Zur Anästethik von Coronavirus-Bildern

Tierethische Überlegungen

    Seit Beginn der Corona-Pandemie schweben in allen Medien stachlige, farbige Kugeln durch einen endlos erscheinenden Raum, - mal in Türkis mit roten Nippeln in einer blauen Sphäre, mal erdkrustig mit roten pyramidalen Ausfaltungen im grauen Orbit. In den Illustrationen zum neuen Erreger der Krankheit mit dem Raumschiffnamen COVID-19 wird vorherrschend die Farbe Rot verwendet, auch abgestuft ins Lila oder Gelb mit krönchenhaften Extremitäten auf der Oberfläche. Mit ihrer Anmutungsqualität zwischen Morgenstern und Igelmassageball schmücken sie TV-Sendungen aus, im Messenger bieten sich grüne, putzige Memes an, die berittene indische Polizei trägt ernsthaft rote Helme im Corona-Design und der Berliner Bäcker von nebenan lässt es sich nicht nehmen, rundlich Fettgebackenes leckerbunt zu verwandeln.

     

    Woran wird sich dabei eigentlich orientiert? Vermutlich an jenen elektronenmikroskopischen Aufnahmen, wie sie das Robert Koch Institut (RKI) liefert.1 Über das bildgebende Verfahren eines Elektronenmikroskops entstehen allerdings zunächst nur schwarz-weiß Aufnahmen, die die Oberflächenstruktur eines Objekts wiedergeben. Die Farbe wird in der digitalen Bearbeitung nachträglich eingebracht. Die Bildauswertung kann zudem durch sogenannte „Artefakte“ erschwert werden, Strukturen, die bei der Vorbereitung des Objekts für die Aufnahme entstehen und mit diesem selbst nichts zu tun haben.2 Das RKI-Bild vom SARS-Coronavirus-2 entstand durch einen ultradünnen Schnitt im Biofilm.3 Die so erzeugten Bilder können eigentlich nur methodisch wissenschaftlich interpretiert werden und die Illustrationen von kleinen gelben Zusammenrottungen eiförmiger Teilchen vor lilablauem bis grünlichem Fond aus der Tagessschau sind demnach in ihrer artifiziell kitschigen Farbigkeit einem subjektiven Fotodesign zu verdanken.

     

    Die Versuche, etwas für das menschliche Auge Unsichtbares zu visualisieren, führen nicht nur zu dramatisch aus dem Nanometerbereich vergrößerten Objekten, sondern diese verbergen in ihrer Übergröße auch etwas Wesentliches. Der Vorgang lässt sich mit dem von Wolfgang Welsch geprägten Begriff „Anästhetik“ fassen, als „Zustand, wo die Elementarbedingung des Ästhetischen – die Empfindungsfähigkeit – aufgehoben ist“. 4 „Anästhetik“ tritt, so Welsch, dort auf, „wo das Wegsehen, wo die Verweigerung eindringlicher Wahrnehmung schier zur Bedingung von Selbsterhaltung geworden ist. So bei zahlreichen gesellschaftlichen, umweltlichen, menschlichen Phänomenen ästhetischer Unerträglichkeit, von denen wir in der heutigen Massengesellschaft umgeben sind (...) etliche soziale Situationen nur durch Ignorierung, Wahrnehmungsverweigerung, Panzerung zu bestehen.“5

     

    Die anästhetischen Virus-Bilder verdrängen andere Foto- und Film-Aufnahmen bspw. von den „wet markets“ in China. Wildtiermärkte, auf denen das stattfindet, was bereits Horkheimer als die „Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft“ 1934 eindrücklich dargestellt hat und auf die Situation in der industriellen Massentierhaltung übertragbar ist.6 Ferner wird das weltweite systematische Quälen von Frettchen, Affen, Hamstern oder Mäusen durch Wissenschaftler*innen für Viren-Tests, nicht gezeigt.7 Hier verhüllt der Euphemismus „Tiermodell“ das Leid und den grausamen Tod unzähliger Individuen durch deren rücksichtslose Instrumentalisierung in der medizinischen Forschung. Dabei ist es wissenschaftlich höchst fragwürdig bzw. widerlegt, dass sich die Ergebnisse aus „Tierversuchen“ auf den Menschen übertragen lassen.8 In den öffentlichen Medien wird kaum über die aktuelle Forschung zu Alternativen zu brutalen „Tierexperimenten“ berichtet. In Bezug auf das Corona-Virus wird stattdessen anästhesierend, schockierend wie hysterisierend, die Science-Fiktion-Idee einer möglichen Bio-Waffe aus dem Labor verbreitet.

     

    Die bunte Stachelkugel schiebt sich weiter mit Macht vor die Ursache der Pandemie: Karnismus. Ob nun die spanische Grippe, die Schweinegrippe, die Vogelgrippe oder die Corona-Erkrankung, hauptursächlich für die Entstehung der Zoonosen und damit der Pandemien war und ist der zu enge Kontakt von Tier zu Tier, - wie er auch bei der industriellen Nutztierhaltung für den Fleischkonsum gegeben ist.9 10 Augenscheinlich ist die Anästhetik der künstlichen Bilder vom Virus mit karnistischen Motiven verknüpft. Der Terminus „Karnismus“ beschreibt eine „kollektive Dissoziation“, die sich in den Bildern von eigentlich nichts zeigenden, Pandemie bedingt leeren Orten oder von medizinischem Personal in neutralisierenden Schutzanzügen, widerspiegelt. Die Anästhesie, durch die man die Empfindungsfähigkeit ausschaltet, ist auch hier der Bezugspunkt. Durch ein systematisches Unempfindlich-gemacht-werden soll der Konsum von Fleisch gesellschaftlich und politisch weiter legitimiert werden.11

     

    Die Wahrnehmungsverzerrungen gegenüber dem Leiden von anderen Tieren basieren Melanie Joy zufolge auf drei zentralen kognitiven Mechanismen: Verdinglichung, Entindividualisierung und Dichotomisierung.12 Die moderne Technologie begünstigt die Wirksamkeit dieses kognitiven, anästhesierenden Trios und ermöglicht eine extreme Distanzierung und Wahrnehmungsverzerrung gegenüber dem jährlich milliardenfachen Töten, „weil wir an keinem einzigen Punkt Zeugen des Prozesses werden, der diese Tiere in Nahrung für uns verwandelt.“13 Durch Desensibilisierung gegenüber dem Töten wird die „moralische Dissonanz“ verschärft, „um deren Verdeckung sich das System so sehr bemüht.“14 Der Zusammenhang von Ekel, Empathie und Identifikation wird apparativ unterbrochen.15 Diese Tradierung von Apathie versus Empathie ist auch für ästhetische Bildungsprozesse bedeutsam, denn eine kollektive psychische Betäubung, also die lähmende Einflussnahme auf die Wahrnehmungsfähigkeit, wird von einer entsprechenden, anthropozentrischen Pädagogik unterstützt, die die moralischen, persönlichen Entscheidungen, systematisch kulturell überformt und ethische Einstellungen wie ästhetische Vorstellungen generiert.

     

    Aus ethischer Sicht sind pädagogisch dringend notwendige Änderungen des Verhaltens von menschlichen Tieren in den Mensch-Tier-Beziehungen für das gemeinsame Überleben einzuleiten - konkret: humanes, veganes Verhalten zu fördern. Der Begriff Ästhetik, leitet sich von Aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis, her: Wo sind also die tierethisch geprägten Bilder für die breite Öffentlichkeit, die die Wahrnehmungsverweigerung gegenüber dem Leiden von anderen Tieren durchbrechen und empathisches Handeln in der Gesellschaft evozieren?


    1 Bildtitel: SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2, Isolat SARS-CoV-2/Italy-INMI1). Elektronenmikroskopie, Negativkontrastierung (PTA). Maßstab: 100 nm.

    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/NRZ/EM/Aufnahmen/EM_Tab_covid.html?nn=2463800, abgerufen am 15.5.2020.

    4 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Leipzig 1990, S. S.10-11.

    5 Welsch. S. 64.

    6 Horkheimer, Max: Der Wolkenkratzer. Auszug aus „Dämmerung“ in: Horkheimer, Max: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt a.M. 1974, S. 287f. https://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/wp-content/files/Der_Wolkenkratzer_-_The_Skyscraper.pdf, abgerufen am 15.5.2020.

    7 Siehe: https://fbresearch.org/covid-19-resources-page/ abgerufen am 15.5.2020.

    8 Herrmann, Kathrin/ Jayne Kimberley: Animal Experimentation: Working Towards a Paradigm Change. Series: Human-animal studies,Vol. 22. Leiden / Boston 2019.

    9 Schmidinger, Kurt: Wie Tierproduktkonsum zu Pandemien beiträgt.

    https://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/tierproduktkonsum-pandemien, abgerufen am 15.5.2020.

    11 Joy, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus - eine Einführung. Münster 2017. S.19.

    12 Joy S.117.

    13 Joy S.140.

    14 Joy S.141.

    15 Joy S.142.