Eine Schweinelunge im Biologiezimmer und ein Kuchenstand vor der Cafeteria: Das waren die Triebfedern hinter der Entscheidung, mich mit ungefähr 12 Jahren an der Zürcher Kantonsschule Hohe Promenade einzuschreiben. Doch bereits am ersten Schultag blieb mir der Kuchen gewissermassen im Halse stecken. Die Realität holte mich ein und ich musste einsehen, dass mein Schulalltag an der altehrwürdigen Schule auf dem kleinen Hügel künftig wohl eher von Lateinunterricht als kostspieligen Biologieexperimenten geprägt sein würde.
Trotz anfänglicher Demotivation hatte ich in besagtem Lateinunterricht meine ersten zaghaften Berührungspunkte mit der Philosophie. Ehrlicherweise müsste hier wohl ein Konjunktiv stehen. Denn die Worte meines Lateinlehrers konnten die mich umschliessende pubertäre Blase, die randvoll gefüllt war mit Hormonen, Liebeskummer, Freundschaftsschwüren und Identitätskrisen, nur schwerlich durchdringen. Aber wer weiss, vielleicht konnten die Vorträge über Cicero meiner Blase doch kleine Löcher zufügen. Irgendetwas muss jedenfalls zu mir vorgedrungen sein, denn ich entschied mich gegen eine naturwissenschaftliche und für eine sprachliche Ausrichtung in meinem weiteren gymnasialen Werdegang.
So verblieb ich an der Hohen Promenade und wurde schon bald von einem Deutschlehrer der etwas älteren Schule unterrichtet. Er fügte der Blase nicht nur kleine Löcher zu, sondern brachte sie vollends zum Platzen. Vor meinen Augen entfaltete sich eine mir vollständig neue Welt an Texten, Grundsatzdiskussionen und Detailreiterei. Der Deutschunterricht war anstrengend, frustrierend, aber auch wahnsinnig spannend. Wir lernten das Hinterfragen und Bilden eigener Meinungen und deren präzises Ausdrücken.
Schnell hatte ich mich in dieses Fach verliebt. Dass sich meine Begeisterung eher auf die philosophischen Diskussionen und nicht auf die Literatur konzentrierte, fiel mir jedoch erst auf, als wir im Deutschunterricht unseren ersten philosophischen Text lasen und besprachen. Es dürfte sich dabei um Ausschnitte aus «Zur Genealogie der Moral» von Nietzsche gehandelt haben, ganz sicher bin ich mir aber nicht mehr.
Wenn ich heute auf mein damaliges 17-Jähriges Ich zurückschaue, muss ich schmunzeln. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie sich mein Staunen bezüglich dieses Textes in Schrecken umwandelte, wie mir einige Passagen förmlich aus dem Herzen sprachen und andere mich zur Weissglut trieben. Obwohl mir dieser Text einiges Kopfzerbrechen zugetragen hatte, packte mich eine Begeisterung, die ich noch nie zuvor in dieser Form gespürt hatte. Die wichtigsten Punkte dieses Werks dürften wohl über meinen Kopf hinweg geflogen sein, doch in mir stellte sich schon bald ein jugendliches Unbesiegbarkeitsgefühl ein, ein naives «Ich habe Nietzsche gelesen, schon bald werde ich die Welt verstehen» durchströmte mich. Der nächste Schritt in meinem Weg «die Welt zu verstehen» war es, in den darauffolgenden Schulferien ein Buch von Richard David Precht zu lesen. Trotz diesem etwas merkwürdigen und im Nachhinein fragwürdigen Unterfangen und einigen weiteren Umwegen habe ich mich schliesslich für ein Philosophiestudium entschieden. Die Welt verstehe ich zwar noch immer nicht, vielleicht noch weniger als je zuvor. Dennoch bin ich unglaublich froh, diesen Weg eingeschlagen zu haben.