sowohl in der persönlichen Lebensgeschichte als auch in der kulturellen Verwurzelung haben. Mit Kierkegaard würde man hier wohl eher von „Furchtobjekten“ sprechen, denn die Furcht vor etwas unterscheidet sich von der existenziellen Grunderfahrung der Angst, in der ich mich ängstige.3 Dementsprechend finden wir sowohl individuell als auch gesellschaftlich Strategien, sie einzudämmen, zu vermeiden oder zu bewältigen. Dabei zeigt sich die Furchtreaktion janusköpfig: einerseits enthält sie das Potential für einen ganz enormen Aktivismus, andererseits lähmt sie uns wie das bekannte Reh, das im Scheinwerferlicht erstarrt.
Das ist alles nichts Neues, das Phänomen der Angst begleitet unseren Alltag. Neu sind jedoch Formen der Angst, die sich angesichts ökologischer Krisen als panikartige „Eco-Anxiety“ regelrecht als ein Klima der Angst verbreiten oder sich im Zuge disruptiver digitaler Entwicklungen in bedrohlichen „Algorithmen-Apokalypsen“ widerspiegeln. Auch die Angst vor „Überfremdung“ durch den Zustrom zahlreicher Migrant*innen4 oder die Angst, dem Optimierungsdruck der eigenen Lebensgestaltung nicht gerecht werden zu können, erreichen eine Dimension, die Hartmut Rosa als „kollektive Angst-Epidemie“5 bezeichnet. „Entängstigung“ sei schon jahrzehntelang nicht mehr so schwergefallen wie heute, schreibt Heribert Prantl.6 Auch für Heinz Bude ist klar, dass die Angst ein wichtiger Erfahrungsbegriff der heutigen Gesellschaft sei: „Angst zeigt uns, was mit uns los ist.“7
Der Begriff der Angst ist aber vor allem auch ein Machtbegriff – und zwar in mindestens zwei Dimensionen: Wenn sie uns packt, hat sie uns im Griff, sie ist in der Lage, unser Denken auszuschalten und unseren Körper zu kontrollieren. Die wachsende Normalisierung einer nationalistischen, populistischen und antisemitischen Rhetorik nutzt genau diese „Funktion“ der Angst, um sie für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Denn sie inszeniert nicht nur Schreckensszenarios, sondern verspricht zugleich Sicherheit und Schutz, d.h. sie induziert Angst, um sich dann als die rettende Hilfe anzubieten. Die Taktik der „Versicherheitlichung“ sei ein Taschenspielertrick, schreibt Bauman.8 Kurz: wer Angst hat, wird von ihr beherrscht und lässt sich leichter beherrschen. Prantl spricht von den „Heizern“, die im Kessel des Zuges unaufhaltsamer globaler Entwicklungen noch mehr Dampf machen.9
An dieser Analyse ist sicher etwas dran und es gilt, sie sehr ernstzunehmen – dennoch muss man sich davor hüten, einer Politik mit der Angst10 noch Öl ins Feuer zu gießen. Der Grad ist schmal zwischen dem Ernstnehmen dessen, was Menschen umtreibt, und einer Panikmache, die, wenn sie uns packt, ein distanziert-gelassenes, gleichsam „kühles“ Nachdenken unmöglich macht. Umgekehrt ist es aber auch keine Lösung, Ängste zu ignorieren, herunterzuspielen oder durch positive Gefühle plump übertünchen zu wollen; genauso wenig lassen sie sich wegvernünfteln. Vielmehr gilt es, aus den Ängsten heraus das Hoffen zu lernen, den Blick auf Bedürfnisse und Möglichkeiten zu richten und nicht nur auf das, was scheinbar unmöglich ist. Denn Ängste haben eine wichtige Botschaft, die über das hinausgeht, was sie selbst sind. Es ist jedoch alles andere als einfach, diese Botschaft zu hören, weil sie meist im reaktiven Kampfgetümmel gegen den verhängnisvollen Klammergriff der Angst untergeht. Der Möglichkeitssinn will trainiert werden, allzu leicht unterliegt er sonst dem verengten Blick auf das, was nicht geht, und der Fluchtinstinkt wird größer als der Mut, der Angst ins Auge zu sehen und sie als Impuls zu nehmen, neu zu denken. Das „Weg-von“ allein reicht nicht, um proaktiv Neues zu wagen. Wie wichtig es ist, bei der Bearbeitung des eigenen Lebensackers mit der Hand am Pflug nicht zurückzublicken, wird schon im Lukasevangelium beschrieben – wie zentral dabei auch die Entwicklung konkreter Utopien ist, macht Ernst Bloch in Prinzip Hoffnung deutlich. Es käme darauf an, das Hoffen zu lernen, schreibt Bloch. Diese Arbeit am Hoffen „ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern“11. Wir alle sollten „ausziehen, das Fürchten zu lernen“ – wohlwissend, dass dieser Übungsweg nie an ein Ende gelangt.
1 Kerngedanken dieses Beitrags habe ich weiter ausgeführt in Kann man nicht stärker sein als die Angst? Zur Bedeutung der „Trotzmacht des Geistes“ (V. Frankl) im Umgang mit einem mächtigen Gefühl. In: P&S Magazin für Psychotherapie und Seelsorge [erscheint im Mai 2020]
2 Martin Heidegger: Sein und Zeit (16. Aufl.), Max Niemeyer, Tübingen 1986, S. 184 ff. (§40).
3 Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst, Felix Meiner, Hamburg 1984, S. 42 (§5).
4 Zygmunt Bauman: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Panikmache (3. Aufl.), Suhrkamp, Berlin 2016.
5 Interview mit Hartmut Rosa in der Frankfurter Rundschau, 25.12.2017, https://www.fr.de/wissen/welt-einer-angst-epidemie-befallen-11002392.html, Zugriff 24.1.2020.
6 Heribert Prantl: Ängstigt euch nicht! In: Publik Forum 24/2019, 31–34, S. 31.
7 Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, Hamburger Edition, Hamburg 2014, S. 10.
8 vgl. Bauman 2016, 33.
9 vgl. Prantl 2019, S. 31.
10 Ruth Wodak: Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Edition Konturen, Wien/Hamburg 2016.
11 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Erster Band (5. Aufl.), Suhrkamp, Frankfurt 1978, S. I (Vorwort).