Nach der eher zäh verfliessenden Zeit an der Bezirksschule in Laufenburg im Kanton Aargau war es im Jahr 2012 endlich soweit: Ich durfte ans Gymi, der Ort, an dem uns wirklich etwas beigebracht werden soll. Meine Teenagerjahre waren generell eine Zeit pulsierender Neugier, die Schweiz erschien mir langweilig und klein, ich wollte möglichst schnell weg, in die weite Welt hinaus. Bis es endlich so weit sein würde, fütterte ich meine Neugier mit Wissen: am liebsten wollte ich alles Wissen auf einmal aufsaugen. Das Gymnasium Muttenz öffnete da vielerlei Türen; gerade bei unserer Klassenlehrerin, die auch unsere Geschichts- und Deutschlehrerin war, standen politische Meinungsbildung und der Erwerb eines kritischen Denkvermögens an erster Stelle. In den anderen Fächern wiederum gestaltete sich das Lernen als nicht sonderlich komplex: Viel richtig oder falsch, viel weiss oder schwarz und vor Allem: stundenlanges Auswendiglernen – der Zauberschlüssel zu den guten Noten.
Doch sonderbarerweise schrammte alles, was wir lernten, an der Frage nach den Bedingungen dieses Wissens und der Institution Schule selbst vorbei. Sinnfragen, sprich die grossen Fragen, welche unter den Dualismen und Binaritäten brodeln, uns gerade wenn wir jung sind schwindlig werden lassen, weil wir sie da zum Glück besonders ernst nehmen und sie in ihrer Komplexität zuerst mal unbewältigbar scheinen – diese Fragen (die doch schlussendlich der Motor unseres Wissensdursts sind) wurden bei uns am Gymi kaum berührt. Damit haben wir auch nicht von grossen Denker*innen gehört, die die grössten (und kleinsten) Fragen des Lebens bereits hunderte Jahre vor uns angegangen sind und eine Palette an Lösungsvorschlägen anbieten, die es bis heute weiterzuentwickeln gilt: Die Philosoph*innen.
Ganz konkret heisst das: Philosophie war kein Thema am Gymnasium Muttenz – ich lernte zwar «em Tüfel es Ohr ab», aber Nietzsche, Kant – ja selbst Aristoteles oder Platon waren Namen, mit denen ich fremdelte, ich hatte keine Ahnung, was diese Herren zu sagen hatten. Zwar standen folgende Fragen oft im Raum: was ist Gerechtigkeit, was ist Emanzipation, was ist Zeit, wie übt man Systemkritik, wie argumentiert man, ja wie denkt man wirklich – die Antworten versuchten wir uns eher selbst und schnell mit Verweis auf die Naturwissenschaften zu geben. Als ich dann beim Tag der offenen Tür der Universität Zürich zum ersten Mal in eine Ethikvorlesung sitzen durfte und da um den moralischen Status von Pflanzen diskutiert wurde, kam ich schnell ins Staunen: «Sind Pflanzen beseelt?». Et voilà, schon wurde sich in eine Frage vertieft, von der ich dachte, man dürfe sie sich höchstens heimlich stellen, da sie nichts mit derjenigen Rationalität am Hut hätte, die wir (gerade als Frauen!) knüppelhart vertreten müssen, um hier auf der Welt etwas zu sagen zu haben.
Ja, so paradox es klingt: Als 17-Jährige kam mir das Philosophieren als irrationales Träumen vor. Und so sehr die Schnuppervorlesung auch frische Neugierde in mir weckte, so fest blieb ich davon überzeugt, dass sich schlussendlich mit ihr «nüt rächts» anfangen liesse.
Sobald das Gymi fertig war und ich genügend zusammengespart hatt, ging ich auf Reisen – an genau die fernen Orte, an die ich mich zu Unterrichtszeiten immer hingeträumt hatte. Und da konnten sich mir die grossen (und ziemlich skeptischen) Fragen zum ersten Mal ganz ungefiltert stellen: Was ist der Sinn unseres Lebens? Wachstum und Erfolg – das bedeutet an anderen Orten verschiedenes – woher kann ich wissen, dass die Auslegung, die wir in Westeuropa lernen, der richtige Weg ist? Warum überhaupt sollten diese Kategorien so die richtigen sein? Aber auch: In einer anderen Sprache zu sprechen, verändert das meine Person, meine Wirklichkeit? Gibt es eine Wirklichkeit ohne Sprache? Wie sind all die verschiedenen Wirklichkeiten, in denen wir leben, kompatibel, gibt es da eine Wahrheit und einen Zugang? Wie definiert man Wahrheit? Und lässt sich all das, worüber wir nachdenken, in ein System packen? Gibt es auf dieser Welt ein Ganzes, oder ist die Annahme eines Ganzen eine verklärte Illusion?
Das sind die Fragen, mit denen ich damals mein Notizbuch füllte. Mir war nicht bewusst, dass ich mich an der Uni mit genau diesen Fragen wissenschaftlich auseinandersetzen kann. Als ich dann nach Wien zog, um mich dort in verschiedenen Fächern auszutoben, bevor ich dann mein Medizinstudium beginnen wollte (was ich dann nie tat), hatte ich mich erst für Chemie und Geschichte entschieden. Ich war völlig verzaubert vom trockensten Geschichtseinführungsseminar «Quellen und Methoden». Da diskutierten wir über die Bedingungen von Wahrheit, über den hermeneutischen Zirkel, das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, über Foucault und Netzen von Macht, und die Bedeutung der Kontingenz für unsere Geschichte: und so trocken das nun klingen mag – plötzlich öffnet sich eine neue Welt, eine Art Narnia, in der ich plötzlich das Vokabular lernte mit welchem ich mich all den komplizierten Fragen nähern konnte ohne in Schwindel zu verfallen (oder den Schwindel zumindest besser auszuhalten lernte). Mein Geschichtsprofessor erkannte meine Faszination für diese Fragestellungen und riet mir, mich in einige Philosophieseminare zu hocken. Das habe ich getan – und mit der Philosophie endlich ein Zuhause gefunden: Hier fand ich einen Ort, an dem man nicht beim Auswendiglernen und mit falsch oder richtig aufhört. Im Philosophiestudium lerne ich, die Welt anders, auf ganz verschiedene (und manchmal gar widersprüchliche Weisen) zu verstehen und kennenzulernen – ganz ohne mit dem Flugzeug an das andere Ende der Welt zu reisen. Wir lernen andere Denkweisen kennen, Methoden, um komplexe Sachverhalte verständlich wiederzugeben, ohne ihre Vielfalt auszulöschen. Wir lernen, Texte ganz genau zu lesen; ein Gespür für sie zu entwickeln und sie im Detail zu diskutieren. Vor Allem aber lernen wir, was es bedeutet, wirklich kritisch und zugleich offen zu sein und vor der Komplexität der Welt (eine ihrer wichtigsten Eigenschaften!) nicht zurückzuschrecken.