Die philosophische Beschäftigung zeigte lange die Tendenz, den Facettenreichtum des Phänomens nicht einholen zu können. Erst mit der phänomenologischen Bewegung im 20. Jahrhundert begann eine breite Fokussierung der Formen von Liebe. Im Anschluss an eine eben solche Annäherung soll im Folgenden eine grundlegende Dimension für das weite Feld der Liebe eingebracht werden, die eine orientierende Differenzierung zwischen gefühlsmäßiger und dispositioneller Liebe gestattet.
Dass dies nötig ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass zwar der Sprachgebrauch des Alltags vieles „Liebe“ nennt, eine genauere Analyse aber zeigt, dass gleich Benanntes nicht notwendig gleiche Bedeutung haben muss. Die Liebe zu einer Person zeichnet sich (oft und zumeist) durch hohe affektive Präsenz und Bedeutsamkeit für den Einzelnen, daneben auch durch einen Anteil von Wollust mit sexueller Konnotation und schließlich durch Anspruch auf Exklusivität aus.[1] Die Liebe an einem Tun dagegen – wenn man zum Beispiel sagt, „ich liebe es, im See zu schwimmen“ – hat von den drei genannten Merkmalen vielleicht das erste, nicht aber die anderen beiden, denn weder ist sie sexuell konnotiert, noch ist sie auf Exklusivität angewiesen, denn die Liebe zum Schwimmen im See verträgt daneben und sogar zeitgleich auch andere solche Zuneigungen. Demnach tritt Liebe in verschiedenen Formen auf und Aufgabe der phänomenologisch vorgehenden philosophischen Besinnung ist es, diese Formen zu scheiden und auf den Begriff zu bringen.
Wenn hier phänomenologisch argumentiert wird, wird damit Rekurs genommen auf eine philosophische Tradition mit eigenen methodischen Vorannahmen. In aller Kürze lässt sich sagen, dass der Kern der phänomenologischen Herangehensweise darin besteht, das Begegnende (a) zunächst so hinzunehmen wie es sich gibt, (b) kritisch zu prüfen, ob sich keine sachfremden Deutungen, Interpretationen usw. über das Begegnende gelegt haben, und (c) die so aufgeschlossene und kritisch betrachtete Lebenserfahrung durch begriffliche Fixierung dem Sprechen darüber und der Besinnung darauf zugänglich zu machen.[2] In diesem letzten Sinne kann Phänomenologie als ein Aufklärungsunternehmen gelten.
Im Hinblick auf das Phänomen Liebe fällt auf, dass eine konkrete Paarliebe – etwa Mann und Frau – im Laufe ihres Bestehens oft einen charakteristischen Wandel erlebt, nämlich den Umschlag vom affektiv aufgeladenen Zustand hin zum affektiv weniger auffälligen „In-Liebe-sein“. Oft wird dieser Umschlag zum Problem, wenn die Betroffenen diesen Wandel als Verlust erleben. Liebe als aktuelles Gefühl ist nämlich zumindest für den westlichen Kulturkreis der ausgezeichnete, paradigmatische, oft vom Individuum gesuchte und erwartete Fall des Phänomens. Wird nun in einer Partnerschaft die Aktualität durch Fortdauer der Gemeinsamkeit langsam zu einer Disposition, einer latenten Form, kann dies als Defizit erscheinen. Der Philosoph Hermann Schmitz aber weist darauf hin, dass beide Seiten zur Liebe gehören: „Liebe ist nicht bloß ein aktuell spürbares Gefühl wie frischer Zorn oder frische Freude, über die man sich in reinen Fällen kaum täuschen kann, sondern auch eine Disposition, deren Bestehen sich erst bei Gelegenheit vielfältiger Herausforderungen durch entsprechende Stellungnahmen und Nuancen des Verhaltens herausstellt.“[3] Was hat er dabei vor Augen? Einerseits begegnet Liebe auffällig als das ergreifende Gefühl – besonders stark im ersten Moment des Verliebtseins, aber auch immer wieder bei besonderen Gelegenheiten, wenn der Partner zum Beispiel bestimmte charakteristische und als besonders wertvoll erachtete Tätigkeiten vollführt oder spezielle Nuancen von sich offenbart usw. Andererseits aber besteht Liebe auch als das, was eine Partnerschaft auszeichnet über ihre Dauer hinweg. Diese Liebe wird nicht so stark auffällig, bildet aber den Grundton einer Partnerschaft, leitet die sich bildende gemeinsame Situation des Paares. Sie bestimmt als gleichsam dispositionelle Basis die gemeinsame Welt – was ist relevant, was tritt als bedeutsam hervor, was als problematisch usw. Vergeht diese Liebe, zeigt sich das zum Beispiel daran, dass ein Sachverhalt von einem der beiden Partner als relevant oder gefährlich oder schön o.ä. thematisiert wird, vom anderen nicht oder in entgegengesetzter Weise: der eine hält das tägliche gemeinsame Morgenritual für schön, dem anderen ist es gleichgültig oder es nervt ihn.
Wie verhalten sich beide Aspekte von Liebe zueinander? Naheliegend wäre die Vermutung, es gäbe zunächst das aufdringliche Gefühl, das nach und nach zu einer gemeinsamen Disposition absinkt. In der zeitlichen Abfolge im Erleben ist dies auch häufig der Fall, aber der strukturelle Zusammenhang stellt sich anders dar. Schmitz schreibt, es „kommt nicht eigentlich zum Gefühl die Disposition hinzu, sondern zum Ergriffensein von der Atmosphäre, die das Gefühl ist, die kommunikative Kompetenz für die dieses Gefühl ansaugende und von ihm wesentlich mitgestaltete gemeinsame Situation.“[4] Nach dieser phänomenologischen Lesart ist das atmosphärische Gefühl, von dem die Liebenden ergriffen sind, der auffällige Mitspieler, der jedoch selbst als zwar prägende, aber letztlich auch dienende Instanz für die gemeinsame Situation der Liebespartnerschaft zu gelten hat. Liebe im Sinne der Disposition ist dann die Umgangskompetenz mit dem Gemeinsamen. Scheitert diese Liebe im Alltag, liegt ein Kommunikationsdefizit vor, indem die Partner auf unterschiedliche Weise auf die gemeinsame situative Grundlage zugreifen.
Aus diesem kursorischen Einblick in eine Dimension von Liebe lässt sich ganz im Sinne des kurz angerissenen phänomenologischen Vorhabens die Fähigkeit entwickeln, auf das je eigene Erleben kritisch einen Blick zu werfen. Trägt das Gemeinsame einer Partnerschaft noch? Warum sieht der eine Sachverhalte im Alltag anders oder ggf. gar nicht, die dem anderen höchst wichtig sind? Zudem verdeutlicht dieser Zugriff, wie sich das auffällige Liebesgefühl einbettet in einen dispositionellen Grund. Je nach Lebenslage haben Menschen dann auch ein anderes Bedürfnis eher nach dem Gefühl oder – etwa als langjähriger Single – der dispositionellen Erdung. Phänomenanalyse hilft auf diese Weise, dem Sichfinden des Menschen in seiner Umgebung Begriffe zu geben.
[1] Natürlich gibt es davon abweichende Formen des Auslebens von Liebe, die im Rahmen des Vorliegenden jedoch aus pragmatischen Gründen ausgespart werden.
[2] Für eine allgemeine Einführung in die phänomenologische Methode vgl. D. Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger. Paderborn 2007, spezieller für die hier verfolgte Methode vgl. hinweisend Hermann Schmitz: „Was ist ein Phänomen?“, in: D. Schmoll, A. Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen. Freiburg, München 2005, S. 16–28
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[3] Hermann Schmitz: Die Liebe. Bonn 2007, S. 7.
[4] Hermann Schmitz: Die Liebe. Bonn 2007, S. 81.