Zwischen 120 km/h und dem unvermeidlichen Crash

Ein Erfahrungsbericht einer Studentin mit spät diagnostiziertem ADHS 

    «Hey, schreib doch mal einen Erfahrungsbericht über dein Studium!». Solche Vorschläge sind so leicht gegeben und es wird auch erwartet, dass die leichte Kost zurückkommt. Nicht in diesem Bericht, denn ich vermute, dass es höchste Zeit ist, dass eine Person mit mehreren Steinen im Weg darüber schreibt, wie schwierig ein Studium sein kann, wenn gewisse mental health struggles ständige Begleiter sind.

    ADHS ist eine umstrittene Krankheit: manche haben das Bild eines Zappelphilipps im Kopf, wieder andere sehen es als «einfach ein lebendiges Kind» und wieder andere glauben gar nicht, dass es als Diagnose überhaupt existiert – geschweige denn ernst genommen wird. Dazu möchte ich meine schulische Laufbahn erläutern, bevor ich zum Studium komme.

    ADHS wurde bei mir schon als Kind vermutet, genauer gesagt als ich vier Jahre alt war. Meine Mutter schleppte mich zu einer Kinderärztin, wo ich im Besprechungszimmer nach fünf Minuten schon einen Pflanzentopf umstiess. Die Ärztin knallte daraufhin gleich ein Ritalin-Rezept auf den Tisch, ohne mich überhaupt richtig untersucht zu haben. Meine Mutter war schockiert darüber, wie unprofessionell das war und entschied sich, mir keine Medikamente zu geben. Dazu habe ich heute noch gemischte Gefühle.

    Die Jahre vergingen und ich kam in die Primarschule. Dort war meine Krankheit praktisch unsichtbar, da sie sich anders präsentiert als bei den Jungs in meinem Alter. Dr. Klaus Skrodzki, Vorstandsmitglied der AG ADHS, beschreibt das Erscheinungsbild von ADHS bei Mädchen folgendermaßen:

    «Bei Mädchen mit einer ADHS äußert sich die Störung weniger durch Hyperaktivität und Aggressionen, sondern mehr durch innere Unruhe, andauerndes Reden und durch starke emotionale Schwankungen. Vergesslichkeit, mangelnde Selbstorganisation, Tagträumerei, langsames Arbeitstempo, niedriges Selbstbewusstsein, Ängstlichkeit und Mutlosigkeit fallen weniger ins Auge als die typischen Verhaltensstörungen bei Jungen mit einer ADHS. […] Oft schaffen sie es gerade noch, sich in der Schule zusammenzureißen. Zuhause sind sie dann sehr erschöpft, labil oder zeigen impulsive Ausbrüche. Mit zunehmender Belastung in den höheren Klassen gelingt es ADHS-Patientinnen dann oft nicht mehr, sich einzufügen. Sie entwickeln in vielen Fällen depressive Symptome, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen oder Anzeichen einer Angsterkrankung. Zudem sind sie suchtgefährdet.»

    (Den Artikel findest du hier

    Weil die Symptome bei Mädchen eher nach innen gerichtet sind, bleibt die Krankheit so lange unerkannt und es werden stattdessen Begleiterkrankungen diagnostiziert und behandelt. Die Wurzel des Übels bleibt jedoch oft unberührt.

    Da ich eine natürlich hohe Intelligenz besaß, waren meine Noten bis zum Studium auch immer gut – teilweise sogar überdurchschnittlich gut. Dies ist kein Bild, welches man mit ADHS verbinden würde und so blieb meine Krankheit fast mein ganzes Leben unentdeckt, während mich die Symptome und gewisse Begleiterkrankungen jedoch plagten und in meinem Privatleben auch sehr belasteten. In der Schule habe ich es aber trotzdem immer geschafft, die Kurve zu kratzen und konnte meine Matura mit einer 5 abschließen.

    Flash Forward zum Studium. Ich entschied mich für das Hauptfach Philosophie (was übrigens von vielen Leuten mit ADHS gewählt wird). Ich verliebte mich im Gymnasium in das Fach, da mein Gehirn schon immer auf 120 km/h raste und die Philosophie mir ein Outlet für diese Gedanken gab. Niemand störte meinen Redefluss, meine tausend Fragen oder die Tatsache, dass ich nichts einfach sein oder unbeantwortet lassen konnte. Das waren die schönen Seiten am Studium. Jedoch war es auch eine ganz klare Umstellung vom Gymnasium, da ich viel mehr auf mich alleine gestellt war. Das war eine Herausforderung, die ich lange nicht mehr meistern konnte. Vorher konnte ich akademisch die Kurve kratzen, da ich keine Autoritätspersonen enttäuschen wollte und strengte mich deswegen auch immer an, keine Störungen zu verursachen und immer zu tun, was von mir verlangt wurde. Das änderte sich schlagartig, da ich nun alles selbst in der Hand hatte und keinerlei Überwachung da war. Ich fing an zu prokrastinieren, Sachen aufzuschieben, gewisse Seminare zu verpassen und sobald ich mich versah, war ich unwiderruflich hinter allen anderen. Das war ein Schlag ins Gesicht, da ich diese Art von Scheitern nicht gewohnt war. Ich wusste nicht, was los war: Ich liebte mein Fach und ich war auch gut darin. Ich liebte meine Uni und war gut sozial angeschlossen. Was war nur los? Warum kriegte ich es einfach nicht auf die Reihe so zu studieren, wie alle anderen? Der unvermeidliche Crash war nun passiert.

    Ich erspare dir hier die Details meiner langen Reise zu einer Diagnose, aber lasse es mich so zusammenfassen: Ich begann vor vier Jahren zu vermuten, dass ich an ADHS litt und die Diagnose wurde offiziell erst vor wenigen Wochen gestellt. Ich war bei zig Ärzten, Therapeuten und Neurologen, die mich allesamt nur schon bei der Frage: «Waren sie gut in der Schule?» nicht mehr ernst nahmen, als ich ihnen schilderte, dass ich bis zum Studium eine exzellente Schülerin war. Ich kämpfte jedoch weiter für eine Diagnose, da ich wusste, dass etwas nicht stimmt und ich war dazu getrieben, alles zu geben, um mein Studium weiterführen zu können. Denn ich liebte die Philosophie und wollte sie nicht aufgeben, nur weil gewisse Ärzte nicht auf dem neuesten Stand waren, was ADHS betrifft.

    So ging ich vor ein paar Monaten zu einer neuen Therapeutin, die die Krankheit bei mir schon nach ein paar Sitzungen von selbst erkannte. Sie las sich auch meine Akten durch und versicherte mir, dass es schon viel früher erkannt werden sollte. «Ich wusste es!», dachte ich mir, «Ich wusste, dass hinter all diesen Mühen mehr steckt».
    Ich möchte hier nicht auf die Details meiner Behandlung eingehen, da alles noch ziemlich frisch ist und sich gewisse Fortschritte auch erst nach gewisser Zeit zeigen werden. Ich bin aber diese Woche wieder in die Uni eingestiegen und bemerke jetzt schon einen Unterschied. Ich hoffe, dass sich noch mehr zeigen werden.

     

     

    Wenn du an Philosophie interessiert bist und auch vermutest, neurodivergent zu sein, empfehle ich folgende Artikel:

    Philosophy and Neurodiversity:
    https://www.lse.ac.uk/philosophy/blog/2022/03/02/philosophy-and-neurodiversity/

    A Philosophical Journey with ADHD:
    https://medium.com/@MrsH8ls/a-philosophical-journey-with-adhd-998afe58b0f4

    Did Rousseau have ADHD?:
    https://aeon.co/essays/was-rousseau-s-restless-genius-a-symptom-of-adhd

    Philosophy-as-therapy: good for the person and the community:
    https://research.leedstrinity.ac.uk/en/publications/philosophy-as-therapy-good-for-the-person-and-the-community