Die Ethikfrage beim Handel mit US-Lebensversicherungen
In den USA ist es möglich, Lebensversicherungsverträge an private Investoren auf dem Zweitmarkt weiterzuverkaufen. Grundlage des Geschäfts ist ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1911, das eine Lebensversicherungspolice als Vermögenswert definiert, der nach dem Ermessen des Eigentümers an Dritte verkauft werden kann. Gründe für den Verkauf der Police sind in der Regel veränderte Lebensumstände oder akuter Geldbedarf. Anstatt also die Prämien weiterzubezahlen oder die Versicherung aufzukündigen, erhält der Versicherte in diesem Fall einen Betrag durch den Investor ausgezahlt. Der Investor selbst erhält im Todesfall die Versicherungssumme – ein lohnendes Geschäft für beide Seiten. Dennoch war das Konzept in der Vergangenheit ethischer Kritik ausgesetzt.
Die Ethikvorstellung im Zusammenhang mit dem Kauf von US-Risikolebensversicherungen hat sich überwiegend in den 80er Jahren herausgebildet – zeitgleich mit dem relativ neuen Geschäftskonzept. Die Ethikvorstellung wurde in einer Zeit formuliert, als HIV-Infizierte ihre Behandlungskosten über den Verkauf ihrer Policen finanzierten. Damals profitierten die Anleger von der Notsituation der Versicherten und davon, dass der Markt stark intransparent war und sich erst noch entwickeln musste. Weitere Kritikpunkte, die als ethisch fragwürdig angeführt werden, waren die Aussage: „Mit dem Tod macht man kein Geschäft“ und die Tatsache, dass der Investor zusätzlich vom verfrühten Ableben der versicherten Person profitiert.
Dabei gibt es viele Geschäftsmodelle mit dem Ableben eines Menschen als zentralem Faktor, die gesellschaftlich und ethisch durchaus akzeptiert sind. So profitieren Bestattungsinstitute, private Betreiber von Friedhöfen, Friedwäldern oder Krematorien von erhöhter Sterblichkeit, sei es durch Kriege, Naturkatastrophen oder dem Ausbruch tödlicher Krankheiten. Auch in unseren Pensionskassensystemen hat die Entwicklung der Sterblichkeit einen entscheidenden Einfluss. Je früher die Mitglieder versterben, desto mehr profitieren die Verbleibenden. Auch dieses System wird nicht als unethisch bezeichnet. Ganz im Gegenteil: es gilt als ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Jeder einzelne Pfeiler trägt seinen Teil zum Aufbau der Gesellschaft bei, wie es Aristoteles in seiner Schiffsmetapher erläutert, bei der der eine als Ruderer und der andere als Steuermann fungiert[1]. Diese Formen des „Vom-Tod-Profitierens“ müssen zweifelsfrei als wichtiger gesellschaftlicher Beitrag gewertet werden. Isoliert betrachtet führt das Entstehen von Umsätzen und Gewinnen aus den Geschäften mit dem Tod nicht automatisch zu einem ethischen Problem. Zentraler Anknüpfungspunkt der ethischen Diskussion ist das „Wie“. In unserem Falle also: Unter welchen Umständen muss die versicherte Person seine Police verkaufen?
Die Abweichung der tatsächlichen von der erwarteten Lebenserwartung des Versicherten ist das grösste Risiko für Anleger in Lebensversicherungspolicen. Lebenserwartungsprognosen beinhalten hohe Unsicherheiten, das Langlebigkeitsrisiko wird durch die Abweichung von der Lebenserwartungseinschätzung beschrieben. Die Abweichung drückt sich sowohl in Früh- als auch Spätsterblichkeit aus. Es sind gerade jene technologischen und finanzmathematischen Neuerungen, die Niklas Luhmann dazu gebracht haben, die Gesellschaft als eine „Risikogesellschaft“ zu bezeichnen.[2] Daraus jedoch den Vorwurf abzuleiten, dass Anleger bei einem frühzeitigen Versterben einen unethischen Gewinn abschöpfen, geht fehl – denn das Risiko besteht in beiden Richtungen. Der Einkauf der Lebensversicherungspolicen erfolgt unter der Annahme der gegebenen Lebenserwartung und ist damit gerade keine Wette auf einen frühen Tod. Das Argument, verfrühtes Ableben erzeuge ein ethisches Problem, ist nicht haltbar, da der statistische Mittelwert die Abweichungen enthält.
Handeln Anleger unethisch, wenn sie ausschliesslich in kurze Lebenserwartungen investieren, also in Policen älterer oder kranker Menschen? Mit fortschreitendem Alter des Versicherungsnehmers steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die ursprünglich für den Abschluss der Police vorliegenden Gründe nicht mehr gegeben sind. So kann die begünstigte Person zwischenzeitlich selber verstorben sein oder Änderungen der Lebensumstände führen dazu, dass ein Weiterführen der Police nicht mehr sinnvoll ist. Das Urteil über diese Handlung kann also nicht deontologisch oder nach abstrakten Motiven getroffen werden. Peter Singer plädiert daher für eine stärkere Gewichtung des Eigeninteresses bei ethischen Entscheidungen. Singer zufolge müssten sogenannte höhere Pflichten (wie etwa Kants Kategorischer Imperativ) oder sonstige ethische oder auch religiöse Regeln hinter dem Prinzip des Eigeninteresses zurückstehen.[3] Der Verkauf einer Police von älteren oder kranken Menschen erfolgt nicht notwendigerweise aus einer Zwangssituation heraus. Allein die Tatsache, dass es sich bei diesen Policen um kürzere Lebenserwartungen handelt, macht den Kauf nicht unethisch, denn eine kurze Lebenserwartung führt nicht automatisch zu einer Zwangsverkaufssituation. Das individuelle Verkaufsinteresse muss demnach stärker bei ethischen Urteilen berücksichtigt werden.
Das Eigeninteresse könnte aber möglicherweise verstellt und damit entwertet werden, etwa wenn die versicherte Person wegen geänderter Lebensumstände in eine Zwangslage geraten ist, die den Verkauf der Police aufgrund fehlender Finanzmittel begünstigt. Die Hintergründe hierfür sind unterschiedlichster Natur; denkbar sind u.a. eine starke Reduktion des Vermögens aufgrund einer Krise an den Finanzmärkten, Arbeitslosigkeit oder eine Scheidung, die zu hohen Vermögens- oder Einkommenseinbussen führen kann. Inwieweit der Verkauf einer Lebensversicherungspolice in Betracht gezogen wird, hängt stark vom Absicherungsbedürfnis des Versicherungsnehmers ab, was beim Verkauf vorhandener Vermögenswerte die Priorisierung leitet. Jedoch stellt die Verkaufsmöglichkeit einer Police eine willkommene Option dar, wenn andere Wege zur Generierung von liquiden Mitteln bereits ausgeschöpft sind.
Da der Käufer die Verkaufsabsicht des Verkäufers bzw. seine finanziellen Verhältnisse nicht kennt, kann diese Information nicht beim Einkauf eingepreist werden. Somit werden Policenverkäufer mit finanziellen Problemen nicht schlechter gestellt. Es ist zudem daran zu denken, dass der Versicherte mit dem Verkauf der Police auch die Verpflichtung zu künftigen Prämienzahlungen auf den Investor überträgt. Er befreit sich dadurch also gleich doppelt von negativen Zahlungsströmen: Eine angespannte finanzielle Situation kann durch den positiven Zahlungsstrom aus dem Verkauf gelindert werden und künftige Engpässe aufgrund der weiterhin zu leistenden Prämienzahlungen werden vermieden. Wenn das Aufkaufen von Wertpapieren, das durch einen hohen Verkaufsdruck ausgelöst wurde, unethisch ist, hätte jeder Markt ein ethisches Problem, ganz besonders während einer Finanzkrise. Somit führt allein die Tatsache, dass ökonomischer Verkaufsdruck herrscht, noch nicht zu einem ethischen Problem.
Die Diagnose einer schweren Erkrankung kann den Versicherten ganz unerwartet und plötzlich vor hohe finanzielle Herausforderungen für Behandlung und Pflege stellen. 90% der Gesundheitskosten entfallen in den letzten Lebensjahren. Da der Käufer einer Versicherungspolice den Gesundheitszustand kennt, wird von Kritikern oft unterstellt, dass der Käufer im Bewusstsein dessen, dass der Verkaufserlös für die Finanzierung der Behandlungskosten verwendet und rasch benötigt wird, den Verkaufspreis zu Ungunsten der versicherten Person weiter drückt. Gleichzeitig kann der Versicherte aber auch seinen Gesundheitszustand absichtlich schlechter darstellen, um eine kurze Lebenserwartung zu suggerieren und damit zu einer hohen Auszahlung zu gelangen. Eine klare Beurteilung, wer in einem konkreten Falle in der stärkeren Position steckt, ist hierbei schwierig. Dies umso mehr, wenn es sich um einen funktionsfähigen Markt handelt. Funktionsfähig ist jedoch nicht gleichzusetzen mit perfekt, denn gerade die Annahme eines generellen Marktgleichgewichtes, die mit der Hypothese eines perfekten Marktes einhergehen müsste, würde Peter Koslowski zufolge keinen Raum für ethische Kriterien lassen.[4] Erst das Entstehen von Markt-Ineffizienzen und Intransparenz führt überhaupt zu ethischen Debatten.
Früher war der Markt bzw. die Nachfrageseite im Vorteil, denn der Verkaufsdruck traf auf folgende Umstände: Aufgrund mangelnder Informationen konnte der Verkäufer den Preis der Police nicht einschätzen. Aufgrund unzureichender Regulierung bestand damals die Gefahr, dass Makler und Broker die Interessen des Verkäufers nicht vollumfänglich wahrgenommen haben (Stichwort: Provisionen). Dazu kam noch das Unwissen der Verkäufer, welche nicht um die Existenz eines Zweitmarktes für US-Lebensversicherungen wussten. Somit profitierten Käufer von der Tatsache, dass Zwischenhändler keine oder nur unzureichende Konkurrenzangebote einholten. Ferner war die Konkurrenzsituation unter den Käufern noch schwach ausgeprägt. Entsprechend ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der sogenannten „Viaticals“ heute maximal noch ca. 3% des Gesamtmarktes ausmacht, also Versicherungsnehmer mit einer terminalen Krankheit (per Definition mit einer Lebenserwartung kleiner als 2 Jahre) Das heisst, in der Praxis befinden sich unter 100 angebotenen Policen maximal ein bis zwei „Viaticals“. Die Risiken für Käufer und Verkäufer sind also gerechter verteilt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Allerdings sind die Auswirkungen, wenn das Risiko falsch eingeschätzt wird, für beide Seiten gravierender als im breiten Marktsegment. Wie oben erwähnt ist der Anteil am Gesamtmarkt mittlerweile auf wenige Prozente geschrumpft.
Der Weg der Police an den Markt ist heute in fast allen Staaten der USA reguliert. Der Versicherungsmakler hat im besten Interesse des Verkäufers zu handeln und folgt dem Prinzip der „Best Execution“. Auch besteht der US Life Settlement Markt heute aus einer Vielzahl von Anbietern und Nachfragern, die ihre Policen auf einem geregelten Markt handeln. Dieser ist um ein Vielfaches grösser als noch vor zehn Jahren. Somit trifft ein Verkäufer auf eine Vielzahl von Nachfragern, was es ihm ermöglicht, den höchstmöglichen Verkaufspreis zu realisieren, der zudem um ein Vielfaches höher ist als der von der Versicherung angebotene Rückkaufswert.
Die etablierte Regulierung des Sekundärmarktes und die verstärkten Aufklärungsbemühungen von Branchenverbänden und Providern gegenüber den Versicherungsnehmern führten zu einem starken Anstieg des Policenangebots und zu einer vermehrten Akzeptanz unter den Anlegern. Einen wesentlichen Anteil daran hat auch die gestiegene Anzahl von unabhängigen Research-Anbietern, die zwischenzeitlich über umfassendes empirisches Datenmaterial über Policen und Transaktionen verfügen. Dies war die Grundvoraussetzung, dass sich auch die Wissenschaft vermehrt mit dem Handel von US-Lebensversicherungen beschäftigte. Bekannte Forschungsinstitute in diesem Bereich sind die Universität St. Gallen (HSG) und die Universität Ulm. Grundsätzlich gilt im Sinne Koslowskis, dass je grösser, liquider und transparenter der Markt für solche Policen ist, desto mehr tritt die ethische Problematik in den Hintergrund.
Aufgrund der heutigen Ausprägung des US Life Settlement Marktes kann ein Käufer keinen Zwang oder Druck auf den Verkäufer ausüben, da herkömmliche Marktmechanismen und Handelsbedingungen, die durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, vorhanden sind. Ein wesentlicher Treiber für die Weiterentwicklung der Anlageklasse „Zweitmarkt US Lebensversicherungen“ ist das Vorhandensein aktueller Policen und Transaktionsdaten, womit der Schritt zur Bewertung von Policen zu Marktpreisen ermöglicht wird.
Fazit
Die Kritik am Zweitmarkt für US-Lebensversicherungen aus ethischen Gründen ist – vor dem Hintergrund anderer Geschäftsmodelle, die teilweise viel direkter aus dem Ableben Kapital schlagen – nicht haltbar. Die entsprechenden Schutzmechanismen (Auktion, kein direktes Verhandeln mit dem Halter der Police) sind vorhanden. Zudem schafft der Akt der Ablösung des Policenhalters durch den Investor einen volkswirtschaftlichen Nutzen, wenn der Versicherte seine Police nicht einfach ausfallen lässt und zudem einen zum Teil erheblich höheren Verkaufspreis erzielen kann, als wenn die Police durch die Versicherungsgesellschaft zurückgekauft wird. Investoren in US-Lebensversicherungspolicen ermöglichen dem Verkäufer der Police, in einem entscheidenden Augenblick seines Lebens Ziele zu verfolgen, die er ohne diese Transaktion nicht oder nicht mehr hätte verfolgen könnten.
Die ethische Frage bezieht sich auf einen sehr kleinen Anteil des Gesamtmarktes. Mit anderen Worten ist festzustellen, dass der Gesamtmarkt mit einer Quote von 97% keine Ansatzpunkte zu einer ethischen Diskussion liefert. Der verbleibende Anteil profitiert von den zwischenzeitlich stark veränderten Marktgegebenheiten. Das Argument, dass Investoren in US-Lebensversicherungen von der Not anderer profitieren, ist heute nicht mehr haltbar. Wer die Ethikvorstellung aus den 80er Jahren in Unkenntnis der aktuellen Marktveränderungen weiterhin unreflektiert vertritt und die neue Realität im US Life Settlement-Geschäft ignoriert, fördert ein System der zu tiefen Rückkaufswerte. Daran kann kein Versicherungsnehmer und keine Versicherungsnehmerin, ungeachtet in welcher Situation er oder sie sich befindet, Interesse haben. So betrachtet, übernehmen Investoren eine gesellschaftliche Verantwortung, damit sich der Zweitmarkt zugunsten des Verkäufers weiterentwickeln kann. Wer verantwortungs- und sinnvoll agieren möchte, findet heute eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten, um seine ethische Überzeugung zum Thema Handel mit US-Lebensversicherungen neu zu überdenken, sofern er oder sie dies noch nicht getan hat.
Referenzen
[1] Aristoteles, Politik, 1276b
[2] Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos, Berlin, New York 2003, S. 93
[3] Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994, S. 411ff.
[4] Vgl. Koslowski, Peter: The Ethics of Banking, Dordrecht/Heidelberg/London/New York NY, 2011, S. 3
bearbeitet von Andrin Kohler