J.S. Mills Diskussionsfreiheit

aus der Zeitschrift meta(φ) der Fachschaft Philosophie der Universität Bern, Ausgabe #6-2020

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    Einleitung

    John Stuart Mill, bekannt für seine utilitaristischen und liberalen Schriften, behandelt in On Liberty (1859, 217) die „bürgerliche oder soziale Freiheit“. Ein beträchtlicher Teil dieser Schrift widmet sich der Erörterung dessen, was er die Freiheit des Denkens und der Diskussion nennt. Im gleichnamigen Kapitel verteidigt er hauptsächlich eine Meinungsäusserungsfreiheit, die noch heute Gegenstand philosophischer Diskussionen ist. Nach Daniel Jacobson (2016, 440–41) gibt es drei verschiedene Interpretationen dieser Freiheit, welche sich alle auf die Schrift von Mill berufen: Die pragmatische Interpretation vertrete die Ansicht, dass Mill die Regulierung von Meinungsäusserungen zwar prinzipiell in der Zuständigkeit der Gesellschaft sehe, solche Regulierungen aber niemals optimal seien und Mill daher keine Eingriffe erlaube. Die qualifizierte Interpretation gehe hingegen davon aus, dass Mill gar keine Meinungsäusserungsfreiheit vertrete, sondern eine Freiheit der nicht-schädigenden oder harmlosen Meinungen. Jacobson behauptet, entgegen dieser beiden Interpretationen, dass Mill für eine uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit argumentiert habe. Die pragmatische Interpretation gehe fehl darin zu glauben, dass Mill nicht für ein Recht argumentiert habe, welches prinzipiell vor Eingriffen geschützt sei, und die qualifizierte Interpretation verkenne die Signifikanz und die Rolle des Getreidehändler-Beispiels (Jacobson 2016, 440–41). Jacobson zieht den Schluss, dass die Meinungsäusserungsfreiheit von Mill auch schädigende Äusserungen schützt—beispielsweise beleidigende oder abwertende Aussagen—und diese daher toleriert werden müssten, sofern sie nicht performative Sprechakte seien, die nicht mehr immun vor Eingriffen seien (Jacobson 2016, 452). Diese Interpretation geht auf ein Verständnis von Mills Liberalismus zurück, der aus einem Schädigungsprinzip und einer Freiheitssphäre besteht. Das Schädigungsprinzip konkretisiert, welche Handlungen gerechtfertigt eingeschränkt werden dürfen und die Freiheitssphäre beschreibt Rechte, welche vom Schädigungsprinzip
    ausgenommen sind (Jacobson 2016, 446).

    Im vorliegenden Essay wird die These vertreten, dass auf der Basis von Mills Argumentation für die Meinungsäusserungsfreiheit, entgegen Jacobsons Behauptung, für eine progressive Diskussionskultur argumentiert werden kann. Dabei soll nicht unterstellt werden, dass Mill selbst für eine solche Diskussionskultur argumentiert habe. Er hat jedoch die argumentativen Grundlagen für ein solches Argument gelegt. Unter einer „progressiven Diskussionskultur“ wird im Folgenden verstanden, dass eine Gesellschaft weder rechtlich noch moralisch dazu verpflichtet ist, beleidigenden und abwertenden Äusserungen aufgrund von nicht wählbaren Eigenschaften—beispielsweise Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, etc.—eine (öffentliche) Plattform zu gewähren.

    Um das Argument aufzubauen, wird in einem ersten Schritt die Interpretation des Mill’schen Liberalismus (1) und dessen zentralen Prinzipien, das Schädigungsprinzip (1.1) und die Freiheitssphäre (1.2), nach Jacobson anhand des Artikels „Mill on Liberty, Speech, and the Free Society“ (2000) und dem Beitrag „Mill on Freedom of Speech“ in A Companion to Mill (2016) aufgezeigt. Dies bietet die Grundlage für die uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit nach Jacobson, welche daraufhin besprochen wird (1.3). Der nächste Abschnitt geht auf einige Aspekte des Arguments von Mills On Liberty ein, welche eine andere Interpretation der Meinungsäusserungsfreiheit zulassen (2.1). Dazu gehört erstens die Unterscheidung zwischen einer blossen Ausdrucksfreiheit und einer Meinungsäusserungsfreiheit (2.1.1). Zweitens wird auf die Rolle der Diskussionsfreiheit in den epistemischen Prozesseneiner Gesellschaft verwiesen (2.1.2). Der dritte Aspekt beschäftigt sich mit dem zentralen Anspruch Mills, ein Freiheitskonzept zu entwerfen, welches dem Menschen als entwicklungsfähigem Wesen, als denkendes Individuum, gerecht wird (2.1.3). Diese Blickpunkte, gemeinsam mit dem Mill’schen Liberalismus nach Jacobson, bieten die Grundlage eines Argumentes für eine progressive Diskussionskultur (2.2). Das Fazit rekapituliert die Ergebnisse und gibt einen kurzen Ausblick.

    1. Mills Liberalismus nach Jacobson

    Jacobson argumentiert für eine Interpretation der Mill’schen Meinungsäusserungsfreiheit, die jegliche Beeinträchtigung dieser Freiheit einer Akteurin als Verletzung ihrer Freiheitsrechte versteht (Jacobson 2000, 278). Diese Interpretation beruht auf Jacobsons Verständnis des Mill’schen Liberalismus, welches durch folgende drei Thesen zusammengefasst werden kann (vgl. Jacobson 2000, 277):

    1. Mill befürwortet eine Form des Liberalismus, die Personen gewisse fundamentale Rechte zuspricht, ein Recht auf freie Meinungsäusserung miteingeschlossen.

    2. Mill akzeptiert zwar, dass Sprechakte schädigend sein können, aber seine Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit beschränkt sich nicht auf harmlose Sprechakte.

    3. Die Freiheitssphäre folgt nicht aus dem Schädigungsprinzip und ist nicht auf harmlose Handlungen beschränkt.

    Mills Liberalismus könne somit nicht auf das Schädigungsprinzip reduziert werden, sondern es beinhalte sogar eine strikte Ablehnung paternalistischer Eingriffe sowie eine substantielle Freiheitssphäre, welche von der Gesellschaft nicht beeinträchtigt werden darf. Zudem sei das Schädigungsprinzip auf Handlungen beschränkt, die nicht von der Freiheitssphäre geschützt sind und die Freiheitssphäre umfasst nicht nur Handlungen, die für andere nicht-schädigend sind (Jacobson 2000, 278). Die Ablehnung paternalistischer Eingriffe könne aus dem Schädigungsprinzip gewonnen werden (Jacobson 2000, 292–93). Da die Äusserung von Meinungen und Gesinnungen von Mill zu den Rechten gezählt wird, welche die Freiheitssphäre konstituieren, schliesst Jacobson, dass Mill eine uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit vertreten habe. In einzelnen Fällen können Sprechakte zwar unterbunden werden, dies aber nicht aufgrund der Schädigung Dritter, wie dies das Schädigungsprinzip vermuten lassen würde (Jacobson 2000, 278), sondern weil sie in gewissen Kontexten eine Verpflichtung—beispielsweise gegenüber der Familie oder eines Gläubigers—verletzen würden (Jacobson 2016, 447). Diese Interpretation des Mill’schen Liberalismus bietet sowohl die Grundlage für die uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit nach Jacobson wie auch für die Diskussionsfreiheit, wie sie im vorliegenden Essay vertreten wird. Um die Kritik an Jacobsons Interpretation nachvollziehen zu können, wird im Folgenden der Inhalt und die argumentativen Rollen des Schädigungsprinzips und der Freiheitssphäre bei Jacobson aufgezeigt. Danach wird auf die uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit nach Jacobson eingegangen.

    1.1 Inhalt und Rolle des Schädigungsprinzips

    Mill präsentiert das Schädigungsprinzip in zwei unter-schiedlichen Formulierungen, welche direkt aufeinander folgen:

    „Einerseits sei Selbstschutz der einzig legitime Zweck für eine Person oder eine Gesellschaft, in die Handlungsfreiheit einer Person einzugreifen. Andererseits sei der einzige Grund, weshalb gerechtfertigt Macht über ein Mitglied der Gesellschaft ausgeübt werden kann, gegen dessen Willen, die Schädigung anderer zu verhindern.“1 (Mill 1859, 223)

    Diese Formulierungen des Schädigungsprinzips sind problematisch, da die beiden aufeinanderfolgenden Aussagen nicht als synonym verstanden werden können: Nicht jede Ausübung von Macht ist gleichzusetzen mit einer Beeinträchtigung der Freiheit einer Person. Jacobson schlägt daher eine Formulierung vor, welche er für weniger problematisch hält und dennoch beiden Aussagen gerecht werde:

    „Der einzig gute Grund für eine Einmischung anderer ist es, die Schädigung Dritter zu verhindern.“2 (Jacobson 2000, 290)

    Das Schädigungsprinzip müsse als notwendige, jedoch nicht als hinreichende Bedingung für eine gerechtfertigte Einmischung der Gesellschaft oder einzelner in die Handlungsfreiheit einer Person verstanden werden (Jacobson 2000, 290). Dies sei sowohl mit den oben wiedergegebenen Aussagen von Mill vereinbar, als auch mit der Aussage, dass „[…] die Schädigung, oder die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung, der Interessen anderer die Einmischung der Gesellschaft rechtfertigen könne, dies jedoch nicht in jedem Fall ein solches Eingreifen rechtfertigen würde“ (Mill 1859, 292). Das heisst, auch wenn Meinungsäusserungen nach Mill prinzipiell einschränkbar wären, was sowohl von Jacobson als auch in diesem Essay bestritten wird, würde der alleinige Umstand, dass die Äusserung schädlich ist, nicht ausreichen, um sie zu unterbinden. Ein weiterer Aspekt des Schädigungsprinzips ist laut Jacobson, dass es einer Beschränkung unterworfen ist. Eine Einmischung der Gesellschaft sei demnach nur dann gerechtfertigt, wenn die schädigende Handlung nicht Bestandteil der Freiheitsrechte ist (Jacobson 2000, 291). Jegliche Einschränkung ist nach Mill ein Übel, auch wenn sie manchmal das kleinere Übel ist (Jacobson 2000, 293). Besonders deutlich wird diese Ansicht Mills in der Besprechung des Freihandels: „Das Prinzip der individuellen Freiheit ist in dieser Lehre nicht vorhanden und daher auch in den meisten Fragen nicht zu finden, welche deren Grenzen betreffen […]“ (Mill 1859, 293).

    Jacobson schliesst aus dieser Aussage, dass einerseits nicht jede Ausübung von gesellschaftlicher Macht über eine Person eine Verletzung ihrer Freiheit darstellt und dass es andererseits einen grundlegenderen Einwand gibt als Unzweckmässigkeit, wenn Einschränkungen die Freiheit einer Person begrenzen (Jacobson 2000, 293). Das Schädigungsprinzip bietet somit die Grundlage für legitime Eingriffe der Gesellschaft oder einzelner in den Handlungsspielraum einer Person, sofern die betreffende Handlung nicht Bestandteil der Freiheitsrechte dieser Person ist. Die Schädlichkeit einer Handlung allein bietet jedoch keinen hinreichenden Grund für Eingriffe. Beide Bedingungen sind somit notwendig und ergeben einen guten Grund, sind jedoch nicht hinreichend (Jacobson 2000, 290–91).

    1.2 Inhalt und Rolle der Freiheitssphäre

    „Self-regarding action“ ist Mills Kunstbegriff für eine Handlung (im weitesten Sinne), welche in die Freiheitssphäre fällt (Jacobson 2000, 298). Zur Freiheitssphäre gehört erstens „[…] das innere Feld des Bewusstseins und dies fordert Gewissensfreiheit im weitesten Sinne […]“ (Mill 1859, 225). Auch zur ersten Freiheit zählt Mill die „Freiheit des Denkens und Fühlens [und die] unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und Gesinnung in allen Fragen“ (Mill 1859, 225). Auch die Freiheit, diese Meinung und Gesinnung öffentlich zu vertreten, zählt er zur ersten Freiheit. Zweitens gehört hierhin die Freiheit „des Geschmacks und der Studien“ (Mill 1859, 226). Dies dient dazu, einen Lebensplan entwerfen zu können, der dem Charakter der Person entspricht, sofern dies anderen keinen Schaden zufügt. Drittens folgt hierauf die Freiheit, dies alles auch mit anderen zu tun: Die Freiheit des Zusammenschlusses. Keine Gesellschaft könne frei genannt werden, in welcher diese Freiheiten nicht absolut und unqualifiziert garantiert würden. (Mill 1859, 225–26) Laut Jacobson (2000, 299) vereint nicht ein gemeinsames, beschreibendes Merkmal die drei Bereiche der Freiheitssphäre, sondern eine gemeinsame Rechtfertigung. Diese ist:

    „Um Autonomie erlangen zu können, müssten wir sowohl in der Lage sein, verschiedene Lebensentwürfe zu vergleichen, zu kritisieren und auszuprobieren als auch selbst Kritik gegenüber offen sein.“ (Jacobson 2000, 299)

    Die Verteidigung von absoluten Freiheitsrechten mit dem Utilitarismus von Mill zu vereinbaren, scheine auf den ersten Blick nicht einfach zu sein, könne jedoch in vielen Schriften von Mill beobachtet werden (Jacobson 2016, 448–49). In “Utilitarianism” (Mill 1861, 250) beschreibt Mill die Rechte einer Person als etwas, worauf sie einen gerechtfertigten Anspruch hat, dass deren Besitz und deren Schutz durch die Gesellschaft gewährleistet wird. In On Liberty begründet er Rechte in ihrem Nutzen, möchte diesen „Nutzen [aber] im weitesten Sinne“ verstanden wissen (Mill 1859, 224). Dies ist Jacobson (2016, 449) zufolge so zu verstehen, dass die Freiheitsrechte einer Person Nutzenabwägungen in Einzelfällen immer überwiegen, da sie aus moralischen Regeln erwachsen, welche in erster Linie die Grundlagen des menschlichen Wohlergehens betreffen. Daher konstituierten sie—im Gegensatz zu anderen Verhaltensregeln—absolute Verpflichtungen. Dass in der Freiheitssphäre auch Handlungen mit eingeschlossen sind, die andere schädigen können, ist hiermit wohl klar ersichtlich. Mill (1859, 281) macht am Beispiel der Trunkenheit deutlich, dass eine Handlung, die zwar ein Laster ist, aber in die Freiheitssphäre und damit zu den self-regarding action gehört und immun gegenüber rechtlichen und moralischen Sanktionen ist, aus der Sphäre herausfallen kann. Wenn eine Person aufgrund ihrer Trunkenheit eine Verpflichtung vernachlässigt, beispielsweise gegenüber der Familie oder einem Gläubiger, könne sie getadelt oder—je nach Schwere des Vergehens—rechtlich belangt werden. Grund für den Tadel oder die rechtliche Belangung ist dann jedoch laut Jacobson (2000, 300) nicht die Trunkenheit, sondern die Verletzung einer Verpflichtung gegenüber einer anderen Person.

    1.3 Uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit

    Das Schädigungsprinzip und die Freiheitssphäre konstituieren gemeinsam den Liberalismus von Mills On Liberty. Diese Überlegungen bilden auch die Grundlage für die Position von Jacobson (2016, 440–41), dass Mill für eine uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit argumentiert. Dazu muss er aufzeigen, dass Mill die Freiheit, eine Meinung zu äussern, als Freiheitsrecht in der Freiheitssphäre versteht. Dass Mill die Meinungsäusserung dem ersten Bereich der Freiheitssphäre—der Gewissensfreiheit im weitesten Sinne—zuordnet, „[…] obwohl sie unter ein an- deres Prinzip zu fallen scheint […]“, findet sich in der Beschreibung der Freiheitssphäre (Mill 1859, 225). Die ambige Anmerkung, dass sie nur darunter zu fallen
    scheint, kann man nach Jacobson (2000, 283) auf zwei Arten verstehen: Entweder werde behauptet, dass sie nur scheinbar andere betreffe, oder dass sie, obwohl sie andere betreffe, trotzdem unter dasselbe Prinzip falle.

    Beide Lesarten ordnen Meinungsäusserungen klar der Freiheitssphäre zu (Jacobson 2000, 283). Zudem lasse die Aussage, dass die Meinungsäusserungsfreiheit praktisch untrennbar von der Freiheit der Gedanken sei, vermuten, dass Mill Diskussion als eine Art des Denkens verstehe und Äusserungen von Meinungen näher an das Denken als an das Handeln rücke (Jacobson 2000, 284). Demnach wäre das Sprechen nicht als praktische Art, seine Gedanken auszudrücken, zu verstehen, sondern als Medium des Denkens selbst. Ein weiterer Hinweis, dass Mill den Meinungsaustausch als ein Medium des Denkens versteht, finde sich in den epistemischen Argumenten des zweiten Kapitels von On Liberty, in welchen die Rechtfertigung von Wissen als grundlegender sozialer Prozess charakterisiert wird, wonach die Entstehung von Wissen nur durch den diskursiven Austausch mit anderen Meinungen möglich sei (Jacobson 2016, 444). Um eine Überzeugung gerechtfertigt zu glauben, müsse sie gegen die besten entgegenstehenden Überzeugungen bestand haben (Jacobson 2016, 444).

    Wenn es nun korrekt ist, dass Mill die Meinungsäusserungsfreiheit der Freiheitssphäre zuordnet, muss Jacobson das Getreidehändler-Beispiel einordnen und erklären können. Mill zeigt am Getreidehändler-Beispiel auf, dass gewisse Sprechakte unterbunden werden dürfen: Wenn jemand während einer Hungersnot vor dem Haus eines Getreidehändlers einem aufgebrachten Mob zuruft, dass alle Getreidehändler die Armen aushungern würden, dürfe dies unterbunden werden. Würde diese Meinung anders vorgebracht, beispielsweise in einem Zeitungsartikel, hingegen nicht (Mill 1859, 260). Jacobson geht dabei von folgendem Zitat aus, welches aufzeigt, wann eine Meinungsäusserung ihre Immunität verliert:

    „Niemand behauptet, dass Handlungen ebenso frei sein dürften wie Meinungen. Im Gegenteil: selbst Gedanken verlieren ihre Straflosigkeit, wenn die Umstände, unter denen sie ausgesprochen werden, von der Art sind, dass ihr Ausdruck eine direkte Anstiftung zu irgendeiner Schandtat bildet.“ (Mill 1859, 260)

    Jacobson (2000, 286–87) schliesst aus dieser Textstelle, dass performative, illokutionäre3 Sprechakte, wie bei spielsweise kommissive Sprechakte4, nichtsdestotrotz self-regarding sind, da sie entweder in den Bereich der Freiheit des Geschmacks und der Studien oder der Freiheit des Zusammenschlusses fallen. Anders verhalte es sich mit assertiven5 und expressiven6 Sprechakten. Diese würden in den Bereich der Gewissensfreiheit im weitesten Sinne fallen. Das Getreidehändler-Beispiel diene dazu, aufzuzeigen, in welchen Kontexten genau das Kundtun einer Meinung als Handlung in substantiellerem Sinne, als direkte Anstiftung, zu verstehen sei. Es werde damit hinreichend klar gemacht, dass nicht der propositionale Gehalt des Sprechaktes der Grund für die Einschränkung der Handlungsfreiheit der Sprecherin sei, sondern der Kontext, in welchem er geäussert werde. Dieselbe Meinung, veröffentlicht in einer Zeitung, dürfte nicht zensiert werden. (Jacobson 2000, 286–87) Mill verstehe unter Meinungen, dass verschiedene Personen die gleiche Meinung vertreten würden, wenn sie eine Proposition glauben. Unterschiedliche Äusserungen derselben Meinung könnten aber verschiedene Handlungen konstituieren, je nach Kontext der Äusserung. Diese Auffassung mache implizit eine Typenidentifikation von Äusserungsakten anhand der Meinung oder Gesinnung, die geäussert wurde, was wiederum festlege, welche Eingriffe in die Meinungsäusserungsfreiheit als Einschränkung der Freiheit gelten würden. Die uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit, für die Mill argumentiere, sei die Freiheit, jegliche faktische oder normative Meinung äussern zu können, wobei Meinungen durch ihren Inhalt individuiert würden. Dies habe zur Folge, dass alle expressiven Sprechakte immun vor Eingriffen der Gesellschaft seien, was jedoch nicht für die restlichen vier illokutionären Sprechakte gelte. (Jacobson 2000, 285–90)

     

    2. Diskussionsfreiheit

    Im folgenden Abschnitt wird ein Argument für eine progressive Diskussionskultur auf der Grundlage des Mill’schen Liberalismus nach Jacobson formuliert. Dazu wird in einem ersten Schritt die Analyse der Mill’schen Meinungsäusserungsfreiheit von Jacobson kritisiert und ergänzt. Danach wird anhand der angepassten Analyse aufgezeigt, wie auf dieser Grundlage für eine progressive Diskussionskultur argumentiert werden kann. Es wird jedoch nicht behauptet, dass Mill selbst dieses Argument vorgebracht habe, sondern vielmehr, dass er die Grundlage dafür bereitet hat.

    Einigkeit zwischen der Position dieses Essays und Jacobsons Position besteht in der Analyse des Mill’schen Liberalismus. Die Ansichten unterscheiden sich jedoch in Bezug auf den Inhalt und die Rolle der Rechtfertigung der Meinungsäusserungsfreiheit als Teil des ersten Freiheitsbereichs. Im Folgenden wird nun darauf eingegangen, wie die Analyse ergänzt werden muss, um ein vollständiges Bild der Meinungsäusserungsfreiheit nach Mill zu erhalten.

    2.1 Einwände gegen Jacobson

    2.1.1 Der Inhalt: Ausdrucksfreiheit vs. Meinungsäusserungsfreiheit

    Mill bespricht die Freiheit, Meinungen zu äussern, in einem begrenzten Kontext: Dabei werden Meinungen, im Gegensatz zum heutigen subjektivistischen Verständnis, als propositionale Überzeugungen behandelt, die nicht nur einzelnen Personen zugänglich sind und dazu dienen, falsche Vorstellungen als solche zu identifizieren. Er „[…] stellt […] im zweiten Kapitel die Freiheit, seine Meinung zu äussern […] stets in den Zusammenhang der Wahrheit und Falschheit propositionaler Überzeugungen“ (Niesen 2015, 38). Dies spreche gegen eine blosse Ausdrucksfreiheit ohne Berücksichtigung der Wahrheitsfindung. Mill habe die theoretischen und sprachlichen Grundlagen zur Verfügung gehabt, um für eine weiter greifende Ausdrucksfreiheit zu argumentieren. Er begrenze die Diskussion der Meinungsäusserungsfreiheit jedoch auf den Kontext der Freiheit des Denkens und der Diskussion und charakterisiere sie somit als Mittel epistemischer Überlegungen (Niesen
    2015, 38). Dies kann anhand des Verhältnisses von Meinungen und Tatsachen aufgezeigt werden: Meinungen seien demnach Tatsacheninterpretationen und machten Tatsachen dem Geist erst zugänglich. Auch dürften wahre Meinungen nicht mit Tatsachen gleichgesetzt werden (Niesen 2015, 38–39 und Mill 1859, 234). Eine Besprechung von falschen Tatsachenbehauptungen, sowohl wissentlich als auch unwissentlich geäusserte, lässt sich in On Liberty nicht finden. Dass Mill seine Ansicht aus „Law of Libel and Liberty of the Press“ (vgl. Mill 1825), dass falsche Tatsachenbehauptungen prinzipiell eingeschränkt werden dürfen, ändern müsste, sei aus den in On Liberty vorgebrachten Argumenten nicht zu erschliessen (Niesen 2015, 43–44).

    Nicht nur das Verhältnis von Tatsachen und Meinungen, sondern auch der Zusammenhang zwischen der Freiheit des Denkens und der Diskussion und der Meinungsäusserungsfreiheit, gibt einen Eindruck davon, dass es bei Mill nicht um eine subjektivistische Ausdrucksfreiheit geht. Dieser Zusammenhang lasse sich mit der Wahrheitsfindung einerseits und der „argumentativen Suche nach wohlverstandenen Überzeugungen und vernünftigen Handlungsplänen“ andererseits erklären (Niesen 2015, 40). Dass die Meinungsäusserungsfreiheit der Wahrheitsfindung dient, erkennt man an der Art und Weise, wie Mill begründet, dass sie zu den Freiheitsrechten einer Person gehört. Dass sie andererseits der individuellen und gesellschaftlichen Deliberation dient, begründet sich in der Annahme, dass die Rechtfertigung von Meinungen ein primär soziales Unterfangen sei. Dieser zweite Aspekt wird im nächsten Unterkapitel 2.1.2 besprochen.

    Mill (1859, 229–43) beginnt die Rechtfertigung, dass die Meinungsäusserungsfreiheit zu den Freiheitsrechten einer Person gehört, mit der Besprechung wahrer Meinungen. Eine wahre Meinung müsse aus zwei Gründen den Schutz vor gesellschaftlichen Eingriffen geniessen: Einerseits würde mit der Unterdrückung einer (potentiell) wahren Meinung ein möglicherweise entscheidender Beitrag zur Diskussion vorenthalten werden (Mill 1859, 229). Andererseits masse man sich damit Unfehlbarkeit an. Sollte die Unterbindung einer (potentiell) wahren Meinung aus der Überlegung im Sinne des Wohlergehens aller Gesellschaftsmitglieder geschehen, würde dies einer Beanspruchung von Unfehlbarkeit in der Beurteilung der Schädlichkeit oder Nützlichkeit einer Meinung gleichkommen (Mill 1859, 233). Zudem sei die Wahrheit von der Nützlichkeit einer Meinung nicht sinnvoll zu trennen (Niesen 2015, 37). Der Schutz von wahren Meinungen scheint dabei den Zugang der Person zu wahren Überzeugungen zu sichern. Im Zentrum steht weniger der Sprecher, sondern eher die Hörerin. Dies legt zumindest der Fokus auf die Vorenthaltung eines wichtigen Diskussionsbeitrags und die Einschätzung der Nützlichkeit einer (potentiell) wahren Meinung nahe.

    Falsche Meinungen werden von Mill (1859, 243–52) unter den gleichen absoluten Schutz gestellt, wie wahre Meinungen. Einerseits könnten sie einen wahren Teil enthalten, andererseits aber würden sie dazu beitragen, dass wahre Meinungen nicht zu dogmatischen Glaubenssätzen verkommen. Einzig durch das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen, teilweise wahren Meinungen könne sichergestellt werden, dass die Wahrheit in einer Diskussion ans Licht komme (Mill 1859, 258). Mit dieser Verteidigung komme auch zum Ausdruck, dass für Mill die blosse Wahrheit einer Meinung nicht ausreiche, um ihren vollen Nutzen zu entfalten. Eine wahre Meinung zu haben sei nur nützlich, wenn sie durch deliberative Prozesse zustande komme (Niesen 2015, 40). Es ist sowohl im Interesse der Sprecherin als auch des Hörers, dass falsche und teilweise wahre Meinungen in einer Diskussion vorgebracht werden können.

    Hiermit konnte nun aufgezeigt werden, dass Mill mit dem Begriff „Meinung“ keine expressiven Sprechakte gemeint haben kann, wie dies Jacobson (2000, 287) vorschlägt. Die Rechtfertigung der Meinungsäusserungsfreiheit orientiert sich an Propositionen, welche für andere zugänglich sind. Die Wahrheit des Inhalts eines expressiven Sprechaktes wird immer angenommen und kann daher nicht als Interpretation einer Tatsachenbehauptung verstanden werden. Es ist also anzunehmen, dass lediglich assertive Sprechakte von der Rechtfertigung der Meinungsäusserungsfreiheit von Mill dem ersten Bereich der Freiheitssphäre zugeordnet werden können. Die Abwesenheit der Besprechung von expressiven Sprechakten in Mills Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit kann besser dadurch erklärt werden, dass sie zum zweiten Bereich der Freiheitssphäre gehören.

    2.1.2 Das Wissen: ein sozialer Prozess

    James Zappen (1993) argumentiert dafür, die beiden Werke, A System of Logic (Mill 1843a und Mill 1843b) und On Liberty, als das logische, resp. rhetorische Gegenüber des jeweils anderen anzusehen. Er zeigt auf, dass Mill für die Probleme seiner induktiven Logik nicht nur in A System of Logic, sondern auch in On Liberty Lösungen präsentiert (Zappen 1993, 191). Diese enge Verbindung zwischen den beiden Schriften ermöglicht einen weiteren Einblick in die Rolle der Meinungsäusserungsfreiheit für die Freiheit des Denkens und der Diskussion.

    Die Rechtfertigung von Wissen und die Entwicklung eines freien Denkprozesses sind demnach inhärent soziale Prozesse. Mill versucht in A System of Logic (1843a, 184) aufzuzeigen, dass deduktive Logiken ein ihnen innewohnendes epistemisches Problem haben. Deduktive Schlüsse würden demnach immer einen Zirkelschluss aufweisen. Mit universellen Aussagen könne man streng genommen partikuläre Aussagen nicht beweisen, da nur solche Aussagen abgeleitet werden könnten, die bereits von der universellen Aussage als vorausgesetzt angenommen würden (Mill 1843a, 184). Mill sucht daher den Ausweg in einer induktiven Logik, die die Grundlage für menschliche Urteile bilde. Er glaubt, dass eine Beweisführung auf zwei Prozessen beruht: Der erste, die Induktion, diene zur Gewinnung einer universellen Proposition aus partikulären Aussagen. Der zweite, die Deduktion, biete die Interpretation der universellen Proposition (Mill 1843a, 203). Dies stellt ihn nun vor ein Problem: Wenn es wahr ist, dass von einer Partikularaussage auf eine Universalaussage geschlossen wird, dann kann nicht von der Sicherheit oder Gültigkeit der daraus gewonnenen Universalaussage ausgegangen werden. Die aus dieser Aussage gewonnenen, partikulären Aussagen können aufgrund der Unsicherheit der universellen Aussage nicht mit Sicherheit abgeleitet werden (Mill 1843a, 306–7). Wenn er für dieses Problem keine Lösung findet, ist sein epistemisches Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Das erste Problem löst er in A System of Logic, indem er die Verallgemeinerung durch die Erfahrung ersetzt.

    Sowohl die Erfahrung der Person selbst als auch die kumulative Erfahrung der gesamten Menschheit dient somit als Korrektiv für Universalaussagen (Mill 1843a,319). Das zweite Problem, die Ableitung neuer partikulärer Aussagen, bleibt jedoch weiterhin bestehen. Die Lösung dafür wird laut Zappen (1993, 195) in On Liberty vorgebracht. Mill halte hier fest, dass die Erfahrung (ob kumulativ oder nicht) alleine nicht ausreiche, um Universalaussagen zu stützen, weshalb sie durch eine weitere Vorrichtung ergänzt werden müsste (Zappen 1993, 196). Zu diesem Zweck biete er eine Rhetorik der öffentlichen Diskussion, welche sicherstellen soll, dass Argumentationen und Beweisführungen korrekt seien. Die ständige und andauernde Korrektur soll mithilfe der Sokratischen Fragemethode geschehen. Diese auf Gesprächen basierende Methode müsse in allen Wissensbereichen (ausser in der Mathematik) als Standard gelehrt und angewandt werden (Zappen 1993, 195–96). Voraussetzung für das Gelingen sei erstens der Zugang zu entgegengesetzten Meinungen, zweitens eine Verteidigung der eigenen Meinung gegen konkurrierende und drittens ein Profitieren durch die Korrektur bzw. eine Vervollständigung der eigenen Meinung dank dieser Auseinandersetzung (Cherwitz und Hikins 1979, 16).

    In diesen drei Voraussetzungen erkennt man den Nutzen von falschen und nur teilweise wahren Meinungen für Sprecher und Hörerinnen: Durch ständige Untersuchung und Hinterfragung von Meinungen werden einer Person die Begründungen für wahre Meinungen präsent und teilweise wahre Meinungen können angepasst und verbessert werden. Dieser Prozess ist inhärent sozial und bedingt daher auch, dass sich möglichst viele Personen daran beteiligen können, um einen möglichst grossen Pool an Meinungen und Erfahrungen zu erhalten. Dies untermauert noch einmal die Ansicht, dass es sich bei den Sprechakten, die zum ersten Bereich der Freiheitssphäre gezählt werden, um assertive Sprechakte handeln muss. Das Generieren von Wissen findet in der öffentlichen und privaten Diskussion statt und muss daher mittels Meinungen geschehen, deren Wahrheitsgehalt sinnvoll diskutiert werden kann. Zudem wird durch das Korrektiv der kumulativen und eigenen Erfahrung und durch die Sokratische Methode ein Hinweis auf die Rolle der Meinungsäusserungsfreiheit gegeben. Auch Jacobson (2016, 449–52) geht auf diese ein. Er bespricht sie aus der Perspektive von Hörern, Sprecherinnen und im Hinblick auf Mills Demokratieverständnis. Durch das Auslassen der Wahrheitsfunktionalität7 von Meinungen ist die Analyse jedoch unvollständig.

    2.1.3 Die Rolle: Die denkende Person

    Seana Shiffrin (2014) merkt in ihrem Werk Speech matters: on lying, morality, and the law an, dass Mills Theorie der Meinungsäusserungsfreiheit meist zu jenen gezählt wird, die auf die Wahrheitsfindung fokussieren. Sie weist jedoch auch Ähnlichkeiten zu Theorien auf, welche die Person als denkendes Wesen ins Zentrum stellen (Shiffrin 2014, 83, Anmerkung 4). Denkerbasierte Theorien begründen die Meinungsäusserungsfreiheit auf den Interessen und Bedürfnissen der denkenden Person. Den Ausgangspunkt bilden bei Shiffrin (2014, 86) die Annahmen, dass Menschen individuelle Akteure mit signifikanten (jedoch wesentlich unvollkommenen) rationalen, emotionalen sowie moralischen Fähigkeiten und Empfindungsvermögen sowie Wahrnehmungsfähigkeiten sind, die sich überschneiden und einander beeinflussen. Der Besitz und die Ausübung dieser Fähigkeiten konstituieren den Kern dessen, was Menschen an sich selbst wertschätzen. Und schliesslich konstituiere das besondere Verhältnis, die Entwicklung und die Ausübung dieser Fähigkeiten gemeinsam mit den physischen Attributen den Menschen als das distinkte Individuum, das es in seinem geteilten historischen und sozialen Milieu ist (Shiffrin 2014, 86). Um den notwendigen Rahmen zu untersuchen, welcher diese Fähigkeiten und deren sinnvolle Ausübung garantiert, listet Shiffrin acht Interessen auf (Shiffrin 2014, 86–88). Diese können auch in Mills On Liberty wiedergefunden werden. Aus Platzgründen werden hier nur jene zwei Interessen besprochen, welche für das Argument von Bedeutung sind. (Shiffrin 2014, 82–88)

    Das erste Interesse besteht in einer „entwickelten Fähigkeit für praktisches und theoretisches Denken. Eine Denkerin hat ein grundlegendes Interesse daran, ihre mentalen Fähigkeiten dazu zu entwickeln, aufnahmefähig, verständnisvoll und ansprechbar gegenüber Begründungen und Fakten praktischer und theoretischer Gedanken zu sein, das heisst, sich des Wahren, Falschen und Unbekannten bewusst zu sein und adäquat reagieren zu können“ (Shiffrin 2014, 86). Dieses Interesse ist in der Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit von Mill wiedererkennbar: Mill fordert sie, um genau diese Fähigkeiten ausbilden und am Leben erhalten zu können (Mill 1859, 243). Zudem spiegelt sich dieses Interesse in der Forderung, dass die Sokratische Methode als rhetorische Vorrichtung zur Rechtfertigung von Wissen in allen wissenschaftlichen und moralischen Belangen (ausser in der Mathematik) installiert werden soll (Mill 1859, 252).

    Ein weiteres zentrales Interesse eines Denkers ist eine „angebrachte Anerkennung und Behandlung. Jeder Denker hat ein grundlegendes Interesse von anderen Akteuren als die Person anerkannt zu werden, die sie ist, und dass sie von anderen moralisch gut behandelt wird.“ (Shiffrin 2014, 88) Mill (1974, 260–75) bespricht im dritten Kapitel, Über Individualität als eins der Elemente der Wohlfahrt, den zweiten Bereich der Freiheitssphäre, welcher die Freiheit „des Geschmacks und der Studien“ betrifft. Diese Freiheit diene dazu, einen Lebensplan entwerfen zu können, der dem Charakter der Person entspricht, sofern dies anderen keinen Schaden zufüge. Behinderungen durch Dritte seien demnach nicht gestattet, auch wenn sie die Lebensweise für „verrückt, verderbt oder falsch halten“ (Mill 1974, 226). Es sei notwendig, dass Menschen „[…] nach ihrer Meinung […] handeln und sie im Leben umsetzen, ohne von ihren Mitmenschen durch physischen oder moralischen Zwang daran verhindert zu werden […]“ (Mill 1974, 260).

    Beleidigende Sprechakte können weder durch das erste noch das zweite Interesse als schützenswert eingestuft werden. Beleidigende und verletzende Äusserungen tragen nicht zur Entwicklung intellektueller Fähigkeiten bei. Dem anderen Interesse wirken sie entgegen. Durch solche Äusserungen wird die Fähigkeit anderer unterminiert, einen selbstbestimmten und freien Lebensplan zu entwerfen.

    2.2 Progressive Diskussionskultur

    Die drei oben angesprochenen Aspekte der Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit von Mill bilden gemeinsam mit der Interpretation des Mill’schen Liberalismus von Jacobson die Grundlage eines Argumentes für eine progressive Diskussionskultur. Entgegen Jacobsons Auffassung wird aufgezeigt, wie anhand von Mills Argumenten beleidigende und abwertende Äusserungen nicht als schützenswerte Meinungen betrachtet werden müssen und die Gesellschaft daher weder rechtlich noch moralisch in der Pflicht steht, solchen Äusserungen eine (öffentliche) Plattform zu bieten. Wie oben besprochen wird für dieses Argument vom Mill’schen Liberalismus nach Jacobson ausgegangen.

    Das heisst, dass Mill für eine Freiheitslehre argumentiert, welche grundlegend aus zwei Prinzipien besteht: Dem Schädigungsprinzip und der Freiheitssphäre.

    Das Schädigungsprinzip besagt, dass „der einzig gute Grund für eine Einmischung anderer ist, die Schädigung Dritter zu verhindern“ (Jacobson 2000, 290). Es ist dabei noch der Einschränkung unterworfen, dass nur Handlungen davon betroffen sein können, die nicht auf Freiheitsrechten der Freiheitssphäre basieren. Die Freiheitssphäre umfasst drei Bereiche: Das innere Feld des Bewusstseins, die Freiheit des Geschmacks und der Studien sowie die Freiheit des Zusammenschlusses. Handlungen, welche auf diesen drei Freiheitsbereichen beruhen, dürfen nur eingeschränkt werden, wenn durch deren Ausübung eine Verpflichtung gegenüber einer anderen Person verletzt wird. Bis hierhin kann Jacobson noch zugestimmt werden.

    Aufgrund der Tatsache, dass Mill die Zuordnung der Meinungsäusserungsfreiheit zum ersten Bereich anhand der Wahrheitsfunktionalität von Meinungen vornimmt, können einzig assertive Sprechakte als dieser Gruppe zugehörig verstanden werden. Dies legt auch deren Rolle in der Entwicklung einer freien Bürgerin nahe. Die restlichen Sprechakte werden somit dem zweiten und dritten Bereich zugeordnet, welche explizit auf nicht-schädigende Handlungen begrenzt werden. Assertive Sprechakte können, wie Jacobson (2000, 286–87) korrekt interpretiert, aufgrund des Kontexts der Äusserung unterbunden werden. Dies kann geschehen, wenn der Kontext der Äusserung eine Verletzung der Pflicht gegenüber einer anderen Person darstellt (Mill 1859, 281). Zudem legt Mill diesen Überlegungen die Interessen einer Person (verstanden als Denkerin) zugrunde, das heisst, einer Person mit rationalen, emotionalen, moralischen Fähigkeiten und Empfindungsvermögen sowie Wahrnehmungsfähigkeiten (Shiffrin 2014, 83, Anmerkung 4). Dies führt dazu, dass der Ausschluss aus epistemischen Prozessen als sowohl moralisches wie auch epistemisches Übel verstanden werden muss: Beleidigende und abwertende Äusserungen aufgrund von Identitätsmerkmalen unterminieren die Fähigkeit und Möglichkeit an epistemischen Prozessen teilnehmen zu können. Daraus wird ersichtlich, dass eine Gesellschaft nicht in der Pflicht ist, solchen Äusserungen eine (öffentliche) Plattform zu gewähren. Denn die Unterminierung der Fähigkeit und Möglichkeit der Teilnahme an epistemischen Prozessen konstituiert hinreichend eine Verletzung der Pflichten gegenüber anderen Denkern.

    Fazit

    Ziel dieses Essays war es, aufzuzeigen, dass auf der Grundlage des Mill’schen Argumentes für die Meinungsäusserungsfreiheit für eine progressive Diskussionskultur argumentiert werden kann. Dazu wurden in einem ersten Schritt die drei grundlegenden Thesen des Mill’schen Liberalismus nach Jacobson (2000) erläutert (1). Um diese nachvollziehen zu können, wurden daraufhin die zentralen Prinzipien dieser Position beschrieben. Das Schädigungsprinzip (1.1) beschreibt demnach, dass ein Eingriff in die Handlungsfreiheit einer Person durch die Gesellschaft nur dann legitim sei, wenn dadurch die Schädigung Dritter verhindert werden könne (Jacobson 2000, 290). Davon ausgenommen seien Handlungen, welche auf Freiheitsrechten basieren. Die Freiheitssphäre (1.2) umfasst drei Bereiche, welche vor einer Einschränkung durch die Gesellschaft geschützt sind. Alle drei werden auf die gleiche Art und Weise gerechtfertigt und beinhalten auch schädigende Handlungen (im weitesten Sinn). Da die Freiheit, Meinungen zu äussern, zur ersten Freiheitssphäre gehört, ist für Jacobson die Annahme bestätigt, dass Mill für eine uneingeschränkte Meinungsäusserungsfreiheit (1.3) argumentiert habe. Daraufhin wurde diese Analyse von Jacobson kritisiert (2) und ergänzt. Demnach wird von Jacobson fälschlicherweise behauptet, dass nur expressive Sprechakte immun vor Eingriffen seien, obwohl die Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit von Mill keinen solchen Schluss zulässt, da einzig von Meinungen im Sinne von assertiven Sprechakten die Rede sein kann (2.1.1 und 2.1.2). Der letzte Aspekt ergänzt die Analyse um die Erkenntnis, dass Mill eine denkerbasierte Meinungsäusserungsfreiheit vorgebracht hat, welche auch eine angebrachte Anerkennung und Behandlung der Person als denkendes Wesen beinhaltet (2.1.3). Dies lässt den Schluss zu, dass beleidigenden und abwertenden
    Äusserungen keine (öffentliche) Plattform gewährt werden muss, da dies die Beteiligung von Personen bei epistemischen Prozessen unterminiert (2.2).

    Die Argumentation von Mill ist überzeugend und nachvollziehbar. Es ist daher auch verständlich, dass sie noch heute Gegenstand philosophischer und politischer Diskussionen ist. Für künftige Projekte könnte beispielsweise auch untersucht werden, ob auf der Basis dieser Argumente auch dafür argumentiert werden kann, dass eine Gesellschaft geradezu moralisch dazu verpflichtet ist, beleidigenden und abwertenden Äusserungen keine (öffentliche) Plattform zu gewähren.

    Fussnoten

    1 Übersetzungen von Textpassagen aus On Liberty orientieren sich an der Übersetzung von Bruno Lemke in der Reclam AusgabeOn Liberty: Über Freiheit: Englisch/Deutsch (2009), verweisen jedoch auf die Textstelle im englischen Original nach den Collected Works of John Stuart Mill, herausgegeben von John M. Robson, in 33 Bänden.
    2 Eigene Übersetzungen, welche nahe am englischen Original sind, werden mit Anführungs- und Schlusszeichen gekennzeichnet.
    3 Ein illokutionärer Sprechakt ist nach John L. Austin (1962) die kleinste, vollständige, sprachliche Einheit. Searle (1999) unterscheidet fünf unterschiedliche, illokutionäre Sprechakte voneinander, wovon die drei für diese Diskussion relevanten hier angesprochen werden.
    4 Nach der Sprechakttheorie von Searle ist ein kommissiver Sprechakt eine Verpflichtung der Sprecherin Handlungen auszuführen, welche den propositionalen Gehalt des Sprechaktes wiedergeben. Dies können Versprechen, Gelübde, Zusicherungen, Verträge und Verbürgungen sein. (Searle 1999, 149)
    5 Ein assertiver Sprechakt dient dazu, den Hörer von der Wahrheit der geäusserten Proposition zu überzeugen. Die Proposition wird als Tatsache, welche die Welt wiedergibt, vorgebracht. Beispiele sind Feststellungen, Beschreibungen, Klassifikationen und
    Erklärungen. (Searle 1999, 148)
    6 Ein expressiver Sprechakt verbürgt die Ernsthaftigkeit des Sprechaktes. Beispiele sind Entschuldigungen, Danksagungen, Gratulationen, Begrüssungen und Beileidsbekundungen. (Searle 1999, 149)
    7 Wahrheitsfunktionalität wird in diesem Kontext nicht im technisch-logischen Gebrauch verwendet, sondern es wird darunter verstanden, dass der propositionale Gehalt von Äusserungen sinnvoll als wahr oder falsch bezeichnet werden kann.


    Literatur

    • Austin, John Langshaw. 1962. How to Do Things with Words. Herausgegeben von James Opie Urmson und Marina Sbisà (1975). Cambridge (MA), Harvard University Press.
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    • Jacobson, Daniel. 2016. “Mill on Freedom of Speech.” In A Companion to Mill, herausgegeben von Christopher Macleod und Dale E. Miller, 440–453. Hoboken: Wiley.
    • Macleod, Christopher und Dale E. Miller. 2016. A Companion to Mill. Hoboken: Wiley.
    • Mill, John Stuart. 1825. “Law of Libel and Liberty of the Press.” In The Collected Works of John Stuart Mill Volume XXI, herausgegeben von John M. Robson (1984). Toronto and Buffalo, University of Toronto Press.
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    • Mill, John Stuart. 1843b. “A System of Logic, Ratiocinative and Inductive: Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation. Part II.” In The Collected Works of John Stuart Mill Volume VIII, herausgegeben von John M. Robson (1974). Toronto and Buffalo: University of Toronto Press.
    • Mill, John Stuart. 1859. “On Liberty.” In The Collected Works of John Stuart Mill Volume XVIII, herausgegeben von John M. Robson (1977). Toronto and Buffalo: University of Toronto Press.
    • Mill, John Stuart. 1859. On Liberty: Über Freiheit: Englisch/Deutsch. Herausgegeben von Bernd Gräfrath (2009). Übersetzt von Bruno Lemke. Stuttgart: Reclam.
    • Mill, John Stuart. 1861. “Utilitarianism.” In The Collected Works of John Stuart Mill Volume X, herausgegeben von John M. Robson (1969). Toronto and Buffalo: University of Toronto Press.
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