Einleitung
Ein institutionelles Selbstverständnis hat die Schweizer Philosophie erst relativ spät erlangt. Wie Markus Wild (2019) festgehalten hat, bildet sich dieses erst in den späten 1930er- und frühen 1940er-Jahren im Zuge der Gründung der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft aus, die sich als Beitrag zur geistigen Landesverteidigung verstand. Die Gründe dafür sind vielfältig; nicht unbedeutend erscheint, dass die Sprachpluralität bei Philosoph:innen aus verschiedenen Landesteilen die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturräumen zur Folge hat. Dieser Kontext sperrt sich – im Gegensatz zu den Nachbarländern – der simplen Integration zu einer ‘Schweizer Philosophie’. Dem entspricht, dass die wenigen Veröffentlichungen zum Thema ‘Schweizer Philosophie’ (Fueter 1936; Gauss 1947; Lauener 1984; Meyer 1981; Dejung 1999) eine gedankliche Einheit nicht auszumachen vermögen. Der von Tumarkin (1948) unternommene Versuch, Schweizer Tugenden und Eigenheiten in der Philosophie wiederzufinden, ist bestenfalls kurios, aber keineswegs überzeugend.
Ob die Feststellung einer genuin schweizerischen Philosophie dem Inhalt nach wünschenswert ist, kann mit gutem Recht hinterfragt werden. Einerseits folgen solche Versuche dem modernen Paradigma des ethnisch homogenen Nationalstaats, das zwar im 19. und 20. Jahrhunderts einflussreich war, aber – auch ausserhalb der Schweiz – die kulturelle und religiöse Pluralität der jeweiligen Bevölkerung verkennt. Andererseits lässt eine Betrachtung durch die Linse des Nationalstaats gerade im Falle der Philosophie (und der Wissenschaft generell) den Umstand aussen vor, dass sich die Herausbildung gedanklicher Strömungen nicht zuletzt dem intellektuellen Austausch verdankt. Und dieser respektiert allzu selten Landesgrenzen.
Das Paradigma einer Philosophiegeschichtsschreibung, die den Rahmen der Nationalität voraussetzt, wird in diesem Artikel unterlaufen. Damit soll nicht verneint werden, dass es gute Gründe gibt, die politische Einheit ‘Schweiz’ zum Gegenstand der Philosophiegeschichtsschreibung zu machen. Doch haben diese Gründe nicht mit der Voraussetzung einer inhaltlichen Einheit der Schweizer Philosophie zu tun. Sie beruhen demgegenüber auf der Voraussetzung, dass die Philosophie und ihre Geschichte von Institutionen, insbesondere Universitäten abhängt. Diese wiederum können in der Schweiz, als kantonale bzw. nationale Institutionen, nicht von politischen Entscheidungen und damit vom Kontext der politischen Entität ‘Schweiz’ losgelöst betrachtet werden.
In diesem Artikel möchte ich ein spezifisches Schlaglicht auf die Geschichte der Philosophie in der Schweiz fallen lassen, indem ich dieselbe unter dem Gesichtspunkt der Migration betrachte. Ich stelle die Frage, inwiefern die Philosophie in der Schweiz ein Gepräge gerade dadurch erhielt, dass Philosoph:innen in die Schweiz immigrierten. Diese Perspektive liegt nahe. Es ist schwer von der Hand zu weisen, dass die Geschichte der Schweizer Philosophie eng mit akademischer Immigration verbunden ist. Prägende Figuren der Schweizer Philosophie – von Anna Tumarkin in Bern über Józef M. Bocheński in Fribourg zu Karl Jaspers in Basel – waren Immigranten.
Im Folgenden ist keine ausführliche historische Abhandlung zu diesem Thema zu erwarten. Ich möchte der Frage nachgehen, wie sich das akademische Migrationsgeschehen in der Schweiz zu allgemeineren Tendenzen der Migration verhält. Ich werde dazu drei Fälle betrachten: die Internationalisierung der Universitäten seit Beginn der Nullerjahre, die Immigration russischer Studentinnen Ende des 19. Jahrhunderts, und die Flucht von Intellektuellen vor dem Naziregime im 20. Jahrhundert.
Internationalisierung der Universitäten
Zum Zwecke eines ersten Überblicks über den Komplex Migration und universitäre Philosophie ist es dienlich, sich einige Zahlen zu vergegenwärtigen. Anerkanntermassen ist das Forschungspersonal von Schweizer Universitäten hochgradig international. Gemäss Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) waren im Jahre 2020 62% des wissenschaftlichen Personals (Professor:innen, Assistierende und wissenschaftliche Mitarbeiter:innen) ausländischer Staatsangehörigkeit. Im Jahre 2003 betrug der Anteil ausländischer Forschender an Schweizer Universitäten noch 43%, woraus sich eine relative Zunahme von über 40% ergibt. Das Forschungsumfeld der Schweizer Universitäten ist demnach einer generellen Internationalisierungstendenz unterworfen. Dieser Trend entspricht dem schweizerischen Migrationsregime insgesamt, das im 21. Jahrhundert durch die “Neue Zuwanderung” geprägt ist. (Müller-Jentsch 2008) Diese zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass Immigrant:innen durchschnittlich über einen, im Vergleich zur Schweizer Bevölkerung, höheren Bildungsstandard verfügen.
Für das hier im Speziellen interessierende Fach Philosophie sind nur wenige Zahlen verfügbar, da die jährlichen Erhebungen des BFS nicht nach einzelnen Studienfächern aufgeschlüsselt sind. Die aktuellsten fachspezifischen Zahlen sind der Studie “Internationalität der Schweizer Hochschulen” (BFS 2005) zu entnehmen. Dieser zufolge waren 2003 gut 31% des wissenschaftlichen Personals im Fach Philosophie ausländischer Staatsangehörigkeit. Aus späterer Zeit ist mir nur eine Zählung von Markus Wild (2019: 294) bekannt. Ihr zufolge stammen im Jahre 2019 gut 70% der in der Schweiz tätigen Professor:innen aus dem Ausland. Da sich der Anteil Ausländer innerhalb des wissenschaftlichen Personals mit demjenigen der Professor:innen nicht vergleichen lässt, lassen sich aus diesen allerdings Zahlen keine direkten Schlüsse ziehen.
Aus diesen Zahlen lässt sich folgende These ableiten: Die Schweizer philosophischen Institute unterlagen zwischen 2003 und der Gegenwart einem Internationalisierungsschub. Während der Anteil des aus dem Ausland stammenden wissenschaftlichen Personals im Jahre 2003 für das Fach Philosophie noch hinter dem fächerübergreifenden zurückfiel (31% gegenüber 43%), legen aktuellere Zahlen das Gegenteil nahe: Im Jahre 2019 lag der Anteil der aus dem Ausland stammenden Professor:innen markant über dem gesamtuniversitären (70% gegenüber 51%). Der Internationalisierungsgrad der Schweizer philosophischen Institute wandelte sich demnach, zumal auf der Ebene der Professoren, relativ zum gesamtuniversitären Rahmen, von unterdurchschnittlich zu überdurchschnittlich. Damit folgten die Schweizer philosophischen Institute einem gesamtuniversitären Trend. Es ist im Allgemeinen eine markante Zunahme des aus dem Ausland stammenden wissenschaftlichen Personals zu bemerken (43% im Jahre 2003 gegenüber 62% im Jahre 2020). Dieser ist im Falle der Philosophie aber besonders stark ausgeprägt.
Einschränkend ist zu bemerken, dass mangels genauer aktueller Zahlen betreffend die wissenschaftlichen Mitarbeitenden keine Zahlen für einen Vergleich des Internationalisierungsgrads des wissenschaftlichen Personals insgesamt vorliegen. Damit lässt sich die aufgestellte These nicht auf die philosophischen Institute insgesamt ausweiten. Allerdings liegt auch die Korrektheit dieser allgemeinen These zumindest nahe, insofern an Universitäten die Mehrheit des aus dem Ausland stammenden wissenschaftlichen Personals sich in der wissenschaftlichen Qualifizierungsphase befindet. (BFS 2005: 68)
Die Entwicklung der Schweizer philosophischen Institute der Gegenwart widerspiegelt damit das allgemeine Migrationsregime. Deren Geschichte birgt allerdings auch einige Ausnahmen. Im Folgenden möchte ich auf zwei historische Migrationsphänomene kurz eingehen, um zu zeigen, dass die Philosophie in der Schweiz zwei bedeutende Persönlichkeiten gerade als Ausnahmen genereller Migrationstendenzen gewann.
Immigration russischer Studentinnen
Anna Esther Tumarkin war ab 1909 ausserordentliche Professorin der Philosophie an der Universität Bern. Aufgrund ihrer Rolle geniesst sie als Vorreiterin einige Berühmtheit: sie gilt als erste Frau überhaupt, die das Recht hatte, Prüfungen und Dissertationen abzunehmen. (Rogger 1999: 161) Tumarkin war im Jahre 1893 aus Russland in die Schweiz eingewandert. (Wottreng 2000: 66) Ihre Einwanderung entspricht damit einem allgemeinen Migrationstrend dieser Zeit. Das endende 19. Jahrhundert brachte zwischen 5000 und 6000 russische Frauen zum Zwecke des Studiums in die Schweiz. (Neumann 1987: 14) Damit wurden insbesondere die Universitäten Bern und Zürich gleichsam über Nacht zu Pionierinstitutionen des Frauenstudiums in Europa. (Rogger & Bankowski 2010) Die Relevanz der russischen Immigrantinnen im Kampf um Bildungsmöglichkeiten für Frauen in der Schweiz ist nicht zu überschätzen. (Falk 2019: 57-60)
Dieser Umstand mag Staunen hervorrufen. Nicht nur ist die heutige Schweiz eher für Migrationsvorbehalte als Offenheit bekannt. Auch ist sie für das pure Gegenteil einer Vorreiterinnenrolle in Sachen Frauenrechte bekannt. Es ist nichts weniger als ein historischer Skandal, dass der letzte Kanton im Jahre 1990 per Bundesgerichtsentscheid dazu gezwungen werden musste, das Frauenstimmrecht zu übernehmen. Woher diese Diskrepanz?
Es ist zu berücksichtigen, dass bekannte Ressentiments, die eine restriktivere Immigrationspolitik untermauern, späteren Ursprungs sind. Die Gründung der “Fremdenpolizei” war ein Produkt des 1. Weltkriegs und hatte einen nachhaltigen Effekt: der Ausländeranteil sank von gut 15% im Jahre 1910 auf nur mehr 5% im Jahre 1941. (Holenstein, Kury & Schulz 2018: Kap. 12) Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Schweiz demgegenüber vom klassischen Liberalismus gesellschaftlich stark geprägt und verfolgte – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen – eine wenig restriktive Migrationspolitik. (vgl. ibid., Kap. 11) Die Schweizer Politik und Gesellschaft markierten damit einen schroffen Gegensatz zur zaristisch-monarchischen Gesellschaftsordnung, der für die russischen Studentinnen sicherlich attraktiv war. In ihrer Heimat war ihnen jegliche fortgeschrittene Bildung nach der Maturität untersagt. Dazu kommt, dass die grösstenteils noch jungen Schweizer Universitäten (über die Hälfte derselben entstanden erst im 19. und 20. Jahrhundert) für ihren Aufbau einen höheren Bedarf an Studierenden und Forschenden hatten, als sich im Inland fanden. Da Professor:innen ausserdem finanziell von Kolleggeldern abhängig waren, die sich an der Zahl der Teilnehmenden bemassen, hatten sie ein pekuniäres Interesse an einer grösseren Studierendenschaft. Diese und andere Faktoren ermöglichten die Vorreiterrolle der Schweiz betreffend das Frauenstudium.
Indessen war die primäre Absicht der russischen Einwanderinnen die Rückkehr. Das Bestreben, durch die erlangte Bildung innerhalb der russischen Gesellschaft von Nutzen zu sein, war vorherrschend. Sprechend ist diesbezüglich, dass sich gut drei Viertel der Einwanderinnen für ein Medizinstudium einschrieben. Das Studium in der Schweiz war Mittel zum Zweck der Modernisierung Russlands; eine dauerhafte Niederlassung in der Schweiz nicht das Ziel. (Rogger & Bankowski 2010: 15-16) Und selbst wenn eine Rückkehr nach Russland nicht das Ziel darstellte, dann war es dennoch die Revolution anderswo – wie im Falle von Rosa Luxemburg im Deutschen Reich.
Im Lichte dieser allgemeinen Charakteristik der Migration russischer Studentinnen in die Schweiz stellt Anna Tumarkin einen Sonderfall dar. Einen kurzen Auslandsaufenthalt nach dem Doktorat in Berlin, um bei Wilhelm Dilthey zu studieren, einmal ausgenommen, liess sich Tumarkin in Bern nieder, habilitierte sich und wurde ebendort zur Professorin ernannt. Sie blieb bis zu ihrem Ableben in der Schweiz. Dadurch, dass ihre Heimat Kischinew im Jahre 1918 von Russland an Rumänien überging, wurde sie staatenlos; 1921 erlangte sie das Berner Bürgerinnenrecht. (Falk 2019: 66) Ihre Geschichte stellt daher innerhalb des Phänomens russischer Studentinnenmigration einen Sonderfall dar.
Flucht der Intellektuellen vor dem Nationalsozialismus
Karl Jaspers war ab 1948 Professor für Philosophie an der Universität Basel. Seine Ankunft in Basel bedeutete diejenige eines renommierten Philosophen. Nun wäre die Flucht eines Philosophen vor dem Nationalsozialismus keineswegs verwunderlich. Jaspers Emigration fällt hier aber aus dem Rahmen: seine Emigration erfolge nach der deutschen Kapitulation. Dennoch sind seine Gründe für dieselbe vom Nationalsozialismus untrennbar.
Die Fluchtrouten migrierender Intellektueller führten seltener in die Schweiz, als es die geographische Nähe vermuten liesse. Zwar emigrierte Paul Bernays, dem die Lehrbefugnis an der Universität Göttingen im Jahre 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten entzogen wurde, zurück in die Schweiz. (Lauener 1978: 13-4) Als Professor an der ETH Zürich entfaltete er beachtliches fachliches wie institutionelles Wirken. Auf der institutionellen Seite sind insbesondere die Gründung der Fachzeitschrift Dialectica (zusammen mit Ferdinand Gonseth und Gaston Bachelard) und der Internationalen Gesellschaft für Logik und Philosophie der Wissenschaften (zusammen mit K. Dürr, F. Gonseth und K.R. Popper) hervorzuheben. (Lauener 1984: 11) Beide existieren bis heute fort, wobei sich letztere als Schweizerische Gesellschaft für Logik und Philosophie der Wissenschaften bescheidener gibt.
Doch Bernays blieb ein Einzelfall; es ist anzunehmen, dass seine Aufnahme in Zürich durch seine dortige Habilitation und fünfjährige Zeit als Privatdozent begünstigt wurde. Es suchten nur etwa ein Zehntel der gut 1500 bis 2000 aus Deutschland geflüchteten Literat:innen in der Schweiz Zuflucht. (Wende 2002: 9) Für Wissenschaftler:innen sind mir keine vergleichbaren Zahlen bekannt.
Auf die Gründe dafür kann ich hier nicht detailliert eingehen. Ich möchte deren zwei benennen. Erstens hatten Wissenschaftler:innen innerhalb der Flüchtlinge eine Sonderstellung inne: aufgrund der Aussicht auf das, was man heute einen brain gain nennt, hatten sie bereits in den Mitte der 1930er-Jahre “halbwegs gute Chancen” auf eine Aufnahme im Vereinigten Königreich und in den USA. (Ther 2017: 95) Keineswegs sollte man deshalb zum Glauben verleitet werden, dass deren Flucht deshalb im Geringsten einfach war. Davon zeugt nicht nur der tragische Suizid Walter Benjamins, sondern auch die erschütternden Fluchtgeschichten von Hannah Arendt (Ther 2017: 100-2), Mitgliedern des Wiener Kreises (Edmonds 2021) und der Frankfurter Schule (Wiggershaus 2008: Kap. 2).
Zweitens war sicherlich auch die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz (vgl. Kreis 2020: Kap. XI) mitverantwortlich für die spärliche Emigration von Intellektuellen in die Schweiz. Zumindest ein Philosoph war von derselben direkt betroffen. Ernst Bloch flüchtete mit seiner Partnerin und späteren Ehefrau Karola unmittelbar nach den Wahlen 1933 in die Schweiz. Karola schloss in Zürich ihr Architekturstudium ab und Bloch beendete das Manuskript von Erbschaft dieser Zeit. Doch ein Verbleib war dem Paar – welches aufgrund des Konkubinatsverbots offiziell kein solches sein durfte – nicht beschieden. Auf einem gemeinsamen Urlaub in Ascona lässt Karola ihre Handtasche in einem Obstladen liegen, von wo aus sie in die Hände der Polizei gelangt. Die Briefe von emigrierten Bekannten, die Karola mit sich trug, liessen den Verdacht aufkommen, dass sie Kommunistin sei. Mehrere Befragungen, ein Gefängnisaufenthalt, und die Überwachung durch die Fremdenpolizei führten dazu, dass ihre Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert wurde. (Wende 2002: 57-60) De facto kam dies ihrer Ausweisung gleich; bekanntlich emigrierten diese im Anschluss nach Kalifornien.
Das Ehepaar Jaspers emigrierte weder vor noch während des Kriegs. Die zerstörerische Angst eines Lebens unter der Nazi-Diktatur – Jaspers’ Ehefrau Gertrud war Jüdin – verdeutlicht deren Entschluss zum gemeinsamen Selbstmord für den Fall einer Gefährdung Gertruds. Auch war Jaspers ein akademisches Wirken, Lippenbekenntnissen zum Naziregime zum Trotz, nach dem Entzug der Lehrerlaubnis an der Universität Heidelberg im Jahre 1937 nicht mehr möglich. (Kirkbright 2004: 141-2) Dennoch vermochte es das Ehepaar, den Krieg und die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland zu überleben.
In seinem Aufsatz “Von Heidelberg nach Basel” (1967: Kap. 5) reflektiert Jaspers auf die Geschehnisse, die zu seiner Emigration in die Schweiz führten. Zentral waren nicht zuletzt universitätspolitische Belange. Nach dem Krieg war Jaspers Teil eines dreizehnköpfigen Ausschusses, der den Neuaufbau der Universität Heidelberg gestalten sollte. Anfänglich guter Dinge, sieht Jaspers dem Vorhaben schnell mit Ernüchterung entgegen. Seine Stellung innerhalb des Gremiums ist zusehends isoliert. Insbesondere trifft er mit seiner
Meinung, dass die Universität nur mit einer ganzheitlichen Vision, einer “Idee der Universität”, wirklich wiederbelebt werden könne, auf Widerstand. Restaurative Tendenzen, die eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor der Nazi-Machtergreifung für ausreichend hielten, stiessen auf mehr Anklang.
Was sich in den Bemühungen um die Heidelberger Universität zeigte, sah Jaspers als Spiegelbild eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens:
"Man nahm nicht Abstand von dem totalen Verbrecherstaat, zu dem wir geworden waren. […] Es war, als ob Stimmung und Charakter der Menschen sich überhaupt nicht geändert hätten. Sie wollten leben, aber sich nicht besinnen, sich nicht ändern, sich nicht für den Gang der Dinge, und was wir darin tun könnten, interessieren. Alle Nazis schoben die Schuld auf Hitler: “Wir sind mißbraucht worden.” Es gab selten eine Würde, aber hier und da geheime Wut und Bosheit. Das wurde mit den Jahren schlimmer." (Jaspers 1967: 174)
Im Zuge dieser Ernüchterung erreichte Jaspers im Jahre 1947 der Ruf aus Basel, den er im Jahre 1948 annahm. Für Jaspers war zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass er Deutschland nicht vorübergehend verlässt. Er schreibt am 21. Dezember 1947 an den Basler Regierungsrat Carl Miville, der mit den Berufungsverhandlungen betraut war, folgende Zeilen: “Die Folgen der Übersiedlung nach Basel für meine Frau und mich sind ohne Zweifel die, dass es kein Zurück gibt.” (Jaspers 2016: 39) Diese Einschätzung sollte sich als korrekt erweisen.
Schluss
Dieser Streifzug durch die Migrationsgeschichte der Philosophie in der Schweiz, den wir unternommen haben, spiegelt insbesondere eines: die Vielgestaltigkeit der Gründe, die dazu führen, dass in einem Land diese:r oder jene:r Philosoph:in sein bzw. ihr Wirken entfaltet. Die Gründe für die Emigration von Bernays, Bloch, Jaspers und Tumarkin waren allesamt politischer Natur. Andererseits zeigte sich auch, dass Bloch und seine spätere Ehefrau sich darum bemühten, länger in der Schweiz bleiben zu können – und ebenso aus politischen Gründen die Schweiz verlassen mussten. Wäre die Entscheidung der Fremdenpolizei anders ausgefallen, würden wir Bloch vielleicht heute zu den Schweizer Philosophen zählen.
Insgesamt sind die geschilderten Umstände instruktiv für das Unterfangen, politische Einheiten als Bezugsgrössen für die Philosophiegeschichtsschreibung zu nehmen. Ob ein Individuum innerhalb der Grenzen eines Landes sein Wirken entfaltet, ist freilich durchaus kontingent. Doch zeigt sich, insbesondere am Fall von Bernays, dass sich durch die geographische Nähe Begegnungen ereignen können – Begegnungen, die zur Gründung von Institutionen führen können, die über das Leben von Individuen hinaus eine Wirkung entfalten können. Vielleicht liegt darin der Sinn, den Ort einer Philosophie zu bestimmen: in der Begegnung, im Austausch mit Anderen, den er begünstigt. Wenn Philosophie einen Ort hat, so ist er nicht eine politische Entität, sondern ein Netzwerk von Beziehungen und Begegnungen, von Diskussionen und Disputen. Räumliche Nähe mag solche begünstigen, und darin verknüpft sie sich mit der Politik von Staaten und Institutionen. Aber ausserhalb von Begegnungen ist der Nationalstaat keine philosophisch relevante Bezugsgrösse.
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