Erfahrungsbericht eines Schülerstudiums an der Universität Luzern während des Lockdowns
Es herrschte Ruhe in der gesamten Stadt. Besser: Die Ruhe beherrschte uns, bezwang uns. Wir waren geschlagen, ja gelähmt. Alle Fertigkeiten, die wir Tag für Tag verrichteten, alle Gewohnheiten, die mit der Zeit sich an unser Wesen schmiegten, alle Gesichter, denen wir regelmässig ein Lächeln ins Gesicht zauberten waren plötzlich fort. Nicht nur war es unmöglich weiterhin an ihnen festzuhalten, sondern, losgelöst vom normalen Alltag, die dem einzelnen das Gefühl von Ordnung und Geborgenheit vermitteln, verloren sie augenblicklich ihren Notwendigkeitscharakter. Denn wie vieles machte man, allein aus dem Grund, dass es in die damals geltende Ordnung passte und nicht weil es tatsächlich passte. Es reichte nun nicht mehr, dass etwas einen gewissen Zweck erfüllte. Denn in einer Welt des Stillebens, der Ruhe, gab es eben nicht mehr so viele Zwecke. Es galt fortan die Dinge ihrem intrinsischen Wert nach zu beurteilen. Dies erwies sich jedoch als keine ungefährliche Angelegenheit. Zu hoffen, dass ein 16-jähriger, pubertierender Junge, die richtigen Zwecke, den richtigen Sinn im Leben entdeckt, wenn doch gerade die absolute Zwecklosigkeit, die Faulheit und der Müssiggang immer handgriffbereit sich darbieten, war äusserst heikel und raubte den einen oder anderen Eltern zu dieser Zeit sicher für ein paar Nächte ihren Schlaf.
Ich hatte also plötzlich Zeit. Was soll ich heute machen? Was kann ich auch nicht machen? Was will ich machen? Dies waren die ersten Fragen, mit denen ich mich jeden Tag aufs Neue auseinandersetzte. Es schlummerte jedoch von Anfang auch eine andere Frage unter der Oberfläche dieser Fragen mit. Es war eine seltsame und unberuhigende Frage, die man möglichst schnell als ein reines Hirngespinst zu entlarven hofft, es jedoch nie ganz schafft. Sie ist spürbar, mal mehr, mal weniger, aber sie ist immer spürbar. Die Warum-Frage! Warum soll ich das machen? Warum will ich dies machen? Aber verflucht sind diese Fragen, die sich unendlich oft stellen lassen, und einem nie eine befriedigende Antwort versprechen. Umso stärker ich mich darum bemühte diese Warum-Frage zu ignorieren, zu unterdrücken, desto unverrückbarer setzten sie sich fest. Ich begann mir einzureden, alles was ich tue habe einen Sinn, ich kenne ihn nur noch nicht, er werde sich mir aber mit der Zeit offenbaren, und wenn es gar keinen Sinn gebe, dann würde ich ihn auch nicht jetzt herausfinden - ohne Erfolg. Die Zweifel hatten sich schon ausgebreitet und liessen sich kaum mehr ausblenden, ja hochansteckend waren sie! Nicht nur Jede Handlung, und jedes Ziel mussten einer genauen Prüfung unterzogen werden, vielmehr tauchten viel allgemeinere Fragen plötzlich auf: Hat der Mensch eine Bestimmung? Ist das Ziel des Menschen glücklich zu werden? Wie wird er denn glücklich? Und wenn er garnicht glücklich werden kann? Oder wenn die altherkömmliche Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ nun doch stimmt, und man auf dem Weg zum Glück eigentlich schon glücklich ist? Aber wieso will ich dann noch zum Ziel wenn, nur der Weg eigentlich glücklich macht? Ich verspürte zum Ersten Mal ein tiefsitzendes Unbehagen in mir: die Welt war mir fremd und merkwürdig, ein Wunder und ein Geheimnis geworden. Ich wusste weder wer ich bin, noch was ich wollte.
Ich war ratlos und verwirrt, ja gar beängstigt, denn ich wurde die Sorge, wie sich das Leben noch meistern liesse, wenn es keine festen Regeln gibt, nicht los. Ich musste Regeln und Gesetze wieder herstellen. Ich wandte mich den Philosophen zu, sie mussten doch auch von dieser „Krankheit“ geplagt gewesen sein, und werden wohl Bücher darüber geschrieben haben, die als Heilmittel fungieren können. Doch sich der Philosophie hinzuwenden war leichter gesagt als getan. Schwierigkeiten kamen auf: Wo fange ich an? Gehe ich chronologisch vor? Oder fange gleich bei den berühmten Philosophen des 20. Jhr. An, die sind wohl „fortgeschrittener“. Ich nahm also Karl Jaspers Einführung( ein Buch, das ich heute noch immer wieder von Neuem lese und jedem als erster Berührungspunkt mit der Philosophie empfehle) zur Philosophie hervor, in der ich jedoch lass, dass Philosophie sich gerade dadurch von den üblichen Wissenschaft unterscheide, dass sie nicht progressiv verläuft. Selten sind Philosophische Theorien, nur aus dem Grunde veraltet und überholt, weil sie ihren Ursprung in der fernen Vergangenheit finden. Enttäuscht legte ich also das Buch wieder zur Seite und griff nun doch nach den Dialogen Platons. Welch verschnörkelte und ungewohnte Sprache musste ich vorfinden. Wieviel Mühe musste ich aufwenden um mich durch die geschachtelten und anspielungsreichen Sätze dieser Dialoge durch zu quälen. Und dann? Was war denn dann meine Erkenntnis? Wenn es zwar Spass machte die Sätze zu entziffern, über kluge Sätze zu stolpern und über das ab und zu darauffolgende Verständnis dieser bald schon aber vergessenen Sätze zu stolzieren, kam ich doch nie wirklich zu der alles mit einander in Einklang bringenden Erkenntnis. Viele Begriffe und in diesen Dialogen präsentierten Stellungnahmen blieben mir immer noch fremd, und versperrten mir den Weg zu einer in die Tiefe dringenden Erkenntnis. Doch aber nicht nur das Verstehen allein der Texte machte mir Schwierigkeiten, sondern besonders auch, das Kritisieren dieser Text. Sie schienen alle so plausibel, was sollte an ihnen schon falsch sein, fragte ich mich. Die Fähigkeit zwischen verschiedenen philosophischen Positionen zu vermitteln, die Position selbst weiterzudenken und sich der daraus wachsenden Konsequenzen bewusst zu werden, war es was mir schlichtweg fehlte. Daher suchte ich mir im Hilfe, doch vergeblich. Denn viele verschiedene Internetseiten zu spezifischen Themen widersprachen einander oder waren so banal, das man nicht ihrer bedurfte.
Es erwies sich daher als ein grosses Glück für mich, die Möglichkeit zu haben, ein Schülerstudium zu beginnen. Ein Schülerstudium, ist ein von vielen Schweizer Universitäten angebotenes Programm, dass Gymnasialschülern erlaubt, Kurse an den Universitäten zu besuchen. Die Kurse können in jeden Fächern besucht werden und können im Fall eines in demselben Fach aufgenommen Studiums nach der Matura angerechnet werden. Die Voraussetzungen für eine Aufnahme in dieses Förderprogramm können je nach Universität variieren. Ich musste für meine Bewerbung für ein Schülerstudium an der Universität Luzern bloss ein Empfehlungsschreiben einer beliebigen Lehrperson vorweisen.
Vor allem für Philosphie-Interessierte erweist sich meiner Meinung nach die Möglichkeit eines solchen Schülerstudiums als eine grosse Chance! Denn alleine ist es sehr schwer, sich durch die Philosophie zu arbeiten, da jeder Text meist auf andere Texte verweist oder Kenntnisse gewisser philosophischer Positionen und Problematiken voraussetzt. Doch aber auch die Kontextualisierung und die Erläuterung der Bedeutung eines jeweiligen Textes, sind Leistungen mit denen Professoren einem sehr helfen können. Die Kurse absolviert jeder Schülerstudent mit den normalen Studenten und von ihm wird auch verlangt die selben Leistungsnachweise zu vollbringen.