In ihrem Aufsatz „Can Pain Sometimes Be Worse for Them than for Us?“1 untersucht die Philosophin Sahar Akhtar die in der Philosophie und in den Biowissenschaften weit verbreitete Ansicht, dass nichtmenschliche Tiere Schmerzen nur in physischer Form erleben können. Im Gegensatz zu Menschen hätten nichtmenschliche Tiere kein Selbst- und Zeitbewusstsein und deswegen, so eine Folgerung dieser Ansicht, seien Schmerzen für nichtmenschliche Tiere weniger schlimm als für Menschen. Doch ist diese Folgerung gerechtfertigt? Sahar Akhtar möchte in ihrem Aufsatz zeigen, dass diese Folgerung nicht so naheliegend ist, wie sie zunächst erscheint.
Ansichten über das Empfinden von Schmerzen und Leiden
Können nichtmenschliche Tiere (fortan nur „Tiere“) Schmerzen empfinden? Der Philosoph René Descartes meinte, dass Tiere keine Schmerzen empfinden können, weil Tiere kein Bewusstsein hätten und sie lediglich Maschinen oder Automaten seien. Der Theologe Peter Harrison meint, dass der Schmerz die Funktion habe, dem Wesen, welches die Schmerzen erlebt, Gründe dafür zu geben, anders zu handeln. Da Tiere nicht nach Gründen handeln und keinen freien Willen haben, so Harrison, gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dass Tiere Schmerzen empfinden können.
Von diesen wenigen Fällen abgesehen wird es mit überwiegender Mehrheit akzeptiert, dass Tiere Schmerzen empfinden können. Einige Philosoph*innen machen nun eine Unterscheidung zwischen Schmerzen empfinden und leiden. Sie argumentieren entweder, dass Tiere zwar Schmerzen empfinden können, aber nur (erwachsene) Menschen leiden können, oder, dass Tiere, verglichen zu Menschen, nur in einer eingeschränkten oder abgeschwächten Form leiden können.
Für den Philosophen Daniel Dennett besteht zu leiden darin, zu erkennen, dass man seine Wünsche nicht erfüllen, seine Bedürfnisse nicht befriedigen und seine Ziele nicht erreichen kann. Um zu erkennen, dass man seine Wünsche nicht erfüllen kann, und so weiter, braucht es laut Dennett eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten, die nur bei erwachsenen Menschen vorhanden sind. Es braucht ein Selbst, das in der Lage ist, über sein Leben und seine Situation nachzudenken, und das sich an Schmerzen erinnern und das Schmerzen antizipieren kann.
Der Philosoph Michael Tye argumentiert, dass schon sehr simple Kreaturen ein Bewusstsein haben und Schmerzen empfinden können, diese aber nicht leiden können. Zu leiden bedeutet für Tye, dass man kognitiv seine Schmerzen wahrnimmt und beachtet. Zum Beispiel leidet man, wenn man Kopfschmerzen hat und diese auch kognitiv, also sie in Gedanken, wahrnimmt und beachtet. Wenn man aber kurz abgelenkt ist und seine Gedanken woanders hat, dann verschwinden die Kopfschmerzen zwar nicht, aber man leidet für diese kurze Zeit der Ablenkung nicht, weil man seine Kopfschmerzen nicht kognitiv wahrnimmt und beachtet. Die Fähigkeit, Schmerzen kognitiv wahrzunehmen und zu beachten, erfordert, so Tye, eine höhere Form von Bewusstsein, die viele Kreaturen nicht haben. Es brauche ein Bewusstsein, welches in der Lage ist, über die eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen nachzudenken.
Für den Philosophen Robert Hanna bedeutet Schmerzen zu empfinden, Schmerzen bewusst im Körper wahrzunehmen, während zu leiden bedeutet, selbst-bewusst, selbst-reflektiert und emotional Schmerzen zu haben. Da Tiere keinen Begriff vom Selbst haben, können Tiere auch nicht selbst-bewusst oder selbst-reflektiert Schmerzen haben und somit können sie auch nicht leiden.
Akhtar fasst nun die Ansichten dieser Philosophen zusammen. Um leiden zu können,
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muss ein Wesen sich bewusst sein, dass es Schmerzen empfinden kann (Selbstbewusstsein)
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muss ein Wesen in der Lage sein, sich an Schmerzen erinnern und sie antizipieren zu können (Zeitbewusstsein)
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muss ein Wesen in der Lage sein, zu erkennen, dass Schmerzen sein Leben und seine Wünsche, Bedürfnisse und Ziele etc. beeinträchtigen können.
Wie kann man wissen, wie schlimm ein Schmerz für ein Individuum ist?
Wie kann man wissen oder herausfinden, wie schlimm ein Schmerz für ein Individuum ist? Ein Weg, um das herauszufinden, ist, den Schmerz mit dem Wohl oder Wohlergehen des Individuums in Verbindung zu bringen. Das Wohl eines Individuums hängt davon ab, wie viele Interessen des Individuums befriedigt sind und wie viele nicht. Zum Beispiel haben wir die Interessen, unseren Hobbys nachzugehen, uns politisch zu beteiligen und keine Schmerzen zu empfinden. Wenn alle unsere Interessen befriedigt sind, dann geht es uns gut und uns ist es sehr wohl. Wenn hingegen keine von unseren Interessen befriedigt sind, dann geht es uns schlecht und uns ist es überhaupt nicht wohl.
Wie schlimm ein Schmerz für ein Individuum ist, hängt nun davon ab, wie sehr der Schmerz das Wohl des Individuums beeinträchtigt. In anderen Worten: Wie schlimm ein Schmerz für ein Individuum ist, hängt davon ab, wie sehr und wie viele Interessen der Schmerz frustriert.
Angenommen, wir haben einen stechenden Schmerz in unserem Arm und wir haben nur die drei vorher genannten Interessen. Der Schmerz an sich frustriert unser Interesse, keine Schmerzen zu empfinden. Aber nicht nur das: Wegen dem Schmerz können wir nicht mehr Tennis spielen gehen, also frustriert der Schmerz zusätzlich unser Interesse, unseren Hobbys nachzugehen. Der Schmerz frustriert hingegen nicht unser Interesse, uns politisch zu beteiligen, da wir noch immer abstimmen und unsere Ansichten kundtun können. Der Schmerz ist in diesem Beispiel recht schlimm, weil er sehr unser Wohl beeinträchtigt, weil er zwei von drei von unseren Interessen frustriert.
Dieses Beispiel ist natürlich vereinfacht. Wir haben viel mehr Interessen und, weil wir über uns selbst und über unsere Zukunft nachdenken können, können wir höhere und komplexe Interessen ausbilden. Die meisten von uns haben das Interesse, gesund zu leben, aber auch das Interesse, Zigaretten zu rauchen oder Kuchen zu essen. Wir sind manchmal bereit, freiwillig auf Zigaretten oder Kuchen zu verzichten, um das Interesse, gesund zu leben, zu befriedigen. Wir gehen auch freiwillig zum Zahnarzt, auch wenn es schmerzhaft und unangenehm ist, weil wir gesunde Zähne haben möchten oder nehmen keine Drogen, weil wir die Kontrolle über unser Leben nicht verlieren möchten, obwohl Drogen berauschend und schmerzlindernd sind.
Die Fähigkeit, über uns selbst und über unsere Zukunft nachdenken zu können, hat Implikationen für das Empfinden von Schmerzen. Akhtar argumentiert, dass diese Fähigkeit uns helfen kann, Schmerzen zu relativieren, zu ignorieren oder diese besser zu ertragen. Wenn wir zum Zahnarzt gehen oder uns einer schmerzhaften Operation unterziehen, dann tun wir das, im Wissen, dass der Schmerz nur temporär und vorübergehend ist. Wir können die Schmerzen vom Zahnarzt oder von der Operation relativieren, wir können sie besser ertragen, weil wir wissen, dass sie nur temporär und vorübergehend sind. Und wenn Ballerinas und Rugby-Spieler hart trainieren und während und nach dem Training grosse Schmerzen erleiden, dann nehmen sie diese Schmerzen bewusst in Kauf, weil sie bestimmte Ziele erreichen möchten. Der Wunsch, Schwanensee zu tanzen oder die meisten Punkte in einem Spiel zu holen, hilft Ballerinas und Rugby-Spieler, ihre Schmerzen zu relativieren oder zu ignorieren. Oder wir klettern bereitwillig auf den Mount Everest, um das perfekte Selfie für Instagram zu machen, auch wenn die Bergsteigung mit vielen Schmerzen verbunden ist.
Kann der gleiche Schmerz für andere schlimmer sein als für uns?
Mit diesen Überlegungen möchte Akhtar zeigen, dass der gleiche Schmerz für andere schlimmer sein kann, als für uns.
Wie schlimm ein Schmerz für ein Individuum ist, hängt davon ab, wie sehr und wie viele Interessen der Schmerz frustriert. Verschiedene Menschen haben verschiedene Interessen und die Interessen können unterschiedlich von Schmerzen betroffen sein. Für eine Ballerina sind Schmerzen im Fuss wesentlich schlimmer, als die gleichen Schmerzen für eine Krimi-Autorin, weil die Schmerzen im Fuss die Ballerina am Tanzen hindern, die gleichen Schmerzen die Krimi-Autorin aber nur bedingt am Schreiben hindern. Die gleichen Schmerzen frustrieren mehr Interessen bei der Ballerina als bei der Krimi-Autorin und somit ist das Wohl der Ballerina mehr beeinträchtigt als das Wohl der Krimi-Autorin. Umgekehrt können Schmerzen in den Fingern schlimmer für die Krimi-Autorin sein, als die gleichen Schmerzen für die Ballerina.
Was bedeuten diese Überlegungen für das Empfinden von Schmerzen bei Tieren? Wenn es stimmen sollte, dass Tiere kein Selbst- und Zeitbewusstsein oder sonst keine höhere Form von Bewusstsein haben, dann bedeutet das, erstens, dass Tiere keine komplexe und höhere Interessen ausbilden können, und zweitens, dass Tiere nicht, wie wir Menschen, Schmerzen relativieren, ignorieren oder besser ertragen können.
Mäuse, zum Beispiel, haben die Interessen, keine Schmerzen zu empfinden, genügend Nahrung für sich und für den Nachkommen zu finden und eine Unterkunft zu haben. Mäuse haben aber keine komplexe oder höhere Interessen, wie zum Beispiel, in einer Demokratie zu leben, ein Selfie auf dem Mount Everest zu machen oder ein Krimi-Buch zu schreiben. Dies bedeutet, dass ein Schmerz für eine Maus viel schlimmer sein kann, als der gleiche Schmerz für einen Menschen, weil ein Schmerz viele oder sogar alle Interessen einer Maus frustriert, hingegen der gleiche Schmerz nicht so viele Interessen eines Menschen frustriert. Weil Menschen im Vergleich zu Mäusen mehr, höhere oder komplexere Interessen haben, vermindert ein Schmerz das Wohl eines Menschen weniger, als der gleiche Schmerz das Wohl einer Maus.
Auch können Mäuse Schmerzen nicht relativieren, ignorieren oder besser ertragen. Mäuse können nicht wissen, ob ein Schmerz nur temporär oder vorübergehend ist, und sie können auch nicht bewusst oder absichtlich Schmerzen in Kauf nehmen, um andere, zukünftige Interessen zu befriedigen. Das bedeutet, dass Schmerzen für Mäuse viel schlimmer sein können, als die gleichen Schmerzen für uns, weil Mäuse sich nicht sagen können: „Das tut jetzt ein bisschen weh, aber das geht nicht lange, dann wird das schon wieder.“
Sahar Akhtar möchte mit diesen Punkten zeigen, dass die Folgerung, dass Schmerzen für nichtmenschliche Tiere weniger schlimm als für Menschen seien, weil Tiere kein Selbst- und Zeitbewusstsein hätten, nicht so naheliegend ist, wie sie scheint. Im Gegenteil, die gleichen Schmerzen könnten sogar schlimmer für nichtmenschliche Tiere sein, gerade weil sie kein Selbst- und Zeitbewusstsein haben. Möglicherweise wird in den Biowissenschaften und in der Philosophie die Schmerzen von nichtmenschlichen Tieren massiv unterschätzt.
1 Akhtar, Sahar: Animal Pain and Welfare: Can Pain Sometimes Be Worse for Them than for Us?, in: Tom L. Beauchamp and R. G. Frey: The Oxford Handbook of Animal Ethics, Online Publication, 2012, S. 495 - 518.