Warum der Wissenschaft vertrauen?

Das Buch "Why Trust Science?" zeigt auf, warum wir den Aussagen von Wissenschaftler:innen vertrauen können. Obwohl – oder gerade weil – sie sich ab und zu irren.

    Vielleicht geht es Ihnen ähnlich wie mir und Sie sind in den vergangenen zwei Jahren mehrfach in die Situation geraten, die Glaubwürdigkeit der empirischen Naturwissenschaft verteidigen zu müssen. Sie haben vielleicht versucht zu erklären, weshalb die Wissenschaften sich manchmal irren und wir ihnen doch vertrauen können – und bezogen auf Corona und den Klimawandel auch sollten. Das Buch "Why Trust Science?" der Wissenschaftsforscherin Naomi Oreskes hält für solche Fälle Antworten bereit und eignet sich darüber hinaus auch für den Philosophieunterricht an der Mittelschule. Eine lohnende Lektüre, gerade auch für Naturwissenschaftler:innen. Vorausgesetzt werden dabei Interesse am Thema und Kenntnis der englischen Sprache. Das Buch ist Momentan nämlich nur auf englisch erhältlich; der Text ist jedoch sehr verständlich geschrieben. 

     

    Vertrauen und Zweifel

    Ausgangspunkt von “Why Trust Science?” ist das Problem, dass wissenschaftliche Tatsachen - wie z.B. dass die Klimaerwärmung menschengemacht ist und gravierende Auswirkungen auf das Leben auf der Erde haben wird - in öffentlich-politischen Debatten nicht mehr so leicht hingenommen werden. Verschiedene Zweifel und Gegenargumente werden in Internetforen, Stammtischen, Diskussionskreisen und an anderen ausser-akademischen Orten diskutiert. In extremen Fällen haben auch gefälschte Studien, wie die zur Unschädlichkeit von Rauchen, in der Vergangenheit viel Verwirrung gestiftet. Im Buch “Merchants of Doubt” stellt Oreskes zusammen mit ihrem Kollegen Erik Conway die These auf, dass im Fall der Studien, die den Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs untersuchten, die Tabak-Industrie sogar bewusst Zweifel an der Wissenschft gesät hat um die Studienergebnisse zu verwässern. “Why Trust Science?” ist unter anderem vor dem Hintergrund dieses Buches entstanden. Denn laut Oreskes haben genau diese Diskussionen zu Unsicherheiten geführt und das Vertrauen in die Wissenschaften geschwächt; die Frage, wieso Wissenschaftler:innen überhaupt wissen, was sie wissen und wieso man ihnen vertrauen soll, rückte deshalb in den vergangenen Jahren vermehrt in den Vordergrund. 
    Oreskes unkonventionelle und für Naturwissenschaftler:innen gern irritierende Antwort auf die Frage “Why trust science?” lautet kurz gesagt: Konsens. Die wissenschaftlichen Tatsachen sind verlässlich, weil sich die Wissenschaftler:innen über ihre Wahrheit einig sind. Wie ist das zu verstehen?

     

    Das Wissenschaftsverständnis im Wandel

    Oreskes zeigt auf, wie sich das Vertrauen in die Wissenschaften historisch entwickelt hat. Während früher einzelne Personen als Träger der Glaubwürdigkeit zählten – z.B. Forschern in weissen Kitteln – stand in den letzten Jahrzehnten vermehrt die wissenschaftliche Methode im Zentrum. Die Antwort lautete dann, die Wissenschaft sei verlässlich, weil sie mit objektiven Methoden arbeitet und Fakten über die Welt herausfindet. Die Methoden sind gewissermassen die Werkzeuge, mit denen die Fakten, die bereits in der Welt sind, wie Äpfel vom Baum gepflückt werden können. Diese Erklärung dessen, was Wissenschaftler:innen in ihrer Arbeit tun, birgt jedoch ein Problem: Wie kann es in diesem Fall sein, dass sie sich irren können? Und wie können sie sich jemals sicher sein, dass sie sich diesmal nicht irren? Zu Zeiten von Kopernikus glaubte man schliesslich, die Sonne drehe sich um die Erde. Dies wurde bewiesen und mathematisch berechnet. Sogar die Laufbahnen der Planeten konnten berechnet werden. Bis Kopernikus ebendiese Tatsache auf den Kopf stellte und zeigte, dass man sich geirrt hatte. Tatsächlich drehte sich die Erde schon immer um die Sonne herum. Wie können wir jedoch sicher sein, dass wir uns nicht wieder irren, ohne es zu wissen?
    In der Wissenschaftsphilosophie gibt es einige berühmte Denker:innen, die sich mit ebendiesen Fragen beschäftigt haben und die in Oreskes Buch nicht zu kurz kommen. Die Ideen und Argumente von Karl Popper, Ludwig Fleck, Pierre Duhem, W.V.O Quine, Thomas Kuhn und Helen Longino werden im historischen Teil des Buches vorgestellt und diskutiert. Oreskes schlägt jedoch vor, den Fokus weg von den Methoden der Wissenschaften zu nehmen und die Illusion aufzugeben, es gäbe “positives Wissen”, also Tatsachen in der Welt, die wie Äpfel gepflückt werden können. 

     

    Wissenschaft als sozialer Prozess

    Laut Oreskes ergibt sich eine viel realistischere und stabilere Beschreibung der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, wenn man nicht die Methoden, sondern die Wissenschaftler:innen selbst betrachtet. Und zwar nicht die Menschen als Individuen, sondern wissenschaftliche Gemeinschaften, ihre Diskussionskultur und die Prozesse der Konsensfindung. Kurz gesagt: Laut Oreskes sind wissenschaftliche Erkenntnisse verlässliche Fakten, weil verschiedene Forscher:innen mit verschiedenen Blickwinkeln über ihre Wahrheit gestritten und sie auf Herz und Nieren geprüft haben. Durch diesen Prozess der Konsensfindung, kommen wir am nächsten an das heran, was wahrscheinlich wahr ist. Wir können dann behaupten: Es ist ziemlich sicher wahr, weil sich Wissenschaftler:innen ausgiebig darüber gestritten und alle möglichen Gegenargumente geprüft haben. Taucht genügend Evidenz auf, dass doch ein Fehler gemacht oder etwas nicht berücksichtigt wurde, muss neu diskutiert und die Tatsache vielleicht doch als Irrtum verworfen werden. 
    Selbstverständlich sind die Prozesse naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung komplexer und vielschichtiger. Es reicht nicht, dass Wissenschaftler:innen miteinander streiten, sie müssen in einem passenden naturwissenschaftlichen Bereich ausgebildet sein, den aktuellen Stand der Forschung kennen; es müssen Methoden richtig angewendet und wissenschaftliche Werte hochgehalten werden. Das zweite Kapitel beschreibt ausführlicher, was nötig ist, um Wissenschaft vertrauenswürdig zu machen. Soviel vorweg: Laut Oreskes braucht es mindestens vier Zutaten dazu, nämlich Konsens, Methode, Evidenz und Demut. Das Kapitel bespricht in diesem Zusammenhang am Beispiel von Pseudowissenschaften wie der Eugenik oder der “Limited Energy Theory", was passiert, wenn wissenschaftliche Standards verletzt werden und zeigt, wie wichtig wissenschaftliche Fakten und ein richtiger Umgang mit Wissenschaft für demokratische Gesellschaften sind.

    Wer sich darüber hinaus noch tiefer mit der Geschichte und dem Wesen wissenschaftlicher Forschung auseinandersetzen will, findet im zweiten Teil des Buches vier längere Kommentare zu Oreskes Thesen von Forscher:innen aus Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Als Abschluss des Buches sind schliesslich Oreskes Antworten auf die vier Kommentare abgedruckt. So löst das Buch selber ein, was es postuliert: Dass die Suche nach Wahrheit eine kollektive ist und von einer guten Streitkultur lebt. 

     

    Fazit: Eine überzeugende Einführung in die Wissenschaftstheorie

    Die eine oder andere Naturwissenschaftler:in mag eine solche Beschreibung wissenschaftlicher Forschungsprozesse zuerst irritieren. Schliesslich wird innerhalb naturwissenschaftlicher Ausbildungen viel zu wenig über Wissenschaft reflektiert. Und doch gewinnen die Naturwissenschaften durch ein Verständnis, wie es Oreskes vorschlägt, zentrale Qualitäten. Wissenschaft wird zu etwas, was zugleich stabil und flexibel ist, sodass aus guten Gründen, aber nicht aus Blindheit oder blossem Gehorsam in naturwissenschaftliche Tatsachen vertraut werden kann. Wer Vertrauen in die Naturwissenschaften haben will, tut also gut daran zu verstehen, wie sie funktionieren, auch wenn im ersten Moment das eigene (naive) Vertrauen auf die Probe gestellt werden kann. 


    Oreskes Buch eignet sich genau deshalb auch für den Philosophieunterricht an der Schule, weil es einen Beitrag dazu leisten kann, die Schüler:innen zu mündigen Bürger:innen einer direkten Demokratie zu erziehen. Wie gesagt ist das Buch nur in Englisch erhältlich; Lehrpersonen können die Schüler:innen demnach direkt mit dem fremdsprachigen Text konfrontieren, wichtige Passagen übersetzen oder Oreskes Argument rekonstruieren. Die leichte Sprache und die vielen Beispiele machen “Why Trust Science?” zu einer plastischen, verständlichen und zeitgemässen Einführung in die Wissenschaftstheorie. 

     


     

    Weiterführende Literatur

    • Hasok Chang: Inventing Temperature: Measurement and Scientific Progress (2004).
    • Hasok Chang: Is Water H2O?: Evidence, Realism and Pluralism (2012).
    • Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit (2021).
    • TED Talk von Naomi Oreskes