Denken am Abgrund

Müssen wir lernen, neu über Krieg und Auslöschung nachzudenken?

    Der Titel dieses Beitrags ist – leicht abgeändert – von einem Abschnitt aus Jonathan Lears Monographie Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung übernommen.i In seiner Untersuchung widmet sich Lear einem zweifachen Problem: (a) der Möglichkeit eines Niedergangs unserer Lebensweise und damit der grundlegenden begrifflichen Strukturen unserer Welt (Lear bezeichnet dies als ontologische Verletzlichkeit), und (b) dem Ringen um eine Haltung und eine angemessene Antwort im Angesicht dieses Zusammenbruchs (Lear identifiziert diese Haltung als radikale Hoffnung).

    Im Folgenden will ich drei Ziele verfolgen. Zunächst werde ich eine Erörterung der Hauptpunkte aus Lears Monographie geben, vor allem sofern sie Punkt (a) betreffen (§1). Mein Fokus ist dabei angeleitet von meinen zwei nachfolgenden Zielen: Einerseits möchte ich Lears Überlegungen in den Kontext der jüngeren ideologischen und geopolitischen Entwicklungen im globalen Norden stellen. Insbesondere die wiedergekehrte Gefahr eines Atomkrieges wird dabei im Zentrum stehen (§§2–3). Andererseits möchte ich durch eine Neuverortung und Erweiterung von Lears Begriff ontologischer Verletzlichkeit eine neue Richtung andeuten, die ein philosophischer Blick auf die gegenwärtige Lage einschlagen kann, wenn wir Lears Gedankengang und seine Probleme ernst nehmen (§4). Der Fluchtpunkt meiner Überlegungen wird sein, dass ein tiefergehendes Verständnis und eine Weiterbildung der menschlichen Vorstellungskraft unentbehrlich für philosophische Reflexion und politische Kritik gleichermaßen sind.

     

    1. Ein Ende der Ereignisse

    Lears Schilderung nimmt ihren Ausgang von einem Zitat des indigen-amerikanischen politischen Anführers Plenty Coups (1848-1932), der letzter Oberhäuptling der Crow war. Die Crow oder Apsáalooke sind ein bis heute fortbestehender Stamm, dessen Heimatgebiet im Süden des heutigen Montana liegt; zwischen 1882 und 1884 zog die damalige Stammesgemeinschaft jedoch in ein Reservat. Die traditionelle Lebensweise der Crow war nicht länger aufrechtzuerhalten, da die Bieber- und Büffelbestände ihre nomadische Lebensweise nicht mehr decken konnten und der Vormarsch der Weißen Schritt für Schritt alle weiteren Grundlagen des florierenden kulturellen Lebens zerstörte.ii Im Rückblick auf sein eigenes Leben erkannte Plenty Coups Jahrzehnte später in dieser Zeit des Umbruchs eine solche Zäsur, dass er sich seinem Biographen gegenüber weigerte, die Erzählung seiner Lebensgeschichte über diesen Punkt hinaus fortzusetzen. Er sagte: „Ich kann mich zurückerinnern und dir vieles mehr vom Krieg und vom Pferdestehlen berichten. Aber als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen.“iii

    Der Satz ‚Danach ist nichts mehr geschehen‘ ist der Dreh- und Angelpunkt von Lears Überlegungen, die er über drei Kapitel hinweg entwickelt. Was könnte ein Mensch meinen, wenn er behauptet, dass nach einem bestimmten Ereignis (der Umsiedlung in ein Reservat) keine weiteren Ereignisse mehr folgen? Lear erwägt verschiedene Deutungen. Man könnte Plenty Coups’ Äußerung etwa als metaphorisch-psychologische Auskunft auffassen: Die Crow verfielen nach dem Umzug ins Reservat kollektiv in eine Depression und verloren ihr Interesse an den Dingen; es war ihnen ganz so, als ob nichts mehr geschähe. Eine andere Möglichkeit wäre, Plenty Coups’ frappierende Worte anthropologisch zu deuten: Er spricht über den Zusammenbruch einer Lebensweise und ihrer Gepflogenheiten; die Geschehnisse nach diesem Verfall haben keine größere Bewandtnis mehr und können keinen kulturellen und soziomoralischen Wiederhall im Bezugssystem der Crow finden. Lear radikalisiert solche Deutungen immer weiter, bis er zu derjenigen Interpretation vordringt, die seiner Ansicht nach allen anderen zugrunde liegt: einer ontologischen Dimension in Plenty Coups’ Worten. Das erste Kapitel schließt mit der These einer „ontologische[n] Verletzlichkeit, die uns alle betrifft, insofern wir Menschen sind“ (87). Es ist die Verletzlichkeit unserer grundlegendsten Begriffe, mit denen wir die von uns bewohnte Welt verstehen, formen und aufrechterhalten. Wenn uns die äußersten Bezugspunkte und Möglichkeiten unserer Lebensweise genommen sind, in der jene Begriffe und Praktiken wurzeln, dann bricht damit in einem sehr realen Sinne auch diese Welt zusammen.iv

    Wir werden uns in §3 anhand der gegenwärtigen Lage noch eingehender damit befassen, wie diese Behauptung Lears über die Grundbegriffe und Ontologie unserer Welt genau zu verstehen ist. Für den Augenblick wollen wir uns seinem Gedanken weiter annähern, indem wir uns ansehen, was ein Zusammenbruch, wie Lear ihn vor Augen hat, in einem praktischen und anschaulichen Sinne im Kontext menschlichen Lebens bedeutet. Die wesentliche Dimension, die Lear – angeleitet von Plenty Coups’ düsterem Zeugnis über das Ende der Ereignisse – hierbei vorschwebt, ist ein Zusammenbruch der Möglichkeiten: Für Menschen, die eine Zerstörung in dem Ausmaß durchmachen, wie es den Crow widerfahren ist, verschwinden bestimmte Möglichkeiten, die Dinge zu verstehen und durch ihr Handeln zu verändern. Ganze Kategorien von Ereignissen fallen auf diese Weise weg. Lear nutzt zur Veranschaulichung ein isoliertes und einfaches Beispiel, dessen zwei Szenarien ich der Übersicht halber nummeriere:

    Als Analogie können wir uns zunächst [1] eine Person vorstellen, die ihr Lieblingsrestaurant betritt und zum Ober sagt, ‚Ich hätte gern das Übliche, Büffelburger à point.‘ Der Ober sagt, ‚Ich bitte die Dame um Verzeihung, aber es ist nicht mehr möglich, Büffel zu bestellen. Vorige Woche haben Sie den Letzten verspeist. Büffel gibt es nicht mehr. Ich fürchte, der Büffelburger kommt nicht infrage.‘ Stellen wir uns dagegen vor, [2] die soziale Institution des Restaurants würde verschwinden. Eine Zeit lang gab es eine solche historische Institution – einen speziellen Ort, an den Leute kamen und dafür bezahlten, dass für sie Mahlzeiten zubereitet und serviert wurden –, doch aus einer Vielzahl von Gründen haben die Menschen aufgehört, sich auf diese Weise zu organisieren. Jetzt hat der Satz ‚Es ist nicht mehr möglich, Büffel zu bestellen‘ eine neue Bedeutung: Keine Handlung könnte mehr als Bestellen gelten. (70f.)

    Die beiden Fälle, die Lear mit der glücklosen Büffelburgerenthusiastin illustriert, unterscheiden sich auf grundsätzliche Weise: Sie sind Instanzen zweier verschiedener Arten von Unmöglichkeit. Fall (1) instanziiert eine Unmöglichkeit der Art „Die Umstände sind dergestalt, dass für uns keine praktische Möglichkeit besteht, diese Handlungen durchzuführen“; Fall (2) eine Unmöglichkeit der Art „Die Handlungen selbst ergeben keinen Sinn mehr“ (70). Diese beiden modalen Ebenen werden für gewöhnlich nicht streng unterschieden, da sie häufig gemeinsam auftreten – tatsächlich betont Lear, dass im Falle der Crow gerade aufgrund von (1) kurz darauf auch (2) eintrat: Weil die Büffel verschwanden und nicht mehr gejagt werden konnten, brach bald darauf die Lebensweise der Crow zusammen. Das gesamte Bezugssystem ihrer durch Kriegsführung und Jagd geprägten Welt wurde zerstört, sodass nichts mehr als traditionelle Jagd (oder als eine andere Handlung nach Art der Crow) gelten und Sinn haben konnte.

    Entscheidend ist jedoch, dass wir ungleich mehr verlieren, wenn es tatsächlich zu einer Situation der letzteren Art kommt: Wir büßen dann einen gesamten Referenzrahmen ein, durch den wir Handlungen, Ereignisse und alle in ihnen vorkommenden Dinge identifizieren können. Einem geübten Büffelgourmet stünde in Fall (1) noch die ganze Bandbreite der Reaktionen offen, die in gehobener Küche als akzeptabel gelten: Er könnte die Nase rümpfen, mit dem Trinkgeld geizen, bei nächster Gelegenheit unter seinesgleichen den Niedergang der großbürgerlichen Büffelküche beklagen und letztlich seinen Gaumen umschulen und eine neue Leibspeise finden. In Fall (2) brächen alle diese Möglichkeiten weg: Es würde grundsätzlich unklar, wovon eine solche Person überhaupt spricht – „Büffelburger“? „Restaurant“? Ein solcher Mensch könnte sich nicht mehr als Büffelgourmet auffassen und verhalten, und wenn er diesen Status zu Lebzeiten verlöre, würden seine Worte und Äußerungen innerhalb dieser einstigen Rolle ab dem Zeitpunkt jenes Verlusts (dem Zusammenbruch der Restaurantinstitution) nach und nach ihre Bedeutung verlieren.

    Natürlich legt Lears geschickt konstruiertes Beispiel nun zunächst eine einfache und ungerührte Antwort nahe: Und wenn schon! Selbst wenn Fall (2) einträte – Burgerenthusiastin und Büffelgourmet sollten sich anderweitig nach einem kultivierten Hobby umsehen! Ihnen steht es jederzeit offen, sich umzuorientieren und ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben; mit neuen Rollen, neuen Aufgaben und neuen kulinarischen Praktiken. Ihr Verlust an Möglichkeiten ist lokal und unwichtig: Die insgesamte Lebensweise und der begriffliche Raum, in dem sie sich selbst und ihre Möglichkeiten im Leben verorten, bleiben wohl selbst im Angesicht des Niedergangs der Restaurantbranche bestehen – und der Verlust, den die beiden erleiden, ist daher im sprichwörtlichen wie buchstäblichen Sinne kein Weltuntergang.

    Lears Beispiel ist jedoch gerade durch diese Isoliertheit und Trivialität so gelungen: Es bringt uns einen abgründigen Gedanken auf eine Weise nahe, die ihn zunächst greifbarer macht. Wenn wir die Idee der modalen Unterscheidung zwischen (1) und (2) nun allerdings radikalisieren und ihren Geltungsbereich ausweiten, dann können wir uns mit ihr vor Augen führen, dass die Möglichkeit, die infrage steht, keine isolierte, sondern eine umfassende und ontologische Verwüstung ist und eine gesamte Lebensweise und begriffliche Ordnung zugrunde gehen: In einer Zerstörung, wie die Crow sie erlitten, werden die betroffenen Menschen keiner einfachen kulturellen Institution, sondern ihrer Welt und aller ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt. Alle Handlungen und Möglichkeiten der Crow waren auf die Jagd und den Krieg ausgerichtet: Wenn jemand eine Mahlzeit kochte, war das ein Kochen einer Mahlzeit, auf dass alle, die sie essen, gesund zum Jagen und Kämpfen sind. Wenn jemand eine Behausung errichtete, war das ein Errichten einer Behausung, auf dass alle, die in ihr wohnen, ausgeruht zum Jagen und Kämpfen sind (vgl. 72-75). In dieser Hierarchie der Zwecke erhielt alles, was die Crow taten und dachten, seinen zugewiesenen Platz und Sinn durch diese übergreifende Ausrichtung der Lebensweise – und genau diese Ausrichtung ist nun verloren.

    Die Crow können sich nicht ‚umorientieren‘, da aller Sinn und Referenzrahmen für jegliche Orientierung verloren sind. Die Folgen sind verheerend – und im Falle der Crow waren sie dieselben, wie sie sich überall auf der Welt im Zuge (post-)kolonialistischer Verwüstungen beobachten lassen: Steigende Raten von Depressionen, Ziellosigkeit und Alkohol- und Drogenabhängigkeit haben ihren Beitrag zu wirtschaftlichen und politischen Problemen wie Armut, Arbeitslosigkeit, rassistischer Ausgrenzung und fehlender Teilhabe am öffentlichen Leben der USA geleistet. Sie haben bis heute einen zerrüttenden Effekt im Reservatsleben.v Wenn wir versuchen, uns aus Lears simplem Restaurantbeispiel schrittweise in diesen äußersten Verlust hineinzudenken, bekommen wir eine dunkle Ahnung von dem, was er am Beispiel der Crow über die ontologische Verletzlichkeit des Menschen diagnostiziert – und von der Aufgabe für die menschliche Vorstellungskraft, die unten in §4 in den Mittelpunkt treten wird.

    Lear entwickelt seine Deutung ontologischer Verletzlichkeit im ersten Kapitel seines Buches. In den weiteren zwei Kapiteln geht er dazu über, eine positive Erwiderung auf diese verheerende Möglichkeit im menschlichen Dasein zu finden: Kapitel 2 enthält seine Deutung der Antwort, die Plenty Coups und die Crow selbst auf ihre Lage gegeben haben – ihr verleiht Lear die titelgebende Bezeichnung radikale Hoffnung. Mit ihr ist „ein Hoffen“ gemeint, „das auch im Angesicht einer ontologischen Verletzlichkeit weiterbesteht“ (9). Eine solche Hoffnung ist „genau deswegen radikal, weil sie sich auf eine Güte richtet, die das gegenwärtige Vermögen übersteigt, einzusehen, worin sie besteht. Radikale Hoffnung antizipiert ein Gut, für das allen, die eine solche Hoffnung hegen, bislang die angemessenen Begriffe zum Verständnis fehlen“ (155). Lear zieht die Praktiken der Crow heran, die sie für einen solchen radikal-antizipativen Akt genutzt haben: Traumvisionen, ihre Deutung durch die Stammesältesten, die kreative Nutzung alter Mythen und Erzählungen – aber auch politisches Geschick und schwierige taktische Entscheidungen vor dem Hintergrund der inneren Auflösung. Hinter all diesen Haltungen identifiziert Lear die Hoffnung auf ein Überleben und Neuerstehen der Lebensweise der Crow – selbst wenn die Begriffe zum Verständnis einer solchen Zukunft den Stammesmitgliedern noch nicht offenstehen. Kapitel 3 ist der Frage gewidmet, inwiefern sich diese radikale Hoffnung als eine gangbare ethisch-politische Haltung auffassen lässt: Was rechtfertigt sie und grenzt sie von bloßem traumtänzerischem Optimismus ab? Im Zuge dieser abschließenden Untersuchung, die Lear in die Tradition transzendentalphilosophischer Begründungsversuche seit Kant stellt, entwickelt er Gedanken zum Begriff des Menschen, zur Verteidigung und Umformung ethischen Lebens und zur Frage, was im Angesicht des Untergangs als Mut gelten kann.

    Lears Untersuchung ist meines Erachtens in ihrer Form einzigartig. Ihr gelingt eine außergewöhnliche Synthese: Zum einen ist sie eine wichtige und erhellende Leistung in der Ethik, philosophischen Anthropologie und Ontologie. Zugleich ist sie eine begeisterte, mitreißende und tiefschürfende Ehrung der Größe, Schwäche, Endlichkeit und des unendlichen Anspruchs des Menschlichen. Ich will im Folgenden dennoch vor allem vom negativ-diagnostischen ersten Teil seines Gedankengangs Gebrauch machen und fragen, wie sich die Idee einer ontologischen Verletzlichkeit, die wir alle teilen, sofern wir Menschen sind, auf unsere gegenwärtige globale und geopolitische Lage anwenden lässt. Inwiefern es Hoffnung ist, auf die wir hierbei bauen sollten, ist eine der Fragen, die in diesem Zuge gerade Gegenstand einer kritischen Untersuchung werden sollen – und ich hoffe, damit Lears kantianischen Geist weiterzutragen.

     

    2. Ein Zusammenbruch in Echtzeit?

    Die Schilderung, die Lear anhand des Schicksals der Crow von unserer besonderen Verletzlichkeit gibt, hat in den Jahren seit ihrer ersten Veröffentlichung 2006 eine schaurig-prophetische Dimension angenommen: Wiederholte Krisen und Zusammenbrüche ganzer Märkte, revolutionäre Umwälzungen über Erdregionen hinweg, Menschen auf der Flucht vor Hunger, Elend und Krieg, Annexionen und Black-Ops-Operationen, der weiter eskalierende Klimawandel und eine globale Pandemie führen uns vor Augen, wie verletzlich wir und die Welt, in der wir leben, tatsächlich sind. Die politische und physische Entwurzelung, die die verwundbarsten Mitglieder der globalen Gesellschaft erfahren, können wir durchaus als den Verlust einer Welt verstehen.vi Und in unserer immer enger verzahnten, gemeinsamen globalen Lage müssen wir uns fragen, ob wir gegenwärtig einen Zusammenbruch der politischen menschlichen Wirklichkeit in Echtzeit erleben.

    Ich will im Weiteren auf einen Aspekt der aktuellen globalen Situation näher eingehen, um an ihr das diagnostische Potenzial zu erproben, das Lears Überlegungen innewohnt: die neu erwachte Möglichkeit eines dritten Weltkriegs und der atomaren Auslöschung der Menschheit. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine ist dieses Szenario wieder vollends zu einer realen Möglichkeit geworden. An nichts anderem zeigt sich deutlicher, dass mehrere Grundpfeiler eines vermeintlichen weltpolitischen Konsenses weggebrochen sind, unter dem sich die globale Öffentlichkeit seit den 1990ern verstanden und weiterentwickelt hat. Die Ursachen für diese Entwicklung sind mannigfaltig und komplex, und sie erstrecken sich von geopolitischen Machtinteressen über strukturelle Dynamiken der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung bis hin zu den ideologischen Ansichten, die die Handlungen der beteiligten Akteur:innen, Regierungen und Gesellschaften prägen.

    Entscheidend ist jedoch zunächst der Charakter dieses wiedergekehrten Horrorszenarios: Der Zusammenbruch, den wir erleben, könnte sich nun in einem Augenblick – und im Zuge eines Knopfdrucks – von einer sozialen, kulturellen, politischen und schrittweisen Zerstörung zu einer physischen und schlagartigen Zerstörung verwandeln. Die gesamte menschliche Weltbevölkerung und der größte Teil allen Lebens auf der Erde würden einen atomaren Schlagabtausch zwischen den politischen Supermächten nicht überleben. Diejenigen im unmittelbaren Radius der einschlagenden Bomben wären in Sekundenschnelle tot; die Verbliebenen würden im nuklearen Winter oder an der Strahlenkrankheit sterben. Und es spricht vieles dafür, dass uns mit dem generationsbedingten Verlust der kollektiven Erinnerung an dieses hintergründige Grauen während des Kalten Krieges auch eine wichtige Leitschnur dafür verloren gegangen ist, wie wir uns zu dieser apokalyptischen Gefahr verhalten sollen.vii

    Eine verlockende Art, diese beiden Formen des Untergangs miteinander ins Verhältnis zu setzen, könnte nun darin liegen, sie als scharf getrennte Gegensätze zu kontrastieren: Auf der einen Seite liegt der ‚bloß‘ soziale, kulturelle und politische Zusammenbruch der Begriffe, auf der anderen die ‚echte‘ atomare Auslöschung der Menschheit. Diese strenge Gegenüberstellung droht aber, das eigentliche Problem zu verwischen, das sich nicht innerhalb einer solchen Zweiteilung verorten lässt: Der Mensch selbst ist ein durch und durch begriffliches Wesen. Sofern sich also der schrittweise Zusammenbruch unserer geteilten Weltlage zu einer atomaren Apokalypse ‚verwandelt‘, wie ich es oben genannt habe, dürfen wir diesen Prozess nicht als einen Sprung vom einen in etwas ganz anderes missverstehen. Vielmehr müssen wir das Kontinuum begreifen, auf dem unsere politische Realität sich zu einer solchen Verheerung zuspitzen kann.

    Es ist ein schlechtes Vorurteil vieler gegenwärtiger Analysen, zu glauben, die Schwierigkeiten der politischen Gegenwart ließen sich durch etwas ‚Reales‘ erklären, das losgelöst von menschlich-begrifflichen ‚Projektionen‘ oder ‚Konstruktionen‘ besteht (etwa die ‚materielle politische Wirklichkeit‘). Diese Sichtweise übersieht einen wesentlichen Zug menschlichen Lebens. Die Macht, die Menschen übereinander haben; die Zugeständnisse oder Verweigerungen individueller Freiheiten; der Zugang zu physischen und ideellen Grundgütern; und selbst noch die materielle Realität vorrückender Bataillone und nuklearer Raketenarsenale: Sie alle sind der begrifflichen Dimension menschlicher Existenz nicht äußerlich, sondern aufs Innerste mit ihr verwoben. Philosophisch lässt sich diese Verwobenheit sogar in zwei Weisen ausbuchstabieren: epistemisch und konstitutiv. Ich werde im Folgenden beide Aspekte zunächst an einem historisch einschlägigen Beispiel erläutern und sie dann auf die gegenwärtige atomare Gefahr beziehen.

     

    3. Begriffe, Wirklichkeit und der Angriff auf das Verstehen

    Die epistemische Verwobenheit unserer begrifflichen Bezugnahme auf die Welt mit den vermeintlich grundlegenderen ‚wirklichen‘ Aspekten menschlichen Lebens bedeutet: Wir täuschen uns, wenn wir glauben, das Wesentliche über einen politischen Missstand oder eine Gefahrenlage erfassen zu können, indem wir nur auf die ‚realen‘ oder ‚materiellen‘ Aspekte verweisen und diese für sich als aussagekräftig ansehen. Um ein klassisches Beispiel für einen solchen Missstand heranzuziehen, über dessen moralische Verwerflichkeit beinah universale Einigkeit besteht, will ich einige Bemerkungen darüber machen, wie wir über Kinderarbeit sprechen. Was geschieht, wenn wir an ihr Anstoß nehmen? Wir sagen womöglich, dass eine solche Behandlung von Kindern schlecht, ungeheuerlich oder ein Gräuel ist. Vermutlich werden wir darauf hinweisen, dass einer Gesellschaft aufgrund der Verletzlichkeit von Kindern besondere Pflichten ihnen gegenüber aufgegeben sind. Und wie auch immer wir diese Begriffe verwenden und unser Urteil rechtfertigen – unsere Verwendung und Rechtfertigung werden sich nicht darin erschöpfen, die materielle Wirklichkeit menschlicher Körper eines bestimmten Alters in Minenschächten zu beschreiben. Vielmehr werden wir die Wirklichkeit, die infrage steht, als eine solche begreifen, in der sich etwas zuträgt, das falsch ist – die Umstände und Personen in ihr haben für uns eine Bedeutung und einen Wert, und auf diese beziehen wir uns, um überhaupt etwas über jene Wirklichkeit sagen zu können. Uns entgeht etwas Wesentliches, wenn wir diese Bedeutungen und Werte übersehen. Und wir werden in jeder möglichen Argumentation vieles über uns selbst offenbaren – was wir wertschätzen, was wir verachten und wie wir die Bedürfnisse und Pflichten des Menschen gegenüber seinesgleichen auffassen.viii

    Diese Art der moralischen und politischen Kritik macht also Gebrauch von einem umfassenden Geflecht aus Begriffen, Überzeugungen und Wertvorstellungen. Wir würden von Grund auf nicht erkennen und verstehen, was das Problem an Kinderarbeit ist, wenn wir nicht diese begriffliche Dimension der politischen Welt sähen. Das ist die epistemische Dimension der Verwobenheit unserer Begriffe mit der Wirklichkeit. Zugleich führt uns diese Überlegung aber auch darauf, dass wir es tatsächlich mit einer (sozialen) Wirklichkeit zu tun haben, die von Grund auf auch begrifflich ist: Ausbeutung und Kinderarbeit sind Realitäten, die maßgeblich darin bestehen, eine Verletzung von Werten und Ansprüchen zu sein, mit denen wir leben, und wenn uns etwas an diesen Realitäten entgehen kann, dann, weil es ihnen selbst angehört. Das ist die konstitutive Dimension der Verwobenheit unserer Begriffe mit der Wirklichkeit. Im Kontext seiner Überlegungen zu den Crow hat Lear das Folgende zu dieser doppelten Verwobenheit zu sagen:

    [E]ine Handlung wird nicht alleine durch die physischen Bewegungen des Handelnden konstituiert: Sie erhält ihre Identität durch die Verortung in einer begrifflichen Welt. Und genau diese Welt ist zusammengebrochen. Ebenjene physischen Bewegungen, die zu einer früheren Zeit eine mutige Handlung [… eines Stammesmitgliedes] konstituiert hätten [etwa der Versuch einer traditionellen Jagd oder ein Kriegsakt im Lager eines anderen Stammes, J.P.], sind nun ein recht armseliger Ausdruck von Nostalgie. (61f.)

    Unsere Handlungen – ob einzeln oder kollektiv – erhalten ihre Identität durch die Verortung in einer begrifflichen Welt, die wir gemeinsam aufrechterhalten. Die Crow konnten genau dann nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form weiterbestehen, als diese Welt zusammenbrach. Was bedeutet das für unseren Blick auf die desorientierende und bedrückende politische Wirklichkeit heute?

    Es ist ein wichtiger Teil der Erklärung, warum Kinderarbeit im frühkapitalistischen System Bestand hatte und in vielen Teilen der Welt bis heute fortbesteht, dass genau die begriffliche Welt angegriffen wird, in der wir sie verorten und begreifen können: Denken wir nur etwa daran, wie jede kleinschrittigste Reform im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, um Kinderarbeit auch nur einzuschränken oder mit Mindestaltersgrenzen zu versehen, von den zeitgenössischen Industriellen mit öffentlichen Stellungnahmen begleitet wurde, die nahelegten, dass mit dieser nächsten Neuerung endgültig der wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes bevorstünde. Der Punkt ist nicht allein, dass diese Vorhersagen faktisch falsch waren – er liegt vor allem darin, dass sie darauf abzielten, es unmöglich zu machen, überhaupt die richtigen Fragen in den Blick zu bekommen. Die Stellungnahmen sprachen von wirtschaftlichen Zwängen – so als ob die Frage nach einem Kinderleben in die begriffliche Ordnung gehörte, innerhalb derer wir uns über Produktionsraten, Wachstumskurven und Gewinnmargen verständigen.ix Wenn ein solcher Angriff auf das Verstehen erfolgreich ist, geht denen, die auf das Verstehen angewiesen sind, ihre eigene Perspektive und Verortung in der Welt verloren, wie Lear wiederum an den Crow zeigt:

    Wir begreifen die Zerstörung nicht, die die Crow durchlitten haben, solange wir glauben, dass die Frage lautet, wer die Geschichte erzählen darf. Die Schwierigkeit reicht tiefer als konkurrierende Narrative, denn das Problem ist, dass die Crow diejenigen Begriffe verloren haben, mit denen sie ein Narrativ aufbauen könnten. Das ist ein echter Verlust, nicht bloß einer, der aus einer bestimmten Perspektive beschrieben würde. Es ist der echte Verlust einer Perspektive. (60)

    Ganz ähnlich ist es mit dem Ukraine-Krieg und der atomaren Gefahr: Putins Regime behauptet eine vermeintliche Schattenregierung der Ukraine aus Faschist:innen, bezeichnet den eigenen Überfall als Friedensmission zur Abschreckung von Unterdrücker:innen und säht Narrative wie etwa jenes, dem zufolge in der Ukraine vor Beginn des Konflikts 30 Labore Biowaffen und virale Krankheitserreger entwickelt hätten, um sie gegen Russland und die russischstämmige Bevölkerung der Ukraine einzusetzen.x Sehr wahrscheinlich glaubt niemand aufseiten der russischen Führung tatsächlich an irgendeine jener Behauptungen – doch das Entscheidende ist, dass die internationale mediale und politische Unterhaltung nun auch um Fragen kreist, die nichts mit den Themen Angriffskrieg und atomare Drohung zu tun haben.xi Dieses Vorgehen ist natürlich keineswegs eine russische Erfindung: Ein solcher Angriff auf das Verstehen und auf die begriffliche Welt wird in unserer politischen Realität ständig und von vielen Seiten ausgeübt – vor einigen Jahren (und womöglich in einigen Jahren erneut) wäre ein offensichtlicher Bezugspunkt der US-amerikanische Trumpismus gewesen.

    Der Punkt ist also auch hier nicht, dass solche Behauptungen faktisch falsch sind, sondern dass sie unseren Blick auf eine solche Weise verstellen sollen, dass die relevanten Aspekte überhaupt erst gar nicht offenkundig werden können. Wir reden über fact checks zu fiktiven Biowaffen, konkurrierende Definitionen kriegerischer Einsätze und divergierende Auffassungen und Quellen zu Faschismus im 21. Jahrhundert – so als ob die Frage nach den Menschenleben in der Ukraine in die begriffliche Ordnung gehörte, innerhalb derer wir uns über die ‚Lügenpresse‘, ‚alternative Fakten‘ und andere rechte Fieberträume streiten. Und im Angesicht der drohenden weiteren Eskalation hin zu einem möglichen Weltkrieg reden wir über Fragen gebrochener Versprechen seitens der NATO und EU gegenüber Russland und über Fragen einer Mitschuld der USA – so als ob die Möglichkeit der atomaren Auslöschung der Menschheit in irgendeine gewöhnliche geopolitische Begriffsordnung gehörte.

    Es wird also in der gegenwärtigen Lage, in der eine Reihe an Falschbehauptungen eine Diskussion schnell vollständig entgleisen lassen können, immer schwieriger, das begriffliche Rahmenwerk aufrecht zu erhalten, in dem wir unsere Welt und unseren Platz in ihr verstehen können. Diese epistemische Dimension der Verwobenheit unserer Begriffe geht aber auch hier einher mit einer konstitutiven Dimension: In der Scheinwelt, die Putins Propaganda aufbauen soll, erhalten die physischen Bewegungen der Soldat:innen und Kriegsmaschinerie eine andere Identität – die einer russischen Verteidigungs- und Friedensaktion statt der eines Angriffskrieges. Selbst die Drohungen eines atomaren dritten Weltkriegs folgen dieser Logik dessen, was Lear einen „begrifflichen Anschlag“ (126) nennt: Das Ziel aller Propaganda ist es, eine begriffliche Welt zu schaffen, in der bestimmte Dinge und Ereignisse einen bestimmten Stellenwert haben, der den politischen Zwecken der Propagandist:innen dienlich ist. Damit haben wir aber auch eine Einsicht in das Kontinuum erlangt, um das es oben in §2 ging: Der Angriff auf das Verstehen ist parasitär gegenüber dem Verstehen selbst – er versucht, unsere Begriffe nach und nach neu zu besetzen, um so schließlich einen neuen Nexus aus Bedeutungen zu schaffen, in dem wir keinen Zugriff mehr auf das haben, was eigentlich auf dem Spiel steht. Wie wir in einem Augenblick näher besprechen werden, kann diese Verzerrung so weit reichen, dass in dieser neuen begrifflichen Welt selbst der Atomkrieg wieder denkbar wird. Sofern wir uns also dem Angriff auf das Verstehen entgegenstellen, ringen wir damit tatsächlich um die konstitutiven Rahmenbedingungen unserer Welt.xii

    Mit Blick auf die mögliche Steigerung des Krieges zu einem atomaren Konflikt gibt es jedoch noch einen weiteren Grund für unser tiefgreifendes Unverständnis, dem gegenüber politische Propaganda wiederum nur parasitär ist – sie könnte ohne eine grundlegendere Schranke unseres Verstehens gar nicht funktionieren und wohl auch nicht von den Propagandist:innen formuliert werden. Diesem tieferen Grund wende ich mich abschließend zu.

     

    4. Eine Aufgabe für die Vorstellungskraft

    Die Bemerkungen Lears zur Verflechtung der physischen und begrifflichen Wirklichkeit menschlichen Lebens stehen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit einer Reihe von Unruhen und Rebellionsakten, die Ende der 1880er Jahre im Reservat der Crow ausbrachen. Lears Einschätzung der Ereignisse ist diese: Die Aufständischen – zumeist junge Männer, die einige Jahre zuvor noch während ihrer Kindheit und Jugend dazu erzogen wurden, tugendhafte Jäger und Krieger zu werden – konnten ihren eignen Verlust, den Verlust der Perspektive der Crow, noch nicht anerkennen und begreifen.xiii Wie sollten sie auch? Alles in ihrem bisherigen Leben hatte sie darauf vorbereitet, ihr Leben in einem sehr spezifischen und wohlverstandenen Sinne auszurichten. Der jetzige Zusammenbruch war eine massive moralpsychologische Überforderung. Der tiefergehende Grund dafür liegt laut Lear in einer grundsätzlichen anthropologischen Konstante:

    Diese Unfähigkeit, sich ihre eigene Zerstörung vorzustellen, ist tendenziell der blinde Fleck einer jeden Kultur. Im Großen und Ganzen wird eine Kultur ihren jungen Mitgliedern nicht beibringen: ‚Diese Wege führen zum Erfolg und diese zum Scheitern; dies sind die Gefahren, die sich euch bieten können, und dies die wertvollen Gelegenheiten; diese Handlungen sind beschämend und diese glorreich – ach ja, und noch was, diese gesamte Struktur, mit der ihr die Welt bewerten sollt, könnte demnächst keinen Sinn mehr ergeben.‘ (132)

    Eine menschliche Kultur ist dieser Überlegung zufolge darauf ausgerichtet, sich selbst zu erhalten, weiterzuführen und gegebenenfalls zu wachsen – sie kann nicht mit der Hintergrundidee arbeiten, dass ‚das alles hier‘ jeden Tag zu Ende gehen könnte.

    Was sagt uns das über die gegenwärtig neuerwachte atomare Drohung? Sind wir als Menschheit insgesamt womöglich in einer analogen Lage zum learschen ‚blinden Fleck‘ einer jeden einzelnen Kultur? Mit anderen Worten: Könnte es sein, dass wir auf grundlegende Weise unfähig dazu sind, uns das Ende der Menschheit vorzustellen? Diese Frage ist kompliziert: Einerseits spricht vieles dafür, dass der Gedanke einer apokalyptischen Zerstörung dem Menschen durchaus nicht fremd ist, sondern vielmehr über viele Epochen und Kulturen hinweg ein wiederkehrendes Motiv in Religion, Literatur, Kunst und Philosophie gewesen ist.xiv Es ist also gut belegt, dass Menschen sich faktisch mit dem Untergangsgedanken auseinandergesetzt haben, und es liegt angesichts seiner historischen Durchgängigkeit und ungebrochenen Präsenz zumindest nahe, dass etwas an diesem Gedanken sogar zutiefst menschlich und anziehend sein könnte. Andererseits ist die blinde Seelenruhe, mit der weite Teile der Mächtigen und der breiten Öffentlichkeit seit Jahrzehnten den Klimawandel leugnen, mit dieser Beobachtung nicht ohne Weiteres zu vereinen. Und wir haben in §2 schon kurz besprochen, dass es durchaus sein kann, dass uns heute wichtige Ressourcen dafür fehlen, uns mit dem Gedanken einer Selbstauslöschung der Menschheit auseinanderzusetzen.

    Hier ist eine Art, diese Diskrepanz zu erklären: Die neuartigen Möglichkeiten, auf die es mit uns allen zu Ende gehen könnte, unterscheiden sich auf zwei Weisen qualitativ von früheren Untergangsmythen – und zwar mit Blick auf Abstraktion versus Konkretheit und auf die aktive Rolle des Menschen. Zum ersten Punkt: Die frühere Auseinandersetzung des Menschen mit der eigenen Auslöschbarkeit hatte vermutlich zumeist auch eine Funktion in der Sinnsuche des Menschen – sie war eine abstrakte und mit vielen mythologischen, religiösen und spirituellen Ideen aufgeladene äußerste Möglichkeit am Horizont menschlicher Existenz. Durch den Gedanken einer Apokalypse haben sich die Menschen also mit ihrer eigenen Endlichkeit und Fragilität auseinandergesetzt. Doch gerade im Untergang sollte vielen Mythen zufolge auch eine letzte Erhöhung, Rettung und Heiligung der Menschen – oder zumindest der Gläubigen – erfolgen. Die meisten Religionen glauben bis heute an diese abstrakte und per Definition nicht ganz fassliche Form des Untergangs.

    Wenn jedoch tatsächlich ein Atomkrieg ausbricht oder uns in einigen Jahrzehnten die Luft zum Atmen ausgeht, wird nichts daran abstrakt, heiligend oder romantisch sein: Es wird ganz einfach das Ende bedeuten, ohne Rettung, Zweck oder Sinnstiftung, und alle Beteiligten werden unsägliches Leid erfahren, bevor sie sterben. Dieser Gedanke ist bei näherem Hinsehen tatsächlich nicht derselbe wie der abstrakte Gedanke, den wir uns zuvor angesehen haben: Er handelt nicht von einer mystischen, bedeutungsvollen und umformenden Apokalypse von göttlicher Hand, sondern ganz konkret von der grausamen Auslöschung allen Lebens. Das ist ein Gedanke, der weniger mysteriös-anziehend ist als der vorige.

    Noch entscheidender ist wohl der zweite Punkt: Dass es eine Konsequenz menschlichen Handelns sein soll, dass die Menschheit ausgelöscht wird – das ist eine Idee, die ebenfalls gänzlich verschieden von den übernatürlichen Vorstellungen eines Untergangs ist, wie es sie seit Jahrtausenden gibt. Sie ist erst seit wenigen Jahrzehnten überhaupt eine Option; und sie unterscheidet sich auch vom Gedanken natürlicher Apokalypsen wie etwa einem verheerenden Meteoriteneinschlag. Es stellt sich die Frage, ob unser Geist oder unsere grundlegenden Begriffe überhaupt dafür ausgestattet sind, mit ihr fertig zu werden.

    Denken wir etwa an den Begriff des Handelns selbst, der schließlich in der Vorstellung angewandt werden soll, dass der Mensch sich durch eine atomare Kriegshandlung selbst auslöscht. In einer groben Annäherung ließe sich dieser Begriff etwa so bestimmen: Menschliches Handeln – selbst technisch vermitteltes und verstärktes – ist eine willentliche Einflussnahme auf die Dinge, während die Welt dieser Einflussnahme als die unveränderliche Kulisse entgegensteht, auf deren Hintergrund wir unsere Handlungen ausführen. Eine solche Auffassung des Handlungsbegriffs ist aber kaum auf das Szenario anwendbar, in dem ein Knopfdruck – eine Handbewegung, mit der man sonst einen Schokoriegel kauft oder Kaffee aus dem Automaten bekommt – das Ende dieser Welt bedeutet: Der Handelnde nimmt in diesem Fall keinen Einfluss auf die Dinge, sondern annihiliert sie, und er tut das nicht vor einem Hintergrund, dem gegenüber die Handlung eine Verortung bekäme, sondern er zerstört genau diesen Hintergrund. Wenn wir länger darüber nachdenken, stellen wir womöglich fest, dass wir hier an eine Grenze unseres Verständnisses davon stoßen, was an einer solchen ‚Handlung‘ überhaupt als Handeln gelten kann. Dieser Gedanke ist nicht nur unangenehm oder niederschmetternd wie jener über die Konkretheit unseres Endes, sondern könnte sich grundsätzlich einem vollen Verständnis entziehen.

    Das stellt uns allerdings vor ein Problem: Lear sagt, dass radikale Hoffnung der antizipative Akt ist, auf ein kommendes Gut abzuzielen und hinzuarbeiten, dessen genaue Gestalt oder begriffliche Form dem Hoffenden noch nicht zugänglich ist. Er plädiert dafür, dass zu diesem Zweck die menschliche Vorstellungskraft auf eine besondere Weise geschult werden muss.xv Aber er bemerkt auch, dass nicht alle unter den von ihm als Beispiel herangezogenen Crow tatsächlich diesen Hoffnungsakt vollziehen konnten – weil sie noch gar nicht ihren eigenen Untergang und die Zerstörung ihrer Welt begriffen hatten. Das bedeutet, dass die Hoffnung auf ein Etwas jenseits des Zusammenbruchs nicht einmal auch nur ansetzen kann, wenn wir noch nicht diesen Zusammenbruch selbst durchgedacht und begriffen haben. Und das wiederum heißt, dass wir womöglich in unserer jetzigen Lage zunächst unsere Vorstellungskraft für die Verheerung – den drohenden atomaren Untergang – weiterbilden müssen, bevor an einen hoffnungsvollen Blick nach vorn auch nur zu denken ist.

    Ein Ansatz, der sich diesem Problem stellt, stammt von dem Philosophen Günther Anders: In seinem 1956er Werk Die Antiquiertheit des Menschen entwickelt er unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki eine Philosophie der menschlichen „Apokalypse-Blindheit“. Als deren „Hauptwurzel“ identifiziert er das von ihm so bezeichnete „Prometheische Gefälle“:

    Was meinen wir mit diesem Ausdruck? Die Tatsache, daß unsere verschiedenen Vermögen (wie Machen, Denken, Vorstellen, Fühlen, Verantworten) sich voneinander […] unterscheiden. […] Jedes dieser Vermögen hat ein ihm eigenes Verhältnis zu Größe und Maß. Ihre ‚Volumina‘, ihre ‚Fassungskräfte‘, ihre ‚Leistungskapazitäten‘ und ‚Griffweiten‘ differieren. Beispiel: Die Vernichtung einer Großstadt können wir heute ohne weiteres planen und mit Hilfe der von uns hergestellten Vernichtungsmittel durchführen. Aber diesen Effekt vorstellen, ihn auffassen können wir nur ganz unzulänglich. – Und dennoch ist das Wenige, was wir uns vorzustellen vermögen: das undeutliche Bild von Rauch, Blut und Trümmern, immer noch sehr viel, wenn wir damit das winzige Quantum dessen vergleichen, was wir bei dem Gedanken der vernichteten Stadt zu fühlen oder zu verantworten fähig sind. – Jedes Vermögen hat also seine Leistungsgrenze, jenseits derer es nicht mehr funktioniert, bzw. Steigerungen nicht mehr registrieren kann; die Griffweiten der Vermögen befinden sich nicht in Kongruenz. […] Ermorden […] können wir Tausende; uns vorstellen vielleicht zehn Tote; beweinen oder bereuen aber höchstens Einen. Und was vom Beweinen oder Bereuen gilt, gilt von den Emotionen überhaupt, also auch von der Angst: sie ist den Leistungen der anderen Vermögen nicht gewachsen; und wenn sie versucht, mit diesen sich gleichzuschalten, sich ‚angemessen‘ zu benehmen, dann versagt sie.xvi

    Anders’ zentrale Behauptung ist hier, dass wir uns mit unserer technischen Entwicklung in eine Lage gebracht haben, in der unser Vermögen des Machens den anderen Vermögen weit voraus ist: Wir können nicht denken, vorstellen, fühlen oder verantworten, was wir mit Nuklearraketen zu tun und herbeizuführen imstande sind. Der Mord an einem Menschen ist etwas Ungeheuerliches und kaum Fassbares: alle Möglichkeiten, Eigenheiten, Erinnerungen und Chancen eines Lebens, ausgelöscht durch die Hand unseresgleichen. Die Vorstellungskraft kann schon hierbei an ihre Grenzen stoßen. Wie gehen wir mit zwei Ermordeten um – wie mit fünf, wie mit 20? Anders fordert uns auf, uns geistig in den Abgrund vorzutasten, den die modernen Möglichkeiten der Kriegstechnologie eröffnen. Können wir emotional und kognitiv wirklich fassen, dass durch die Bombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki 220.000 Menschen gestorben sind?

    Und doch liegt diese Macht von nun an in den Händen des Menschen: Wir können per Knopfdruck das Ende aller herbeiführen, ohne dass unser Geist dazu fähig wäre, diesen Umstand kognitiv oder emotional zu begreifen. Dieses Gefälle ist für Anders das entscheidende Faktum, das das atomare Zeitalter von sämtlichen vorigen Abschnitten der Menschheitsgeschichte zäsurhaft unterscheidet. Und es ist nicht undenkbar, dass er damit bis heute Recht behält: Bei aller spieltheoretischen Raffinesse der Doktrin der mutual assured destruction zwischen den USA und der Sowjetunion, die angeblich im Kalten Krieg gerade einen nuklearen Schlagabtausch verhindern sollte – wie plausibel ist es, dass alle Entscheidungsträger:innen (um gar nicht von der Zivilbevölkerung beider Staaten zu sprechen) in vollem Maße verstanden und emotional verarbeitet haben, mit welchen Möglichkeiten hier gespielt wurde?xvii Womöglich gilt von den Supermächten des Kalten Krieges wie von Putin und den anderen säbelrasselnden Akteur:innen der heutigen Zeit ein und derselbe Befund: dass sie selbst nicht vollends wissen, was sie tun.

    Wie aber sollen wir diesem blinden Fleck auf unser eigenes menschengemachtes Ende etwas entgegensetzen? Anders macht einen Vorschlag, der in gewisser Weise das düstere Gegenstück zu Lears Überlegungen zur Erweiterung der Vorstellungskraft bildet: die „Ausbildung der moralischen Phantasie“. Diese „heute entscheidende moralische Aufgabe“ besteht laut Anders im

    […] Versuche, das ‚Gefälle‘ zu überwinden, die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also als Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten.xviii

    Die Parallele zu Lear geht noch weiter: Ganz wie dieser gesteht Anders sofort ein, dass die radikale Neuartigkeit dieser Aufgabe für die Vorstellungskraft auch eine vorläufige Schranke für unser Vermögen bedeutet, genauer zu artikulieren, wie sie auszuführen ist und was ihr Ergebnis sein sollte. Anders verhilft sich zu den andeutenden Ausdrücken von „Experiment[en]“, „moralische[n] Streckübungen“ und „Exerzitien“.xix Doch die paradoxe Schwierigkeit der Aufgabe besteht gerade darin, dass uns vor einer Erweiterung der Vorstellungskraft, wie wir sie für die atomare Gefahr brauchen, gerade nicht klar werden kann, wie unsere Vorstellungskraft und unser moralisches Empfinden nach dieser Erweiterung aussehen sollten. Die besten Aussichten sehen Lear wie Anders darin, dass wir uns diejenigen Praktiken aneignen, durch die Menschen seit eh und je versucht haben, die Begrenzungen ihres Vorstellungsvermögens zu überschreiten oder zu erweitern: in Form von kontemplativen Praktiken und durch die kreative Betätigung in Kunst, Literatur und Dichtung.xx Diese philosophische Diagnose ist also allein das Aufzeigen eines bislang ungelösten Problems – doch wenn die beiden Recht haben, dann ist schon mit einem solchen geschärften Problemverständnis viel gewonnen.

    Anders erwägt allerdings auch die Möglichkeit, „daß die Kapazität unseres Fühlens starr (mindestens nicht beliebig erweiterbar)“ sein könnte – und fügt düster hinzu: „Wenn das zutrifft, ist die Lage hoffnungslos. Aber der Moralist kann diese Unterstellung nicht einfach akzeptieren.“xxi Diese Verweigerung, die Hoffnungslosigkeit zu akzeptieren, kann daher ihrerseits als Anders’ Gegenstück zu Lears radikaler Hoffnung verstanden werden – nur um einen Schritt vorgeschaltet: Wie wir festgestellt haben, brauchen wir auch ein negatives Vorstellungsvermögen, das den drohenden Untergang und radikalen Verlust erfassen kann; nur dann können wir uns der Aufgabe zuwenden, eine positive Vision dessen zu entwickeln, was wir jenseits dieser Möglichkeit hoffentlich dereinst wieder hinzugewinnen könnten. Wenn die Überlegungen bis zu diesem Punkt also zumindest annähernd zutreffen, dann benötigen wir im Angesicht des heutigen Zusammenbruchs der politischen Welt eine eigentümliche Art der Hoffnung: die radikale Hoffnung darauf, dass wir es neu erlernen, über unser drohendes Ende nachzudenken.

    Es gäbe viel mehr zu diesem Thema zu sagen. In diesem Text habe ich nur eine Möglichkeit aufzeigen wollen, einige von Lears Überlegungen auf die gegenwärtige weltpolitische Lage anzuwenden. Wir können mit seinem Begriff der ontologischen Verletzlichkeit besser verstehen, auf welche Weise unser Verstehen der politischen Welt und letztlich auch diese begrifflich geformte Welt selbst unter Beschuss geraten, wenn ihre begrifflichen Grundlagen angegriffen werden. Weiter können wir eine etwas deutlichere Auffassung davon erlangen, wie aus unserer politischen Realität heraus in einem kontinuierlichen Übergang eine Situation entstehen kann, in der diese Realität infrage gestellt wird – bis hin zur Möglichkeit einer atomaren kriegerischen Auslöschung der Menschheit. Dieses Kontinuum beruht vor allem auf einer tiefgreifenden Schranke unseres Verstehens: unserer Unfähigkeit, die Auslöschung des Menschen durch den Menschen zu begreifen. Womöglich können wir uns dem Gedanken einer solchen Auslöschung langsam annähern, indem wir unsere Vorstellungskraft schulen und weiterbilden. Wie genau diese Weiterbildung aussehen könnte, ist eine Frage, die über die rein philosophische Reflexion auf diese Probleme hinausgeht: Wir müssen gemeinsam herausfinden, wie dieser Aufgabe beizukommen ist. Dass wir ihr beikommen müssen, steht jedoch außer Zweifel – im Angesicht unserer politischen und technologischen Möglichkeiten ist es unsere Überlebensaufgabe.

     

    5. Literaturverzeichnis

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    UNHCR – The UN Refugee Agency: „Statistiken: 82,4 Millionen Menschen waren Ende 2020 weltweit auf der Flucht“, in: UNHCR Statistiken, einsehbar unter: https://www.unhcr.org/dach/de/services/statistiken).

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    i Vgl. Jonathan Lear: Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung, übers. v. Jens Pier, Berlin: Suhrkamp 2020, S. 95-104. Verweise auf Radikale Hoffnung finden sich im weiteren Verlauf eingeklammert im Haupttext.

    ii Lear selbst gibt in Kap. 1 von Radikale Hoffnung eine knappe Zusammenfassung der Geschehnisse. Für eine tiefergehende Aufarbeitung siehe Frederick E. Hoxie: Parading through History. The Making of the Crow Nation in America, 1805–1935, Cambridge: Cambridge University Press 1997, hier insb. S. 60-165. Eine von Lear ebenfalls aufgegriffene Sichtweise, die aus den Reihen der Crow auf ihre eigene Geschichte entwickelt wird, findet sich in Joseph Medicine Crow: Mein Volk, die Krähen-Indianer. Die Stammesgeschichte der Absarokee, übers. v. Friedrich Baadke, München: Diederichs 1994.

    iii Hoxie, Parading through History, S. 311 (zitiert nach der Übersetzung in Lear, Radikale Hoffnung, S. 21).

    iv Diese etwas lose Verwendung des Prädikats ‚ontologisch‘, um die Konstitutions- und Untergangsbedingungen einer praktisch und begrifflich konstituierten Welt zu benennen, in der sich alle Ereignisse verorten lassen müssen, wird durch Lears eigene Bemerkungen als eine erste Interpretationsmöglichkeit nahegelegt (vgl. Radikale Hoffnung, S. 9-11, S. 87-90 u. S. 177-180). Eine weitere Option, Lear hier zu deuten, zeigt Hartmut von Sass auf, der Lears ‚ontologische Verletzlichkeit‘ als existenziell-hermeneutische Kategorie auffasst, mit der das Sein (oder Dasein) des Menschen selbst gekennzeichnet werden soll (vgl. seine „Buchnotiz zu Jonathan Lear: Radikale Hoffnung“, in: Philosophische Rundschau 69 (2022), S. 70-80). Diese Deutung ist m. E. vollständig vereinbar mit der hier betonten kosmologischen und ereignisontologischen Interpretation und zeigt eine weitere Facette von Lears beunruhigender Diagnose auf (vgl. auch die Bemerkungen in Radikale Hoffnung, S. 85f.). Im Rahmen der hier entwickelten Überlegungen steht diese aber nicht im Fokus.

    v Lear trägt einige der erschütternden Zeugnisse zusammen, die Mitglieder der Crow über die Auswirkungen des neuen Reservatslebens abgelegt haben (vgl. Radikale Hoffnung, S. 95-104). Eine der bis heute eindringlichsten Schilderungen und Analysen der grausamen Auswirkungen kolonialistischen Erbes findet sich in Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, übers. v. Traugott König, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, Kap. 5.

    vi Laut der UN sind Ende 2020 über 82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht gewesen (vgl. UNHCR – The UN Refugee Agency: „Statistiken: 82,4 Millionen Menschen waren Ende 2020 weltweit auf der Flucht“, in: UNHCR Statistiken, einsehbar unter: https://www.unhcr.org/dach/de/services/statistiken). Ihre Vertreibung ist nicht nur deshalb ein Gewaltakt, weil sie ihnen die materielle und soziale Lebensgrundlage nimmt – sondern weil sie überdies ein direkter Angriff auf alle tradierten Begriffe und Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen ist, auf die sie angewiesen sind, um sich zurechtfinden und Pläne für ein Weiterleben fassen zu können.

    vii Siehe hierzu Daniel Immerwahr: „Forgetting the apocalypse: why our nuclear fears faded – and why that’s dangerous“, in: The Guardian, 12.05.2022, einsehbar unter: https://www.theguardian.com/world/2022/may/12/forgetting-the-apocalypse-why-our-nuclear-fears-faded-and-why-thats-dangerous.

    viii Zu dieser Dimension unseres ‚Lebens mit Begriffen‘ vgl. Cora Diamond: „Losing Your Concepts“, in: Ethics 98/2 (1988), S. 255-277, hier S. 265f. Siehe außerdem John McDowells Erläuterungen zum sui-generis-Charakter normativer Begriffe, die sich nicht auf einen bloß deskriptiven Gehalt reduzieren lassen, in seinem „Non-Cognitivism and Rule-Following“, in: Steven Holtzman/Christopher Leich (Hrsg.): Wittgenstein. To Follow a Rule, London: Routledge & Kegan Paul 1981, S. 141-162, hier S. 145f. Amia Srinivasan hat außerdem jüngst dafür argumentiert, dass eine ähnlich enge Verwobenheit auch zwischen unserer emotionalen Reaktionsweise und der Wirklichkeit bestehen kann: Im Angesicht bestimmter Formen von Ungerechtigkeit kann uns gerade das Entscheidende an der Situation entgehen, wenn wir nicht wütend werden – Wut ist in diesem Sinne beizeiten die angemessene (apt) Reaktion. Vgl. „The Aptness of Anger“, in: The Journal of Political Philosophy 26/2 (2018), S. 123-144.

    ix Der Vorwurf, eine solche heutige Bewertung der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert sei ahistorisch, greift nicht: Die betroffene Bevölkerung hatte bereits damals ein sehr akkurates Verständnis davon, wie grausam und verheerend die Arbeit in Minen und Fabriken für Kinder war. Hierzu liegen zahlreiche autobiographische Zeugnisse vor, siehe etwa John Robert Clynes: Memoirs 1869–1924, London: Hutchinson & Co. 1937, S. 43. Vgl. außerdem die ausgiebige Diskussion in Jane Humphries: Childhood and Child Labour in the British Industrial Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 2010, Kap. 4 u. 5. Die Frage ist in diesem Fall also eher, wie tiefgreifend der Angriff auf das Verstehen wirken kann: Gibt es ein Verstehen, das wir vor aller begrifflichen Artikulation haben (etwa im Fall der Betroffenen aus Clynes’ Erinnerungen), und der Angriff auf die Begriffe hindert uns ‚nur‘ daran, die ‚richtigen Worte‘ zu finden, mit denen wir uns vollends über die Tragweite unserer erlittenen Grausamkeiten klar werden und so eine klare Perspektive erlangen können? Dieses Problem ist tiefgreifend und betrifft die grundlegenden Strukturen moralischen Urteilens – ich kann ihm im Rahmen dieses Textes daher nicht gerecht werden.

    x Besonders am Beispiel des „Biowaffen“-Narratives lässt sich sehen, wie gezielt solche Pseudorechtfertigungen gestreut und von anderen (in diesem Fall von Regierungsvertreter:innen Chinas, Irans und Syriens) aufgegriffen werden, um die Unterhaltung durch fiktive alternative talking points zu kontrollieren. Siehe hierzu Olga Robinson, Shayan Sardarizadeh und Jake Horton: „Ukraine war: Fact-checking Russia’s biological weapons claims“, in: BBC Online, 15.03.2022, einsehbar unter: https://www.bbc.co.uk/news/60711705. Zu den tiefergehenden ideologischen Voraussetzungen im Denken der russischen Führung vgl. außerdem Andrew Wilson: „Inside the Russian geopolitical mind: Pseudo-justifications behind the war in Ukraine“, in: European Council on Foreign Relations, 04.05.2022, einsehbar unter: https://ecfr.eu/article/inside-the-russian-geopolitical-mind-pseudo-justifications-behind-the-war-in-ukraine/.

    xi Zwei Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine griff der russische Außenminister Sergei Lawrow bei einer Pressekonferenz etwa auf genau diese Punkte zurück und benutzte sie, um infrage zu stellen, ob es sich beim russischen Überfall auf die Ukraine überhaupt um einen Überfall oder kriegerischen Akt handle. Siehe Sarah Dean: „Russian foreign minister falsely claims that it didn’t invade Ukraine“, in: CNN Online, 10.03.2022, einsehbar unter: https://edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-putin-news-03-10-22/h_ffb15927857812d909a0d6f4c9644f6e.

    xii Es spricht zudem einiges dafür, dass der Angriff auf das Verstehen nie erfolgen kann, ohne auch den Angreifer selbst zu treffen. Pirmin Stekeler-Weithofer argumentiert jüngst in einer der ersten philosophischen Reaktionen zum Ukraine-Krieg genau dafür: Putin folgt einer verarmten Logik der Entscheidung, die missversteht, dass alle menschliche Kommunikation bereits auf eine grundsätzliche Form des Vertrauens angewiesen ist. Wenn wir also bloß subjektiv-zweckrational über Fragen wie Kooperation, Krieg und Frieden nachdenken, missverstehen wir uns selbst: Wir missverstehen die grundlegenden semantischen und pragmatischen Strukturen, die uns überhaupt instand setzen, miteinander zu sprechen und zu leben. Vgl. „Zum Verschwinden des Vertrauens in Theorien der Rationalität und in der Praxis des Krieges“, in: Philosophische Rundschau 69/1 (2022), S. 5-13.

    xiii Die niederschmetternden Ereignisse der späten 1880er Jahre diskutiert Lear in Radikale Hoffnung, S. 53-64.

    xiv Für einen Überblick vgl. Martha Himmelfarb: The Apocalypse. A Brief History, Chichester: Wiley-Blackwell 2010.

    xv Lear entwickelt diesen Gedanken vor allem entlang traditioneller Praktiken der prophetischen Traumdeutung, die die Crow entwickelt hatten (vgl. Radikale Hoffnung, S. 109-119): Junge Männer wurden in die Natur geschickt, um zu fasten und Traumvisionen aufzusuchen, und diese wurden später durch die Stammesältesten interpretiert. Lear berichtet, dass Plenty Coups selbst als junger Mann genau einen solchen Traum hatte, und er vermutet, dass dieser „der Vorstellungskraft des Stammes Mittel an die Hand [gab], um mit diesen einem begrifflichen Anschlag standzuhalten“ (126) – und dass genau solche atypischen Formen des Denkens und Vorstellens durch einen radikalen Gebrauch der Vorstellungskraft nötig sind, um nach einem begrifflichen Zusammenbruch neue Formen des guten Lebens antizipieren und schaffen zu können (vgl. 183-198).

    xvi Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck 1956, S. 267 f.

    xvii Zudem wissen wir heute, dass es eine große Anzahl an Vorfällen gab, bei denen es teils schieres Glück war, das den Ausbruch eines Atomkrieges verhinderte. Vgl. Ben Brimelow: „9 times the world was at the brink of nuclear war — and pulled back“, in: Business Insider, 25.04.2018, einsehbar unter: https://www.businessinsider.com/when-nuclear-war-almost-happened-2018-4.

    xviii Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 273.

    xix Ebd., S. 273 f.

    xx Vgl. hierzu Lear, Radikale Hoffnung, S. 87-90, S. 130-153; Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 274-276, S. 309-316.

    xxi Ebd., S. 273.