Linien einer objektivistischen Ästhetik

Die beste Alternative zu schiefen Annahmen bezüglich Mensch und Umwelt ist menschliche Arbeit zu verstehen. Kreative und destruktive Interaktionen gründen auf Bedürfnissen und entsprechend auf Arbeit.

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    Alles ist Arbeit

    In der Philosophie wäre der Wunschzustand, plausible Relationen und "Relationen von Relationen" herzustellen, um damit einen umfassend historisch-systematischen Zugang zu einer Thematik zu ermöglichen. Weshalb sollten Zusammenhänge debattiert und ausgelotet werden? Weil anzunehmen ist, dass Wissen dem allgemeinen Verständnis einer Sachlage zuträglich ist, und so einen indirekten Beitrag zu Handlungsansätzen liefern kann. Besagte Relationen werden nicht willkürlich festgesetzt, sondern erscheinen möglich und, um es nochmals zu sagen, plausibel. Im kollektiven Bemühen um Erkenntnisgewinn (und Fortschritt in der Welt, nach Francis Bacons korrekter Ansicht) setzen sich gewisse Auffassungen durch, wobei immer mit falschen oder zumindest sehr einseitigen Interpretationen zu rechnen ist, zumal dann, wenn es gar nicht um Wissen an sich geht (was heute eher die Ausnahme sein dürfte), sondern um kaschierte Machtverhältnisse in Instituten und an anderen Arbeitsorten (ein zentrales Thema der Wissenssoziologie). Wir sprachen eben von Meinungen, die mehr oder minder aktiv verbreitet werden. Das bringt uns zu einer Feststellung, die man eigentlich als bekannt ansehen möchte, dies aber nicht ist: Quantität verbürgt keine Qualität.

    Das Gegenteil des Soll-Zustandes wäre die Fragmentierung und Beschränkung auf theoretisch isolierte Aspekte bis hin zur Absurdität. Ja nicht nur das, dazu auch noch die billige Behauptung, eine Aussage A und deren Gegenteil nicht-A würden in gleicher Hinsicht zutreffen, da alles nur eine Frage der Interpretation sei, der inneren Einstellung des Bürgers (Gesinnung), und dergleichen Fadheiten mehr. Versuchen wir denn, zu etwas Stärke zurückzufinden, auch wenn es nicht viel ist.

    Wenn es um Kunst geht, geht es um Arbeit. Wenn es um Arbeit geht, können im Prinzip vier Interessen im Zentrum stehen:

    • Arbeit als Prozess (was mich hier interessiert)
    • Arbeit als Produkt (Werk und bestehende Produktionsbedingungen)
    • Bedeutung und Wirkung des Produkts (Funktion)
    • Bedeutung und Wirkung des Prozesses (Funktion)

    Man kann dabei der Sache einen subjektiven Dreh geben, besonders bei den beiden funktionalistischen Interessen, wo es um "Effekte gewisser Art" geht, welche theoretisch als "Funktionen" interpretiert werden können, was anderen (zu individualistischen) Deutungen vorzuziehen ist. Subjektivität ist eine Sache, Subjektivismus eine andere. Die seit Leibniz und Descartes (bei allem Respekt) beklagenswerte Neigung zu subjektivistischen Ausflüchten hat uns bisher von der Objektivität nicht befreit, was Grund zur Freude ist. Denn die subjektive Glaswand zwischen Mensch und dem, was er oder sie zu verstehen und zu benutzen sucht, lässt sich so dünn halten, dass wir tatsächlich Aussagen machen können, die nicht oder kaum "menschlich gefärbt" sind. Die Frage ist nur, ob besagte Aussagen zutreffen. Wenn man persönlich das Wort "wahr" nicht mag, darf man auch gerne das Adjektiv "akkurat" verwenden, wenn es denn deutlich stärker gemeint ist als allgemein bei Pragmatisten, die gerne ein bisschen von allem haben möchten und dann nichts mehr richtig zusammenkriegen. Ein bisschen Tag, ein bisschen Nacht, aber von "Dämmerung" möchte man dann doch lieber nicht sprechen. Das klingt zu stark nach deutscher Philosophie! 

    Objektivismus, Sachlichkeit, Wissen

    Ob etwas "menschlich gefärbt" ist oder nicht, ist drittrangig, nicht vorrangig. Was? Wozu? Wie? Mit welchen Konsequenzen? sind die entscheidenden Fragen, nicht vermeintlich "männliche" und "weibliche" Wahrnehmungen von Tieren, Pflanzen und gesellschaftlich relevanten Themen wie Klima, Migration und Demographie (wieder ein dichtes Geflecht von Relationen). Die Themen gibt es ohne Zweifel, aber "die Frau" gibt es nicht, ebensowenig "den Mann", der alles kann, oder alles falsch macht. A fortiori gibt es auch nicht "den Menschen" oder "die Menschen", die da ein theoretisches Muster erfüllen möchten, ohne davon zu wissen. Wenn etwas in einem pragmatischen Sinne "funktioniert", dann nicht, weil Lebendiges auf wundersame Weise irgendwie eine Theorie bewahrheitet, sondern weil sich eine Unmenge von Faktoren in einem Topf zusammenfinden, die offenbar einen Vorgang ermöglichen (man vergleiche dies mit der Entstehung des Lebens), was uns nicht selten als "Zufall" anmuten mag, aber möglicherweise keiner ist. In Anspielung an den Titel dieses kleinen Versuchs (entfernt von Ayn Rand und ihrem prinzipiell richtigen Antikantianismus inspiriert) darf gesagt werden, dass einstweilen der Kult des Subjekts durch den Kult des Objekts ersetzt werden sollte, nur nicht als Bestimmter-Artikel-Pseudo-Entitäten wie "der (schlechte) Mann", "die (gute) Frau", "die (ungerechte) Gesellschaft", "der (fähige) Politiker", "der (unfähige) Bürger", "die (unverständliche) Kunst", "die (veraltete) Religion", "die distributive Gerechtigkeit" (die allen alles gibt), "das wahre Glück" - in diesem kitschigen Kontext natürlich auch "das wahre Wesen des Geschlechtsverkehrs" - dann weiter "der freie Markt", "die globale Gesellschaft", "unser Wohlstand", "unsere chinesischen Freunde" oder was auch immer für rationale Pseudogegenstände für emotionale Pseudodiskussionen kreiert werden (metaphysisch gesprochen "Substanzen", die keine sind). Zuerst löse man alles tunlichst in Relationen auf und versuche dann, im engen Netz der multiplen Kodetermination einige fragile Eckchen Freiheit zu beleuchten und für unser kollektives Bewusstsein zu sichern. "Margins of freedom" nannte ich das einmal in einem kurzen Vortrag zu Whiteheads Metaphysik. Keine leichte Aufgabe, Leute. Vielleicht doch lieber Pseudodiskussionen, die die Gemüter schnell und garantiert ohne Folgen bewegen? Vielleicht würden wir gut daran tun, einen nüchternen Blick auf Hegel zu werfen, denn Hegel weiss mehr ... Aber bevor wir das tun, sollten wir uns in Kunst, Philosophie und Wissenschaft zu einem vernünftigen "objektivistischen" Konsens durchringen: Auch wenn wir das menschliche Gehirn ob dessen gewaltiger Komplexität nicht ausreichend verstehen, so scheint es doch zweckmässig gemeinsam anzuerkennen, dass die "Realität da draussen" durch unsere Sinnespforten irgendwie in unser "Bewusstsein" hineindringt (frei nach Prof. Jordan Peterson, Toronto), wobei der Bewusstseinsbegriff von uns ganz und gar nicht hypostasiert wird. Auch werden wir keine Begriffe zu festen Kategorien hypostasieren. Etwas "da draussen" macht uns - nach einem schmerzvollen historischen Lernprozess - handlungsfähig. Handlungsbedarf und Handlungsfähigkeit. Das wird uns in den nächsten 500 Jahren als theoretische Ausgangslage vollauf genügen. Der Traum von Traumwelten ist ausgeträumt.

    Nun aber zurück zur Kunst und zum Kunstprozess! Wir setzen beim ersten Punkt oben an: Arbeit (hier Kunst) als Prozess und versuchen uns einmal vorsichtig in der Deutung von Empfindungen.

    "Der Betrachter U in der Situation V empfindet bei der Betrachtung des Bauwerks W ein Gefühl der Begeisterung."

    Es ist schon beinahe banal anzumerken, dass diese Aussage mehr über U als über W aussagt, auch wenn es formal um eine zweistellige Relation geht. In Bezug auf das psychische Ereignis ist dieser Satz aussagekräftig, nicht aber, wenn es um Geschichte, Kultur, Sachverstand und die architektonischen Eigenschaften von W geht.  Anders gesagt, eine sachlich adäquate philosophische Ästhetik ist nicht ein Unterkapitel der Psychologie, sondern umgekehrt. Der Effekt von Kunstwerken auf Einzelne als Teil von Gemeinschaften (in Funktion der Zeit) wäre eine Folgefrage der theoretischen Ästhetik. Mentale Zustände geben wenig bis keine Hinweise auf den Kunstvorgang, also auf den umfassenden künstlerischen / schriftstellerischen Prozess: "the multi-faceted art process" würde ich auf Dewey'sche Manier improvisieren. Die Unart, Probleme zu subjektivieren und damit des öfteren zu psychologisieren, führt zu absurden Fragen, die interessanterweise auf theoretische Versäumnisse hindeuten. Ein Beispiel aus dem akademischen Absurdistan des vorangegangen Jahrhunderts mag das illustrieren. Klarerweise handelt es sich im Folgenden um eine zweistellige Relation, aber natürlich nicht auf eine höchst naive, antimetaphysische Art, wie das früher Mode war. Zum Zwecke der guten Laune und der Ironie erinnere ich mich gerne an den folgenden surrealen Satz:

    "Dieses Bild vermittelt mir ein trauriges Gefühl. Aber wie ist denn das möglich, wenn das Bild selber nicht traurig ist?" (falsche Fragestellung, so gesehen bei Nelson Goodman) 

    Hier liegt gleich ein dreifacher Irrtum vor: Erstens sind wir in der Regel keine Animisten; es käme uns also nie in den Sinn, einem Gegenstand Gefühle zuzuschreiben. Zweitens spricht nichts dafür, dass alle Gefühle ausschliesslich auf Sympathie oder Empathie beruhen. Es ist mir durchaus möglich, eine "kalte" Information in ein "kaltes" Gefühl umzuwandeln, dann nämlich, wenn ich mir der Tragweite eines Ereignisses bewusst werde, was ein intellektueller Vorgang ist. Das Denken wirft einen Schatten auf die Gefühlswelt, ohne diese zu erschüttern. Drittens ist es wenig wahrscheinlich, dass zwischen Lebewesen so etwas wie "emotionale Telepathie" möglich ist, das heisst ein unmittelbares Anklingen von Emotionen, das nicht zuerst vom eigenen Gehirn erzeugt und dann erst zu Bewusstsein gebracht wird (contra Leibniz und Whitehead). Verkürzte Denkweisen und bizarre Voraussetzungen führen zu Scheinproblemen, die zuweilen ganz amüsant sind, aber uns im philosophischen Diskurs leider nicht weiterbringen, es sei denn, wir betrachten die Geisteswissenschaften als witziges Spiel ohne Bezug zu uns und zur gesellschaftlichen Praxis.

    Semiotik als theoretischer Rahmen

    Wir kehren zum philosophischen Soll-Zustand zurück und versuchen, wenigstens ansatzweise das vielschichtige Neben- und Übereinander in menschlichen Angelegenheiten (und darüber hinaus) theoretisch "durchzuspielen", wenn wir das Verb "spielen" auf eine interessantere Art verwenden wollen ("to re-enact"). Dafür braucht es (neben dem Mut zum Objekt) den Mut zur Synthese, etwa so, wie ein pathologisch gespaltenes Individuum den Mut finden muss, mittels Therapie wieder zu einem höheren Grad von Integration (innen und aussen) zu gelangen. 

    Das wohl beste Instrument, eine Kultur - und näherhin den Kunstvorgang - zu erfassen, ist die Semiotik im Anschluss an C. S. Peirce. Nun gibt es freilich nicht nur ein Verständnis und eine einzige Art der Anwendung der Semantik, und auch die Begriffe 'Kunst' und 'Kultur' (und die scheinbaren Gegenteile davon) stehen immer wieder zur Diskussion.  Nur ist es ein markanter Unterschied, ob wir uns in billiger Psychologisierung ergehen, oder ob uns in einer ambitionierten Theorie Fehler unterlaufen. Die Letzteren tragen zum Erkenntnisfortschritt und zu etwas, was ich "höhere akademische Denkkultur" nennen möchte, bei.

    In groben Umrissen würde eine anspruchsvolle Ästhetik im Sinne einer dynamischen Kunsttheorie, welche Wirkungen und Ursachen berücksichtigt (nicht nur subjektive Erlebnisse), die drei Grundkategorien nach Peirce so anzuwenden wissen, dass wir damit arbeitsecht und wirklichkeitsnah den Zyklus Künstler-Kunstwerk-Publikum-Künstler (inklusive künstlerische Tradition vorher, und Rezeption eines bestimmten Werkes nachher) allgemein verstehen können. Eine solche Betrachtung - welche nicht direkt auf Pierce zurückgeführt werden kann - wird sich mit Vorteil an Geschichte und Soziologie orientieren, denn Kultur ist ein historischer und gesellschaftlicher Vorgang, bei dem sich Gegenwart und Vergangenheit dialektisch zu etwas Neuem, aber dennoch Erkenn- und Geniessbarem verbinden. Die Semiotik hat eben diesen ganzheitlichen Kulturprozess im Auge (nach Umberto Eco).

    Künstler-Kunstwerk-Publikum, also der Weg von der Ideation bis zur Rezeption des Kunstwerks bietet sich als Programm für eine umfassende Ästhetik an. Da wir sachgemäss von "höheren" Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit ausgehen, könnte der Weg vom Künstler zum Publikum auch mit Ausdrücken wie "ideelle Phase" (Konzeption), "materielle Phase" (Ausführung) und soziale Phase" (Rezeption) beschrieben werden. Rezeption ist dabei viel mehr als nur ein gefühlter psychologischer Effekt (Genuss, Interesse, Läuterung, Inspiration, Abscheu), auch wenn dieser multiple Aspekt auch eine gewisse Rolle spielen mag. Diese Überlegungen werden in einem späteren Beitrag nochmals aufgegriffen und fortgesetzt. Es wird dann auch etwas über Kreativität zu sagen sein.


    Weitere Hinweise zum Thema und zu Goodman (für Studenten): 

    http://d-sites.net/english/goodman.html

     

    Wenn wir einen Versuch im Bereich Ästhetik und Kunsttheorie wagen, dann ist damit nicht nur der Bereich der Kunst in Geschichte und Gegenwart abgedeckt, sondern wir berühren Fragen nach dem Wissen, der Wirklichkeit und letztlich auch nach dem Sinn des Lebens. Alles, was uns angeht und alles, was uns beschäftigt, ist wie ein weit gespanntes Netz zwischen den psychischen Erfahrungszentren (Individuen in der Geschichte), das sehr empfindlich auf Berührung reagiert. Wenn wir das Netz im ästhetischen Bereich ganz leicht antippen, beginnen die weiter davon entfernten Bereiche mitzuschwingen. Es ist beinahe so wie mit dem Beispiel des Schmetterlings in der Chaostheorie - übrigens eine Theorie, die in der Metaphysik meines Wissens seltsam vernachlässigt wurde. Wenn wir in der Ästhetik interessante und pertinente Aussagen treffen können (wer weiss, vielleicht gelingt uns das), dann lassen sich diese vermutlich für andere Abschnitte des philosophiehistorischen Netzes adaptieren: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Sozialphilosophie, Religionsphilosophie u. a. Ich bin der unmassgeblichen Meinung, dass das allgemeine Bild des Menschen und der Existenz auf Erden einer Klärung bedarf. Es fällt mir schwer, bunten Thesen über Schmetterlinge zu folgen, die vorgeben, etwas über die Flügelspannweite von Geiern aussagen zu können. Der Weg zurück in die menschliche Realität sehe ich ungefähr so vor mir: mit Aristoteles (Rettung der Phänomene), Nietzsche (Wille und Tragik des Lebens) und Marx (soziale und ideologische Konflikte). Obwohl nicht konservativ, habe ich das bestimmte Gefühl, dass die drei Buchreligionen "trotz allem" viel näher an die menschliche Erfahrung heranreichen als aufklärerische Besserwisserei und linkes Moralisieren, das heute zum guten Ton gehört.  Lächerlich. Man mag das alles heftig bestreiten, und ich warte gerne auf "überzeugt optimistische" Gegenargumente bezüglich "guten" und "schlechten" Menschen (die partout nicht verstehen wollen und die man zum Glück zwingen muss). Wie dem auch sei, ohne Zugriff auf die eher unerfreuliche menschliche Wirklichkeit macht für mich auch eine ästhetische Theorie keinen Sinn. Denn "gute" und "schlechte" Kunst (oder Literatur) ist kein theoretisches Verdikt, sondern ein modisches, ideologisches, und nicht zuletzt auch ein wirtschaftliches, ohne tieferen theoretischen Wert, ausser dieser kann auf anderem Weg aufgezeigt werden. 

    Jenseits von Gefühl und Gesinnung

    Alle was der Mensch nicht kennt, ist der Mensch ... Es liegt in der Natur der Wissenschaft (seit Demokrit und Aristoteles), intersubjektiv zu kommunizieren, dabei aber objektiv zu intendieren. Wenn der Professor im Sommersemester 2002 den Studenten sagt: "Ich möchte heute mit dem Thema Kreativität fortfahren und werde versuchen, mit ein wenig Imagination die wichtigsten Punkte auf eine Reihe zu bringen", dann heisst das nicht (i) dass der Herr Professor bezüglich der Materie "subjektiv" ist, oder (ii) dass die Studenten in Wirklichkeit nur die Psyche des Professors "lernen". Das heisst auch nicht, (iii) dass die Motivation der Teilnehmer irgendwie die Pros und Contras steuert, denn diese existieren als Denkformen auch, wenn Teilnehmer klar eine von zwei Position beziehen. Wenn ich "dafür" bin, verschwindet "dagegen" nicht automatisch (ausser in Diktaturen und Pöbeldemokratien, letztere wieder aktuell, vielleicht Aristoteles und Nietzsche zu Ehren). Weiter bedeutet (iv) eine falsche Darstellung der (sagen wir) authentischen marxistischen Theorie, oder von Herbert Spencers grosser Leistung zu seiner Zeit (nach Hegel) nicht, dass Herr Professor "subjektiv" und voreingenommen ist, sondern es bedeutet zunächst nur, dass er sich mit der Materie nicht lange genug auseinandergesetzt hat. Arbeit und Intellekt sind die Kriterien, nicht Gefühl und Gesinnung. Ob und wie Gefühl und Gesinnung hineinspielen, soll die Studenten in unserem Beispiel nicht bekümmern, sofern sie nicht selbst davon betroffen sind. Die Studenten informieren sich im Idealfall selbst und finden gemeinsam heraus, dass Herr oder Frau Professor ziemlich schlecht informiert ist oder noch besser - dass da jemand bei der Dissertation geschummelt hat und bei Fragen von Lernenden im Hörsaal ins Schlittern gerät. That's it. Kein Grund zur Aufregung.

    Nochmals zur Wissenschaft allgemein: Es liegt in der Natur der Sache, Psychisches zu Nicht-Psychischem zu reduzieren. In der Psychologie wird nicht selten Innerpsychisches (Patient) mit Ausserpsychischem (pathogene Bedingungen) korreliert oder gar reduziert, wenn der Patient gewissermassen als "unschuldig" und heilbar gilt. In der angelsächsischen Philosophie war es seit dem Amerikanischen Pragmatismus Mode, alles irgendwie gelten zu lassen und die Sachen entsprechend zu relativieren: Religion bleibt zwar irgendwie "subjektiv" (psychologisch), aber sie hat über die Jahrhunderte doch irgendeinen einen Nutzen (auf persönlicher Ebene oder auch gesellschaftlich). Wenn die Wissenschaft mit leeren Kategorien (oder Sammelkategorien, teilweise ideologisch) wie "Bewusstsein", "Kreativität" oder "Willensfreiheit" nicht weiter kommt, muss halt der Pragmatismus der Philosophie einspringen und erklären, dass die besagten wissenschaftlichen Nebelgebiete "nicht reduzierbar" sind (Prof. Mark Rowlands war ein Vertreter des Nichtreduktionismus, in The Nature of Consciousness, 2001). Gleiches für andere Nebelgebiete unter der Schädeldecke. Philosophische Postulate und Verdikte haben tatsächlich nur eine Funktion (recht uninteressant für Wissenschaftler), nämlich, den akademischen Diskurs zu standardisieren und steuerbar zu machen, was sich auf die politisch einseitige Selektion des Lehrpersonals auswirkt. Die Vereinfachung läuft darauf hinaus, Nicht-Experten (nämlich Philosophen, wie immer männliche, weibliche und andere Versionen davon) zu ermächtigen, Urteile von Experten zu fällen, also aufgrund von Vorurteilen oder falschen Voraussetzungen die philosophische Diskussion weiterzuführen, was wiederum mit Konkurrenz und Karrieremöglichkeiten an Hochschulen zu tun hat (und mit dem durchschnittlichen Talent aller Beteiligten, rein statistisch gemeint). Das merken Studenten spätestens im dritten Studienjahr, und dann beginnt schon die Auswahl zwischen den Konformen und den Originalen. Es ist klar, wer von beiden Typen die Universität früher verlassen wird (und was das langfristig für die westliche Gesellschaft bedeutet). Vor den beiden Weltkriegen war das anders, ganz anders. 

    Also, wenn der Mensch sich im Spiegel anschaut, dann sieht er oder sie zwar etwas Existentes und "Richtiges", aber die wissenschaftlich relevanten - teils unbekannten - Bedingungen innerhalb und ausserhalb von Subjekten bleiben unsichtbar. Deshalb ist die Losung "Geist erkennt Geist" falsch, oder zumindest sehr unzureichend. In einer Arbeit zu Demokrit - übrigens ein Held der Wissenschaft - schrieb ich einmal "Materie erkennt Materie", und das ist ebenso richtig wie die Haltung mit dem geistigen Erkennen. Hier liegt auch die Wurzel meines Antikantianismus und meiner Ablehnung von simplistischen aufklärerischen Postulaten vom guten, erleuchteten Menschenkindern, von der mütterlichen Natur, auch vom väterlichen Gott, der uns menschliche Vernunftsprotze einfach so gewähren lässt (eine Art New Age Bewegung des 18. Jahrhunderts, meine ich), vom ausweichenden religiösen laissez-faire einmal ganz zu schweigen. Die Behauptung, es liesse sich kraft menschlicher Intelligenz präzis sagen, was menschliche Intelligenz denn wirklich sei und vermöge, ist philosophische Kraftmeierei im Rokokogewand. Der menschliche Intellekt kann sich bei seiner Denkarbeit nicht selbst beobachten, genau so wenig, wie sich das menschliche Hirn gleichsam "von aussen" betrachten kann (Beispiel von Bergson). Wenn wir auf kantianische Art und Weise sagen, die "noch nicht bewussten" Sinneseindrücke werden nach Kategorien A, B, C und D geordnet, dann sagen wir damit nicht viel mehr, als dass uns Gegenstände "man weiss nicht wie" entgegentreten (oder wir ihnen), und wir diese nach pragmatischen Kriterien (zunächst Zeit und Raum) in Diskurs und Transaktionen einfliessen lassen. Dass heisst für mich, dass der Kantianismus nur in einer verwässerten Form von Pragmatismus überlebensfähig ist, wobei der Pragmatismus an sich auch nicht befriedigend ist. James und Deweys Arbeiten zu Religion und anderen Themen haben indessen den Vorteil, dass da eine echte Bemühung vorliegt, etwas "wirklich" zu verstehen (um den vagen Begriff der Erfahrung zentriert, anstatt weg-zu-katalogisieren und weg-zu-schematisieren). Es ist meines Erachtens dennoch so, dass kein einziger amerikanischer Pragmatist einem Nietzsche oder einem Bergson das Wasser reichen kann (am ehesten noch G. H. Mead, wenn man ihn unbedingt als Pragmatisten ansehen will). Beide haben klar erkannt, dass sich Kant in eine skeptizistische Sackgasse hineinmanövriert hat: keine echte Alternative zu Platon und Aristoteles, ein reaktionäres protestantisches Ansinnen, eine Pathologie des westlichen Denkens, die 200 Jahre später zur Zersetzung der akademischen Philosophie führen wird - und indirekt zu einer Bildungsarmut in vermeintlichen Informations- und Wissensgesellschaften. Da will man plötzlich von nichts mehr wissen, weil alles Kulturelle und Historische auf einmal "uninteressant" geworden ist - und sowieso alles relativ und menschlich gefärbt ist -, und behauptet im gleichen Atemzug, dass man da eine exakte, hochwissenschaftliche, "analytische" Wissenschaft betreibe oder gerade neu erfunden habe. Einfach lächerlich, aber leider noch nicht als schlechter Witz erkannt. 

    Dennoch eine Provokation an mich selbst gerichtet, um meine Motivation aufzuzeigen: Was soll dieses ganze Gelaber von Wirklichkeit und Objektivität, und gerade in Kunst und Literatur? Nun, wer Kunst sagt, sagt Mensch, und wer Mensch sagt, sagt vieles ... Dann ist nicht einzusehen, weshalb der Mensch einerseits ein Objekt des Denkens sein kann, andererseits gleich wieder im Sumpf des Subjektivismus untergehen soll, nur weil das menschliche Gehirn komplexer ist als der Aufbau eines Palmblattes. Komplexität behindert oder verbietet Objektivität nicht. Es liegt in der Natur der menschlichen Sache, dass die Wissenschaft eine Entdeckungsreise vom Bekannten ins Unbekannte ist (frei nach Spencer und Hartmann). Die Reise ist real, die Reisenden nicht weniger, und das Unbekannte "da vorne" muss sich nicht direkt manifestieren, um der nützlichen Hypothese der "mutmasslichen Existenz" standzuhalten. Beweise laufen oft auf negativen oder indirekten Schienen, und einige Hypothesen lassen sich nicht einfach wegargumentieren. Das beliebte moralistische Argument etwa, dass da glaubensstark verkündet, es gebe die menschliche Misere nur, weil es dort irgendwo unglaublich "schlechte Menschen" gebe, eliminiert die Tatsache keineswegs, dass Menschen arg begrenzte und fehlbare Kreaturen sind, die es eben nicht auf die Reihe bringen, glücklich und rational zu sein. Es fehlt an globaler Willenskraft und weltumspannendem Organisationstalent, modisch und internationalistisch ausgedrückt. Hier erkennt man, dass Marx und Engels einen echten Fortschritt für die Gesellschaftskritik bedeuten. Selbst wenn die beiden Männer singuläre deutsch-viktorianische Denker waren (mit den entsprechende Grenzen und Widersprüchen), so laden sie doch die Schuld der Geschichte nicht auf "schlechte" Menschen oder "schlechte" Religionen oder was es auch immer Schlechtes in der Welt geben mag, sondern sie verstehen die Historie ganz richtig als eine Art griechische Tragödie, welche die Emanzipation vom "mechanischen" historischen Schicksal ankündigt (Monopole und materialistische Ethik der Reichen, Klassenkampf, endliche Befreiung analog zum Christentum). Analog dazu kann es nicht "gute" und "schlechte" Kunst von "guten" und "schlechten" Menschen oder Systemen geben. Eine solche Position wäre "präemptiv religiös", wie ich es als weltlicher Ethiker nennen würde. Sozialistischer Realismus oder sowjetischer Funktionalismus (Architektur) sind nicht per se "schlecht" und "uninteressant", nur weil gemütlichen Bürgern auf dem (vermutlich chinesischen) Sofa die Tragik des 20. Jahrhunderts nicht behagt. So sind die drei Lettischen Schützen (1970) in rotem Granit vor dem Okkupationsmuseum in Riga immer noch ein ganz beachtliches Kunstwerk, auch wenn man ganz und gar kein Bewunderer dieser mobilen Kampfeinheit und ihrer bolschewistischen Freunde ist. Ebensowenig sind nicht alle Leninstatuen als "entartete Kunst" zu verdammen, denn einige davon sind durchaus gelungene Kunstwerke in einem realistischen Stil (freilich mit ideologischem Innenleben, aber das ist bei farbenprächtigen Napoleons in Öl auch nicht anders). Es gibt übrigens auch gelungene Porträts von Wladimir Putin, die in Russland die Zeit überdauern werden. Ein gemütlicher Gutmensch mag aus ideologischen Gründen erbauliche Suppendosen von Andy Warhol einem geschichtsträchtigen Porträt des autokratischen russischen Präsidenten vorziehen, aber eben - Gemütlichkeit und Gutmenschentum sind für Ästhetik und Kunstgeschichte keine brauchbaren Orientierungen oder Kriterien. Frau Prof. Elena Ermolaeva aus Russland hat mir vor ein paar Jahren geholfen, diesen höheren Standpunkt einzunehmen, indem sie sowjetische Kunst zunächst einfach Kunst sein lässt, die sich deuten und verstehen lässt. Objektivismus bedeutet für mich die völlige Verbannung von Werturteilen selbst dann, wenn sich Werturteile gleichsam aufdrängen (etwa, wenn es um die Plage des Antisemitismus geht). Werturteile sind völlig zu eliminieren, oder dann ernsthaft zu reflektieren, etwa in Psychologie oder Soziologie, und abhängig davon auch in der Philosophie. Werturteile bezogen auf Geschmack oder Ideologie haben keinen Platz in einer objektivistischen Theorie, sei es nun Ethik, Ästhetik, Erkenntnistheorie oder Metaphysik. Deshalb würde ich im Vorlesungssaal fordern, dass das unglückliche Paar "Gefühl und Gesinnung" aus Diskursen zu isolieren sei, sofern Gefühl und Gesinnung nicht als definierte Gegenstände der beiden komplementären Disziplinen der Psychologie, der Individualpsychologie und der diese gleichsam umgebenden Sozialpsychologie, geführt werden. (Vielleicht könnte man als Ausgleich in der Freizeit turbulente "moralizing meetings" anbieten, wo sich übereifrige Studenten und Lehrende moralisch abreagieren können.) Das Rezept gegen billiges Psychologisieren und Moralisieren ist die Anwendung und Weiterentwicklung der Psychologie selbst. Aber auch hier sehe ich persönlich die Psychologie nur auf Grundlage von Soziologie und Ethnologie, so wie Wirtschaft und Politik. Fast alles hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, von dem, was vom antiken Schicksalsgedanken übrig geblieben. Die Sozialpsychologie ist demnach eine theoretische Brücke vom Individuum zur wechselwirkenden Bezugsgruppe, also von Psychologie zu Soziologie, respektive Ethnologie (schnell gesagt "der Mensch in der Kultur"). 

    Allgemein geht es mir darum, nach den Luftbildern der Aufklärung und den modernen Predigern der Menschlichkeit wieder den Weg in die menschliche Realität zurückzufinden, also einem philosophischen Naturalismus das Wort zu sprechen. Wirtschaft und Politik sind sicher wichtig, aber meine Grundorientierung ist durchwegs "kulturell", worunter ich ganz genau "Soziologie plus Ethnologie" verstehe. Die Semiotik nach C. W. Morris und J. M. Lotman ist ein Schema, um kulturelle Mechanismen darzustellen und auf eine abstrakte Weise zu verstehen. Aber das Fleisch am Knochen ist soziologischer und ethnologischer Natur. Die Hierarchien, die das Individuum beschränken und "verwenden". Ich glaube, dass Wirtschaft und Politik am besten verstanden werden, wenn wir sie quasi "von aussen" als Gesellschaftserscheinungen auffassen. Das "von aussen" ist freilich nicht naiv (als "rein" und "neutral" wie be Kant) gemeint, sondern einfach eine kurze und verständliche Sprechweise, die ich hier benutzen möchte. Man mag meine Auffassungen kritisieren, ganz klar. Wenn man das tut, darf man mich gerne auf Fehler aufmerksam machen, wenn denn von mir grundsätzliche Fehleinschätzungen gemacht wurde. Man benutze dazu bitte die angegebene E-Mail-Adresse.

    Das Subjekt als Teil der Objektivität

    Der grosse Descartes forderte die Antwort eines anderen bedeutenden Franzosen heraus. In der Tat schrieb Maine de Biran, dass Descartes allgemein Recht habe, aber dass das factum brutum der Widerstand "von etwas" sei, das es tatsächlich gebe (meine Worte). Damit ist der Grundstein für Peirce's Zweitheit gelegt und die überflüssige Diskussion zu Kants "Ding an sich" erledigt (eine theoretische Leerstelle, etwa wie Gott und der Dämon bei Descartes, Anleihen bei der christlichen Mythologie). Es erstaunt nicht, dass "Widerstand" wieder mit der grossen aristotelischen Tradition seit den Tagen des Meisters verbunden ist, wie könnte es auch anders sein (so auch das Konzept der Funktion).

    Kräfte und Kategorien erklären absolut nichts, aber Grundmuster wie "Funktion", "Widerstand" (Grenzen) "Effekt" (Nutzen) oder wertneutral "Fähigkeit" (Performanz) scheinen den sekulären Erfahrungstatsachen der Menschheit ganz gut zu entsprechen. Es ist übrigens ein Irrtum, zu meinen, Aristoteles hätte da ähnlich wie Kant, Peirce oder Whitehead versucht, kulturelle und natürliche Phänomene irgendwie mit Kategorien abzufertigen. (Peirce und Whitehead fühlten sich aufgrund gängiger akademischer Diskurse und Wertungen verpflichtet, irgendwie an Kant anzuknüpfen, was durchaus nicht nötig gewesen wäre. Konvergenzen hätten sich auch so ergeben.) Aristoteles ging es immer um komplementäre Vorgänge, um ein Auf und Ab. Der vorgeschnittene Marmorblock verliert so viel an seiner (theoretischen) Substanz als die dorische Säule an deren Substanz im Arbeitsprozess gewinnt. Der Künstler und Handwerker realisiert dabei sein Potential bestehend aus praktischen Wissen und Talent (im Verhältnis 9:1, wie Haydn, Mozart und Beethoven sehr gut wussten) und steckt gleichsam Kraft und Wissen in den Gegenstand seiner Arbeit. Kräfte und Kategorien haben null "Erklärungskraft", ein System von Kategorien erklärt mehr, wer oder was sich hinter der Theorie verbirgt, und wie er oder sie intellektuell geformt wurden und sich entsprechend gebärden (biologisch  determiniert und in der Kultur konditioniert). Spinoza und Leibniz, zum Beispiel, oder Schelling und Hegel, oder Bergson und Whitehead, oder auch Bradley und McTaggart, in den Jahrhunderten seit Descartes' Wirken. Alles ist in ein weiteres Netz eingebunden.

    Es ist klar, dass es so etwas wie Subjektivität, Motivation und (stets eingeschränkte) persönliche Freiheit gibt. Nur geht es in einem intersubjektiven Diskurs zwischen verschiedenen Individuen aus verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften nicht um Gefühl und Gesinnung, sondern um Gelingen und Scheitern. Wenn schlechte Absichten unerwartet willkommene Folgen haben, dann um so besser. Alles hat zwei Seiten, sei es nun in der Psyche oder in der Welt, die wir als real annehmen dürfen, ohne den letzten Beweis dafür erbringen zu können oder auch nur zu wollen. Stärke und Schwäche, Gelingen und Scheitern, Weisheit und Kurzsichtigkeit ... nicht als moralische Kategorien gefasst drücken diese Paare "werken" und "das Werk" aus (nach Aristoteles), weiter "Wirkungen" oder Konsequenzen. Die kreativen und destruktiven Interaktionen Mensch/Natur und Mensch/Kultur gründen auf Bedürfnissen und entsprechend auf Arbeit. Die Bedürfnisse mögen teilweise subjektiv sein, die geleistete Arbeit ist es nicht. Das ist der springende Punkt. Kunst ist Leben, aber zuerst ist Kunst einmal Arbeit. Ich benutzte im letzen Beitrag auch das Begriffspaar Handlungbedarf / Handlungsfähigkeit zum Guten oder zum Schlechten, wie immer in menschlichen Belangen. 

    Ob wir nun von Wissenschaft oder von Erfahrung sprechen: ohne Reduktion auf Nicht-Psychisches, Nicht-Einfaches, Nicht-Bewusstes und Nicht-Tröstendes lassen sich nicht ernsthaft wissenschaftliche Positionen vergleichen und debattieren. Ohne Reduktion keine Wissenschaft. Es gibt dennoch interessante Phänomene im Graubereich zwischen Wissen und Glauben. Eine unvollständige Reduktion führt zu ideologisch durchtränkten Halbdebatten, wie etwa jene um den Klimawandel (wo so gesprochen wird, als wäre die Oberfläche der Erde klimatisch ähnlich einzuschätzen wie jene des Mars). Der populäre Schriftsteller Michael Crichton hatte vollkommen Recht, als er vor mehr als zwanzig Jahren sagte, dass Wissenschaft aufhört Wissenschaft zu sein, wenn sie zu einer Ersatzreligion hochstilisiert wird (gleiches für die heutige Politik). Es ist durchaus so, dass Philosophie sui generis ist, also weder ganz Literatur, ganz Kunst oder ganz Wissenschaft, ja manchmal nicht einmal "ganz Philosophie" (beispielsweise zu meiner Studienzeit). Das hat mit Soziologie und der europäischen Geistesgeschichte zu tun, zu der auch die Philosophiehistorie gehört.

    Kurz und gut

    Kunst ist ein Objekt, und der Künstler "hinter" dem Kunstwerk ist für uns hier ebenfalls ein Objekt. Es ist nicht so, dass alles subjektiv gefärbt ist, oder dass solche Färbung Objekte irgendwie verändert, "schwächt" oder relativiert, sondern dass der Mensch und sein Werk in echt aristotelischem Sinn dynamische, komplementäre Wirklichkeiten sind und insofern "absolut wirklich" und möglicher Gegenstand objektiver Begutachtung. Sowas nennt sich bedeutungsecht "Objektivismus" und sollte nicht mit einem (leicht revisionistischen) Neokantianismus zur Rettung Kants verwechselt werden. Wir retten nichts und niemanden, ausser die Phänomene, um die es uns geht. Das Realitätskriterium für objektive Erscheinungen ist kein einfaches, sondern selbst etwas Komplementäres: Handlungsbedarf und Handlungsfähigkeit. All dies wurde dargelegt, um den Boden für ein wirklichkeitsnahes Verständnis des Kunstprozesses "von der Inspiration zur Rezeption" vorzubereiten. Scheinbar umständlich und unnötig, das gebe ich zu, aber meiner Meinung nach unvermeidlich, will man sich nicht selbst die philosophischen Stolpersteine aus der jüngeren Vergangenheit in den Weg werfen. Jenseits von Gefühl und Gesinnung, von Moralismus und Zensur, liegen extrem schwierige Fragen, etwa jene nach der Funktion von Philosophie, Kunst und Literatur in totalitären Systemen; wie Kunstgegenstände aus dem ideologischen Kontext herausgeschält werden könnten, ohne sie zu verfälschen, und wie man den künstlerischen Wert der Erzeugnisse anerkennen und verallgemeinern könnte. Das wäre eine Grenzsituation einer adäquaten nicht-idealistischen Ästhetik. So wie man braun-esoterische Denker wie Evola (explizit) oder Heidegger (implizit) innerhalb bestimmter Grenzen wertschätzen kann und darf, so sollte das auch mit offiziellen Zarenporträts, Leninbüsten, Konföderiertenstatuen in den USA, Fotografien des letzten Schahs von Persien oder bei vermeintlich "perverser" Literatur möglich sein, ohne gleich von "abartigen Menschen" und "abartiger Kunst" zu sprechen und eine moralische Inquisition (wie jene gegen Oscar Wilde) zu betreiben. Ästhetik ist Ästhetik - nicht Moral, nicht Politik, und keine Diskussion über Menschenrechte in Zentralafrika oder in Südostasien. Wenn es "schlechte" Menschen gibt, dann gibt es vermutlich auch "schlechte" Kunst. Das scheint auf der Hand zu liegen, nur ist das Prädikat "schlecht" kein Kriterium für Kunsterzeugnisse, ebensowenig wie "einfach" und "komplex" irgendeine ästhetische Bewertung nahelegen. Das bekannteste Lied der Rolling Stones ist nicht "schlecht", nur weil es "einfach" gehalten ist. Ein solches Urteil würde einem echten Ästheten keine Befriedigung geben, if you know what song I mean.

    Zurück zur Wirklichkeit ... aber warum denn? Es geht doch nur um Ästhetik. Da kann man doch virtuell aus der Luft heraus theoretisieren. Weshalb sollten wir hier die conditio humana berücksichtigen? Es geht doch nicht darum, sich dem Menschen anzunähern, sondern viel eher darum, im Markt der Eitelkeiten mit provokativen Thesen aufzutrumpfen und etwas für seine eigene Karriere zu tun, nicht wahr? Jede und jeder ist sich selbst am nächsten, besonders an heutigen betont "antikulturellen" und "antiplatonsichen" Lehranstalten, wie es zumindest mir scheint. 

    Was bisher geschah

    Die Überlegungen in den zwei ersten Teilen dieser intellektuellen Vorarbeit dienten - abgesehen von polemischen Vergnüglichkeiten - vornehmlich einem Ziel: durch einen Wald hohler Bäume den Weg zum Menschen und zu seiner existentiellen Wirklichkeit zurückzufinden. Dies tue ich aus einer gemässigt konservativen Haltung heraus, die ich "gemässigter Historizismus" nennen möchte, der die Evolutionstheorie seit Spencers Tagen implizit miteinschliesst. Es wäre indessen nicht in meinem Sinn, wenn man meine Beiträge in postmoderne, neolinke, grüne oder feministische Richtungen drehen möchte, auch nicht in eine neu-existentialistische oder neopragmatistische Richtung. Marx und Nietzsche sind für mich wichtige Brückenpfeiler (es entsteht eine grosse Spannweite für verschiedene Argumente), aber keineswegs parachristliche Propheten, denen man Gehorsam schuldet. Also keine intellektuellen Opfer aus ideologischen Gründen. Das sehen wir zur Genüge beiderseits des Atlantiks. Marx steht für den kollektiven Aspekt der Existenz (immer in der Menschheitsgeschichte und soziologisch relevant), während Nietzsche einem fast schon biologischen Individualismus das Wort spricht, den wir nicht in eine üble Richtung wenden wollen. Als Demokrat lasse ich auch andere Meinungen gelten, selbst wenn ich sie nicht hoch schätzen kann. So muss ich mit der Tatsache leben, dass akademische Philosophen (das Geschlecht ist dabei völlig egal) in unserer Gesellschaft ungefähr die gleiche Rolle spielen, wie Sternschnuppen am Abendhimmel - von ganz wenigen wahrgenommen, und kaum gesehen wieder erloschen. Das hat mit dem materialistischen und ideologischen Einstellung in vielen westlichen Hochschulen zu tun, die der Psychologie und den intellektuellen Bedürfnissen der Studenten keine Rechnung trägt: schale Statistiken und linke Glaubenssätze, anstatt beim Nachwuchs wilde, unkontrollierte geistige Energie freizusetzen, nicht zuletzt auch um den Charakter von jungen Menschen zu stärken (ganz ohne Indoktrination, versteht sich). Der Weg zurück zur Realität, wie gesagt. Den beschritten wir im ersten und zweiten Teil ... 

    • mit dem Begriff der Arbeit, weit entfernt an Marx und an den anthropologischen Funktionalismus angelehnt,
    • mit einem Verständnis von Objektivität, das analog zur Wissenschaft "jenseits von Gefühl und Gesinnung" liegt, aber damit nicht voreilig behauptet, Philosophie sei ab jetzt eine exakte Wissenschaft,
    • mit der Semiotik als Hilfswissenschaft, die uns erlauben soll, Kunst in eine Art Sprache zu übersetzen und so Ästhetik (in Bezug auf Kunst, Literatur und Philosophie) als einen Generationen übergreifenden Diskurs verständlich zu machen, ohne gleich in unverbindliche Sprachphilosophie abzurutschen.

    Ich denke, das ist ein hoffnungsvoller Ansatz mit Zukunft. (Allen meinen Ansichten darf herzhaft widersprochen werden.) Allerdings muss ich an dieser Stelle im Sommer des Jahres 2018 eingestehen, dass ich öfters (an meinem Blog und an meinem Roman) open air arbeite und zu weit weg von meinen Büchern und von der nächsten Universitätsbibliothek in Wohlgefallen wandle. Das heisst, mir sind aufgrund biographischer Sonderheiten und Freiheiten enge Grenzen gesetzt, um mein philosophisches Programm auszuführen. Das mag wie ein Ausrede klingen, aber so ist das Leben eines freischaffenden Intellektuellen, der erfolgreich das gängige ideologische Korsett abgestreift hat, und dafür einen hohen Preis bezahlt hat. Ich darf auf bezahlte Akademiker hoffen, die mir bei der Ausarbeitung einer wirklichkeitsnahen objektivistischen Ästhetik behilflich sein können. Gute Leute, die meinen generellen Ansatz namens "gemässigter Historizismus" einigermassen verstehen und teilen können, weil sie kulturinteressiert und -beflissen sind, und nicht ausserhalb der Historie lustwandeln. Das wäre auch für die Auseinandersetzung mit Kant wünschenswert, die mich persönlich gar nicht reizt und sogar etwas abstösst (wegen der ganzen gepuderten Künstlichkeit des Unterfangens). Ich setze viel lieber bei der nächsten Generation an, die sich ebenso stark am grossen Goethe orientiert und kulturell viel besser grounded ist: Schelling, Hegel, ferner Fichte, aber sicher auch Schopenhauer. Dann geht es schnell einmal weiter zu Nietzsche und Bergson, von dort am besten zu Peirce und Whitehead, dann sind wir bereit für C. W. Morris und J. M. Lotman. Dieser Kurs bedarf eventuell der Anpassung oder der Erweiterung, vielleicht mit Teilen der Kommunikationstheorie oder so ähnlich. Aber eben, jedem das seine.

    Beispiel einer sinnvollen Theoriebildung

    So, nach der früher betriebenen ideologischen Katharsis "gegen Links und Aufklärung" sind wir bereit, auf kreative und wirklichkeitsnahe Art und Weise, eine Skizze der zu bauenden Theorie zu präsentieren. Wie im ersten Beitrag gesagt, wollen wir ganz nahe am Künstler, Kunstbetrieb oder Kunstprozess theoretisch verstehen, wie der schöpferische Impuls in einem soziokulturellen Kontext "von der Inspiration zur Rezeption" gehen kann. Da ich in Ethik und Politik alles auf dem Begriff des Lernens abstütze (in meinen mündlichen Ausführungen), denke ich, dass wir mit grossem Vorteil den grundlegenden Begriff der Tradition als "Generationen übergreifenden Lernprozess" (intra- und interkulturell) verstehen können und auch sollten. Das heisst, individuelle Künstler und künstlerisch-literarische Richtungen "nehmen von der Vergangenheit und geben der Zukunft", was sie aus der Tradition herausfiltern und anreichern (frei nach Bergson und Whitehead). Ergänzend dazu möchte ich den Begriff der Dialektik voll gelten lassen, denn Hegel kommt sehr nahe an die menschliche Erfahrung heran - besonders an die kollektive, halb-bewusste Erfahrung einer wachsenden Kultur. Dabei steht das übergreifende Ideal (respektive das weltliche Endziel) nicht an erster oder letzter Stelle, sondern es geht mir nur um den fruchtbaren Konflikt der Ideen - um "wilde Energie", die einer zielgerichteten Struktur harrt, die ich Studenten und Interessierten weitergeben möchte. Das scheint mir alles ziemlich ästhetisch und plausibel zu sein, deshalb fahren wir gleich mit Punkt 2 in unserer Theoriebildung fort, mit einer Umschreibung, die nicht ganz unabsichtlich an Sigmund Freud erinnert (wieder das zentrale Thema Konflikt, wie bei Hegel und Marx):

    • objektiver Punkt 1 - kultureller Lernprozess (stehen) 
    • objektiver Punkt 2 - das Individuum in der Kultur (entstehen)
    • objektiver Punkt 3 - das Neue als objektive Erscheinung (herausstehen)

    Für Heidegger-Liebhaber in Deutschland und anderswo (zu denen ich mit Sicherheit nicht gehöre) habe ich die Wortreihe stehen - entstehen - herausstehen erfunden, die einigermassen gut ausdrückt, was ich im Sinne habe, nämlich weitgehende Objektivität, aber kein prinzipieller Anti-Idealismus (wegen Hegel, Coleridge und anderen). Nun, bei Punkt 2 geht es um das Individuum und seinen Umgang mit Werten, Symbolen, Bildern,  Glaubensgehalten, Materialien und Techniken, die ihm von der Tradition, oder allgemein von der "Kultur in der Geschichte" zur Verfügung gestellt werden (etwa die Sonatenform nach Haydn für das Schaffen von Mozart, Techniken und vereinzelte Innovationen im Orgelbau, neue Technologien für junge Wissenschaftler, und ähnliches mehr). Die theoretisch-praktische Achse bei Punkt 2 bildet die Polarität "Konformismus - Innovation" (oder "Antikonformismus"), um das oft übersehene Moment des Konfliktes herauszuheben. Latente und patente Konflikte - das ist, was Realisten jenseits von Gefühl und Gesinnung interessieren dürfte, wenn ich mich nicht irre. Wenn wir Aristoteles und die alten Griechen in Ehren halten, dann wissen wir, dass nicht nur das Kunstprodukt entsteht, sondern der Kunstproduzent selbst, also der Künstler in der Gesellschaft als durchaus objektive und bewertbare Erscheinung. Nach der "Anfangsphase" einer standardisierten - und deshalb relativ sterilen - Ausbildung wird der Künstler (wie immer sind alle Geschlechter gemeint) direkt mit und sogar gegen sein eigenes Schaffen lernen und wachsen: ein überaus intensives Lernerlebnis, das unmittelbar mit dem neurologischen bzw. psychologischen Phänomen der Kreativität zusammenhängt, und deshalb einen interdisziplinären Ansatz verlangt (wie immer, wenn Physik, Psychologie, Linguistik oder andere Fächer hineinspielen). Hochkomplexe Tatsachen lassen sich ohne Interdisziplinarität nicht auf nachhaltige Weise behandeln. Ein Verzicht auf Interdisziplinarität ist theoretische Quacksalberei. Ich persönlich glaube, dass Kreativität nicht als individuelles Wunder, sondern als komplexer sozialer und psychologischer Lernprozess zu verstehen ist. Das Verb "glauben" soll mich hier erstmal von dem Vorwurf der Quacksalberei schützen und lässt das Feld für alternative Auffassung offen (ganz egal, was ich von solchen halten mag).

    Der theoretische Punkt 3 knüpft unmittelbar an Bergson und Whitehead an (ferner an James und Dewey) und fragt nach der Emergenz (Erscheinungen, absichtlich oder unabsichtlich) und folglich nach der objektiven Geltung des Neuen in kulturellen Angelegenheiten - in unserem Zusammenhang vor allem in den überlappenden Bereichen Kunst und Literatur.

    Grenzen einer objektivistischen Ästhetik

    Es scheint mir wichtig, bereits beim Design einer neuen Theorie mutmassliche Grenzen zu sichten. Wenn diese dereinst überschritten werden können, umso besser. Spontan fallen mir zwei Mauerabschnitte ein, die möglicherweise unüberwindbar sein:

    1. Kreativität,
    2. objektive Gütekriterien, 
    3. vermutlich mehr.

    Der Begriff der Kreativität ist ein Stellvertreter oder ein Knotenpunkt. Kreativität ist nicht wie 'Seele' oder 'Bewusstsein' ein traditionelles und phänomenologisches Etwas, das etwas tut oder bewirkt. Kreativität ist ein Regen von Nervenimpulsen, ein Wetter, das sich in günstigen Augenblicken über Denken, Fühlen und über den ganzen Körper ergiesst. Das klingt fantasievoll esoterisch, ist aber philosophisch ernst gemeint. Ich gehe als Laie  mit einigem Selbstvertrauen davon aus, dass wir Kreativität psychologisch und neurologisch erst verstehen, wenn wir 90% der Gehirnfunktionen adäquat verstehen, das heisst - vermutlich nie, jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert. Ich wünsche mir als freiheitlicher Demokrat mit einem sozialen Bewusstsein, dass das menschliche Gehirn ein unbekanntes Gebiet bleibt, denn die Folge eine solchen Wissens wäre Technologie, und die Folge einer solchen Technologie wäre früher oder später eine subtile und perfide High-Tech-Diktatur, vom Grosskapital und von einer gutmenschenartigen linksliberalen Ideologie untermauert und zementiert. Hier brauchen wir eine gigantische Barrikade, so dass menschliche Intelligenz nicht manipuliert oder künstlich erzeugt werden kann, um sie alsdann gegen unliebsame (sprich konservative) politische Gegner zu missbrauchen.

    Dann die schwierige Sache mit den Gütekriterien. Hier sind wir erst für eine ernsthafte Diskussion bereit, wenn wir uns in einer ideologischen Katharsis von moralistischen Vorurteilen reingewaschen haben, was hier der Fall ist. Es geht nicht um "gute" und "schlechte" Menschen und Dinge im Leben, sondern um einen Standard, der so etwas wie einen "Erkenntnisfortschritt" (analog zur Wissenschaft) in künstlerischen Angelegenheiten ermöglichen soll. Nun gibt es hier aber Interferenzen, die eine objektive Begutachtung empfindlich stören:

    1. moralistische Einstellungen aufgrund einer Ideologie (für uns erledigt),
    2. der ganze Kunstmarkt, mit den Verzerrungen, welche autoritäre Staaten und reiche Geldgeber mit ihren Mitteln in den kreativen Betrieb hineinbringen,
    3. vermutlich mehr.

    Das Fazit, das ich hier vorwegnehmen kann, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit so ausfallen (Irrtum nicht ausgeschlossen):

    Kunst, Literatur und Philosophie sind sui generis, was nicht verhindert, dass sich die drei Tätigkeitsfelder des menschlichen Geistes überlappen. Das heisst zunächst, dass es keine interessante Analogie zur Wissenschaft gibt, wenn wir darunter beispielsweise "literarische Tätigkeit ist mehrheitlich eine wissenschaftliche Tätigkeit" verstehen wollten. Also macht es für uns keinen Sinn, von einem irgendwie gearteten "Erkenntnisprogress" zu sprechen, und auch nicht von "Wohltaten für die Gesellschaft" (i.e. sozialer Fortschritt, moderne Wissenschaftsauffassung nach F. Bacon). Eine griechische Tempelruine und die Säulen von Persepolis stehen nicht "unter" mittelalterlichen Gemäuern und Gewölben, ja nicht einmal "unter" alten Weinfässern aus dem 13. Jahrhundert. Alle praktischen und höheren Kunstobjekte haben volle Geltung und bestehen neben, mit und gegen einander. Bei der Goldschmiedekunst ist man sogar versucht zu sagen, dass die antiken Feinschmiede (Kelten, Skythen, Thraker, u.a.) geschickter waren als die modernen, wenn man die jeweiligen Arbeitstechniken ins Zentrum rückt und das nötige Geschick miteinander vergleicht (experimentelle Archäologie). So viel im dritten Teil unseres theoretischen Entwurfes. Fortsetzung folgt.

     

    Das Künstliche an Kunstdiskursen

    Es ist mir hier nicht möglich, viele verschiedene Autoren zu besprechen (dafür müsste ich mich wieder in eine Bibliothek setzen), Kunstkritiker, Philosophen, Schriftsteller und Dichter, seien dies nun Männer in der Vergangenheit oder Frauen in der Gegenwart. Ich werde also auf Goethe, Schiller, Burke, Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Coleridge, Shelley, Tennyson, Pater, Ruskin, Morris, Santayana, Croce, Collingwood, Baudelaire, Dessoir, Lipps und wie sie alle heissen verzichten müssen - aber nicht unbedingt auf John Dewey. Wenn ich mir nach vielen Jahren ein paar Aussagen von Dewey aus "The Experience of Art" (1925) vergegenwärtige, kann ich daran exemplifizieren, was ich mit "Künstlichkeit" und "Sterilität" in der Theorie meine, und was es unbedingt zu vermeiden gilt. Seit Renaissance und Barock wird in Malerei und Musik eifrig theoretisiert und "zulässig" von "unzulässig" geschieden (gut und schlecht).  Das hat uns geprägt. Studenten der Kunst oder der Musik bekomme das Gefühl, dass da Dinge erlaubt und verboten seien, weil die Tradition oder eine gewisse Schule das so verlangt. Ja, Regeln und Konventionen gibt es, und etwas jenseits davon: das Potenzial des Andersartigen und Neuen. Wenn wir ohne Liebe, ohne inniges Verständnis und ohne Empathie Sätze von uns geben, dann klingen sie ungefähr so: "Es ist der Fall, dass...", "Es ist nicht der Fall, dass...", "Nur wenn das der Fall ist, kann man sagen, dass..." und ähnliche mehr. Wenn dann ein armer Künstler (oder eine arme Künstlerin) diesen "Fällen" nicht entspricht, ist anzunehmen, dass er "kein richtiger" Künstler ist, oder umgekehrt - dass die Theorie nichts taugt. Bei Dewey und seinen Zeitgenossen ist zunächst zu beachten, dass sie unmittelbar nach der Romantik studieren, lesen und schreiben, und teilweise noch von dieser abhängen (was nicht schlecht ist), andererseits, dass das unsterbliche Erbe aristotelischer Denkweisen bei postromantischen Philosophen wie Bergson, Dewey und Whitehead wieder vermehrt zum Vorschein kommt (was auch nicht schlecht ist). Diese Denker sehen keinen Gegensatz zwischen Idealität und Realität, denn der menschliche Geist steht ja auch nicht "gegen" die natürliche Umwelt, sondern "mit" dieser, und vielleicht "nach" ihr, wenn von zivilisatorischen Leistungen die Rede ist (wozu auch die Kunst gehört). Diese im Prinzip richtige Auffassung wird gegenwärtig an westlichen Universitäten unterdrückt, was bedauerlich ist, ihr aber auf Dauer nichts anhaben kann. Freiheit und Intelligenz finden immer einen Ort und einen Weg.

    Als mein Vater 1958 als Gaststudent an der Universität Wien weilte, erstand er das Bändchen "Zeichen und Gestalt. Die Malerei des 20. Jahrhunderts" von Werner Hofmann (Fischer, 1957). Ich schlage es nach über sechzig Jahren auf, und falle auf einen Satz über den Maler und Theoretiker Giorgio Vasari (1511-1574) aus Arezzo, ein jüngerer Zeitgenosse Ariostos. Sein Werk trägt den Titel Vite de' più eccellenti pittori, scultori ed architetti (1550). Was der Autor des Büchleins über die Malerei des 20. Jahrhunderts schreibt, gilt mutatis mutandis auch für Dewey, deshalb darf ich hier zitieren (Seiten 7-8):

    "Die erste Kunstgeschichte (...) gipfelt nicht im Geschichtsbericht, sondern in der Proklamation eines Lehrsatzes, in dem spekulativen Bemühen, die künstlerischen Ziele des Zeitalters mit dem Rang ewig gültiger Normen zu versehen."

    Die "ewig gültigen Normen" sind in unserem Kontext zwar übertrieben, aber Dewey dekretiert da und dort doch ziemlich gefühllos, wenn ich so sagen darf. Da heisst es etwa, dass "Erfahrung" genau dies und jenes bedeute und eine bestimmte Form habe, wobei Deweys Worte interpretationsbedürftig bleiben (wie das auch bei James und Bradley nicht anders ist). Als würde ich sagen: "Schönes Wetter ist genau dann präsent, wenn wir keine Regenschirme brauchen." Das klingt zwar praktisch und pragmatisch - man lässt sich gerne von so einer Aussage davontragen -, aber über Wetterlagen und Spaziergänger erfahren wir dabei herzlich wenig. Dann wird behauptet, es gäbe zwei falsche Ansichten: dass der Künstler (die Künstlerin) nicht rein emotional an das zu schaffende Werk herangehe (warum denn nicht?), und dass das Kunstwerk nicht abgesondert von seinem Urheber verstanden oder "vollständig gedeutet" werden könne. (1) Nun, ich bin der zweiten Meinung zufällig auch zugetan, nur steht es mir und Dewey nicht zu, einen Interpretationsweg a priori zu blockieren. So sei denn ein Kunstgegenstand "ganz persönlich" oder "ganz öffentlich", wenn das im Rahmen eines theoretischen Entwurfes Sinn macht. Intuitiv würde der informierte Leser eher auf ein "sowohl als auch" tippen, womit ich völlig einverstanden bin. Dann kommen Äusserungen zu "substance and form" (Materie und Form bei Aristoteles), die erneut etwas proklamieren, das den einen oder anderen "wahren" Künstler befremden könnte. Wenn ich hier ganz kurz den fehlenden Gedankengang wiedergeben darf: Es fehlt bei Dewey die wichtige Unterscheidung von "Handwerk" und von "Kreativität" (nehmen wir einmal diese beiden Ausdrücke). "Handwerk" bedeutet "sich die Finger schmutzig machen", also die Beherrschung des Materials unter all seiner Aspekte, gegen Widerstände aller Art, wogegen "Kreativität" viel mehr idealistisch zu verstehen ist: die Überformung von Formen, die Neudefinition von Definitionen, das "neue Fühlen" gängiger Eindrücke und Motive (fast wie eine elementare Whitehead'sche prehension), die Konzipierung neuer Leitideen anhand des Bekannten. (2) Nicht ganz ohne ist auch die Unterscheidung von intrinsischen und extrinsischen Eigenschaften in einem philosophiehistorischen Kontext, der stark die Subjet/Objekt-Relation betont (nach Dewey besonders die Anwendung von Mead in Chicago, vergleiche mit Ayn Rand unten), als Korrektur der vor allem epistemologisch bedeutsamen Subjekt/Objekt-Spaltung, die zu radikalem Skeptizismus einlädt, wenn wir sie nicht zu relativieren, will heissen, sozial einzubetten vermögen. Das ist deshalb kurzsichtig oder zumindest unvollständig, weil diese Denkform im Substanz/Attribut-Modus uns vergessen lässt, dass vielleicht etwas "auf dem Weg" vom Gegenstand zum Bewusstsein passieren könnte. Anders gesagt, dass Wert, Bedeutung und Gefühl das Resultat einer Interaktion sind, analog zur Interaktion zwischen Mitgliedern einer sozialen Gruppe. Egal, wie man sich genau ausdrückt, oder welche Linie man verfolgen möchte, es wird schnell klar, dass ein Philosoph wie Dewey sich nicht auf das Substanz/Attribut-Schema stützen sollte, wenn er eigentlich Relationen und Transaktionen im Auge hat. Damit ist nicht gesagt, dass es überhaupt keine intrinsischen und extrinsischen Eigenschaften geben könnte. Diese Diskussion führen wir hier nicht. Grundsätzlich bin ich nicht gegen Platon und Aristoteles eingestellt, wie interessierte Leser wohl gemerkt haben.

    Subjektiv und objektiv. Was ist der Unterschied dieser Wortverwendung zu unserem "objektivistischen" ästhetischen Experiment in diesem Blog? Nun, das Adjektiv "objektivistisch" bezieht sich zunächst auf einen mehrschichtigen, gesellschaftlichen Prozess (Kunstvorgang, ein Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit), der sich als Entwicklung ansehen lässt, wenn man überzeugt ist, dass Künstler und Publikum über die Jahrhunderte immer "reifer" und "anspruchsvoller" werden. Das ist nicht völlig auszuschliessen, bleibt jedoch zweifelhaft, selbst wenn wir uns in einer solchen evolutiven Sichtweise nur auf eine ganz dünne Elite Kunstbeflissener einengen (respektive jene, die sich den Kunstgenuss leisten können). 

    Ein paar Worte zu Ayn Rand, die mir das Wort "objektivistisch" ins Ohr gesetzt hat. Ihre philosophische Einstellung entspricht ganz dem Zeitgeist des 20. Jahrhunderts vor dem Zusammenbruch Europas: Naturalismus, Liberalismus und die Betonung der Subjekt/Objekt-Relation in der Wahrnehmung der Umwelt (nicht isolierte Substanzen, Betonung der Praxis). Ein Vergleich mit der liberalen Schweizer Philosophin Jeanne Hersch wäre sicher sehr interessant, zumal beide Frauen aus Osteuropa stammen (Russland und Litauen). Wenn ich Rands Unterscheidung in eine pseudo-hegelianische Sprache übersetze, können wir besser zwei isolierte Entitäten und eine Verbindung unterscheiden (es wird eine Perspektive eingenommen):

    1. ein Ding für sich selbst genommen (intrinsic)
    2. ich für mich selbst genommen (subjective)
    3. das Ding für mich als Relation (objective)   

    Der Gedanke leuchtet unmittelbar ein: wenn Kants manieristische Erkenntnistheorie mit (i) ihre engen Grenzen fand und uns einen anstrengenden leap of faith abverlangte, dann postulieren die amerikanischen Pragmatisten, und im Anschluss an diese der bewundernswerte Alfred North Whitehead (iii) als Gegenmittel zum prekären "Ding an sich". Meine Verwendung von "objektiv" (oder besser "objektivistisch", wenn es um die Theorie geht), ist historisch und gesellschaftlich zu verstehen, keinesfalls aufklärerisch-individualistisch. Der Individualismus ist eine nützliche Illusion, so wie der freie Wille in einem spannungs- und bedürfnislosen Umfeld (was es nicht gibt). Somit übersetze ich (iii) für unsere Zwecke mit "die verschiedenen Aspekte der Kunst für uns", wobei "wir" die historische Population einer grösseren Region sind. Ich denke da vor allem an Europa & Russland, und Europa & Nordamerika, aber auch an China & Japan. Punkt (iii) soll global "Kunstprozess" heissen: von der ersten Lernerfahrung des angehenden Künstlers bis zur Kommerzialisierung seiner Kunst. Richtig so, aber ich möchte das noch anders fassen. Individuum und Gesellschaft spiegeln sich ineinander. Die Dialektik von Partikularität und Generalität ist eine Realität, die durchaus platonisch gedeutet werden könnte, aber eben mit starker Neigung zu Aristoteles hin (eine tolerante säkulare Einstellung). So auch mit der Kunst: Kunst drückt das Individuum und seine kulturelle und natürliche Umwelt aus. In diesem Sinne ist "Kunstprozess" ein Ausdruck von Menschlichkeit, oder eher, von "Menschentum", jedoch ohne die moralische Einschränkung "Gut-" davor, welche wirklichkeitsfremd ist. Die Totalität von etwas gibt es in unserem kollektiven Erfahrungshorizont nicht, aber es ist notwendig, sie als eine Idealvorstellung im Hintergrund stehen zu lassen. Was gleich nach der Totalität folgt, ist Komplexität, und auf diese haben wir es als gemässigte Realisten und Historizisten abgesehen.

    Nochmals zurück zu John Dewey. Bei ihm wird grundsätzlich gesagt, dass es da eine allgemeine Erfahrung gäbe, die sich in der Art der Prozessphilosophie (bis in die Zwischenkriegszeit) als Flux mit einem Telos definieren lasse, und dass diese Erfahrung im Falle der Kunst im von Künstler und Kunstfreund geteilt wird, also im Kern dieselbe ist (eine platonisch-aristotelische Grundannahme: das direkte Erfassen oder Wiedererkennen aufgrund von Kongruenz). Das scheint ein logischer Spurt zu einem einheitlichen Erfahrungsbegriff zu sein, der meines Erachtens das Ziel verfehlt. Die Frage ist nicht, ob der Sender und der Empfänger im Vorgang namens "Kunstvermittlung" oder "Kunstgenuss" dasselbe denken oder fühlen, sondern ob der Urheber dem Konsumenten "irgendwie" etwas mitgeben kann, das für ihn möglicherweise nicht an vorderster Stelle im Schaffensvorgang stand. Wenn wir die Verwendung moderner Sprachen als Metapher heranziehen, würden wir diese Frage im Extremfall so formulieren: "Wie kann ein Mensch aus dem Kulturkreis Q einen Menschen aus dem Kulturkreis R verstehen, wenn ihm nur die Übersetzung eines Originaltextes gezeigt wird ... und ihn vielleicht mehrere Generationen vom Urheber eines Werkes trennen?" Also wenn die komplexe, langjährige Primärerfahrung fehlt: Talent, Ausbildung, Berufserfahrung, aber auch das erregende Erlebnis des herrschenden Zeitgeistes in Künstler- und Literatenkreisen (übrigens auch Selbstzweifel und Schaffenskrisen). Wir dürfen instinktiv eine Antwort erwarten, die in etwa das sagen will: "Wer kein Künstler ist, kann nicht bewusst den Standpunkt eines Künstlers einnehmen. Ergo ist das Kunsterlebnis für einen Kunstliebhaber ein anderes als für viele ausführende Künstler." Wir vermeiden Allaussagen, da es immer Ausnahmen geben kann. Deweys Einheitserfahrung ist für uns vom Tisch. Dieser Erfahrungsbegriff wurde künstlich geschaffen und gehorcht einer anderen, eher literarischen Logik, nicht dem impulsiven und zuweilen widersprüchlichen Antrieb von Kunstbeteiligten. Es gibt nicht nur eine Lust an der Kunst, es gibt deren mindestens zwei. Und eine "Kunstlogik" gibt es so nicht. Es gibt nur actio und reactio, und starke und schwache Kriterien für Regeln in der Kunst. Pragmatismus in allen Ehren, aber manchmal ist es besser, das Vergangene abzustreifen. 

    Einen Punkt dürfen wir dennoch bei Dewey hervorheben. Er vergleicht die Kunst zwar mit der Sprache (ich würde eher von Sender, Empfänger und Kode sprechen), schreibt aber auch, dass die Semantik der Kunst nicht verbal sei, also keine verborgene Umwandlung vom Verbalen zum Nonverbalen stattfindet. Wenn ich als Künstler einer Intuition folge, einem Gefühl oder einer Vorstellung, dann bin ich mir nicht eines insgeheim herrschenden "unbewussten Textes" in meinem Geist bewusst. Es ist die ganze Person, die schöpferisch wirkt, und der sprachliche Ausdruck (Kommunikation) ist nur ein Aspekt unter vielen. Für uns ist das insofern bedeutsam, dass wir über Kunst und Kreativität ins Reich des Denkens vorstossen und dank der Kunst sagen dürfen, dass Denken und Sprachverwendung eben nicht deckungsgleich sind. Zu so einer Behauptung kann jemand nur gelangen, der kein Gefühl für die künstlerische Produktion hat. Auch wenn wir keine östlichen Mystiker sind, so kann man doch von Mystikern grundsätzlich etwas lernen. Denn sie sagen uns einhellig, dass das Grübeln und das Darum-herum-Beschreiben erst nach der persönlichen Erfahrung stattfindet, nicht vor oder während. Es sind immer nachträgliche Interpretationen, welche die mystische Erfahrung zu vermitteln suchen. Analog verhält es sich ja auch in der Theorie, sofern sie nicht Prognosen zum Ziel haben: zuerst die Fakten, dann mögliche Thesen dazu (so auch Hegel über sein eigenes System). Tatsachen sind einfach schneller. (3) 

    Das Natürliche an unserem Ansatz

    Hier entsteht eine Theorie sozusagen vor laufenden Kameras. Die neuen Medien machen dies möglich, und die Macher dieses Portals, denen mein Dank gebührt. Mein Ziel ist, auf eine allgemeine philosophische Weise eine umfassende Erklärung des gesamten Kunstvorgangs zu geben. Ein Ansatz fernab von Instituten und Bibliotheken, der mittelfristig "konkurrenzfähig" sein soll. (Ob mir das gelingen wird, weiss noch niemand, aber der Versuch ist es Wert.) Es soll nicht dekretiert werden, was einem gewissen Gefühl und einer gewissen Gesinnung entspricht (von mir kurz "Gutmenschentum" genannt), denn das würde unseren objektivistischen Versuch von vornherein zerstören. Ästhetik ohne Ethik also, und auch ohne Logik, falls das abstrakte Denken der Kreativität zu enge Schranken setzt. Form und Technik sind schön und gut, aber es kann in der Kunst nicht darum gehen, einfach nur Formen und Techniken zu perpetuieren. Dazu fehlt ein Programm, das überzeugt. Konservativismus ist verständlich, aber nicht unbedingt als Stillstand (oder gar als Rückstand) zu begreifen. Das totale Gegenprogramm wäre Chaos und Anarchismus. Das heisst wenigstens auf dem Papier, dass ein reaktionärer Konservativismus vermutlich ein solches Gegenprogramm verhindern möchte. Aber solche extremen Positionen entsprechen nicht der lebendigen Wirklichkeit. Sie sind Abstraktionen, mit denen sich hypothetisch argumentieren lässt. Da hier live Denkarbeit geboten wird, ist es unvermeidlich, dass wiederholt und vorweggenommen, postuliert und wieder annulliert wird. Unser Konstrukt wird solange geschoben und gebogen, bis es der Witterung und der menschlichen Willkür standhält. Bis jetzt sind wir recht gut gefahren, aber es mag sein, dass wir unser Programm noch ein wenig schärfer präsentieren sollten.

    Wir haben es mit idealer Ästhetik und mit konkreter Kunstproduktion zu tun, dann auch mit einem Verständnis von "objektiv" und "subjektiv", das ganze in einer geschlossenen historischen Perspektive ohne evolutionistisch-moralistische Obertöne. Das Objektive ist das, was ein Historiker, ein Kunst- und Literaturkritiker, ein Soziologe und ein Ökonom verstehen, beschreiben und deuten kann, sei dies nun in Europa, in Russland, in Korea oder in Kanada: der ganze Kunstbetrieb abhängig vom Kunstmarkt und von den allgemeinen Bedingungen eines Landes oder einer Zeit. Hier gibt es kein "gut" und kein "schlecht", sondern lediglich "was passiert" und "was das bedeuten mag" und "warum jetzt nicht anders", wenn wir ein wenig tiefer gehen. "Objektivistisch" ist somit ein Ausdruck einer geisteswissenschaftlichen Haltung, die ich als "gemässigter Historizismus" verstehen möchte: ein gut informiertes, kritisches Geschichtsverständnis (welches einer ständigen Selbstreflexion bedarf, deshalb "gemässigt") und die konsequente Kritik am pseudowissenschaftlichen Ahistorismus in den Geisteswissenschaften. (Letztlich geht es um die prinzipielle Trennung von geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Methoden, was Interdisziplinarität nicht ausschliesst, und auch qualitatives Forschen zulässt.) Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man die individuelle Privatsphäre gänzlich vom öffentlichen Leben trennen. Diese Konzepte klingen echt, sind jedoch abstrakte Folien zum Zwecke der Argumentation. Es gibt kein "privat" und "publik" in dem Sinn, dass das eine sich vom anderen radikal unterscheiden würde. Der Irrglaube aus der Aufklärung, bestärkt durch die Fragmentierung der Einzelperson in der digitalen Masse, die ein soziales Übel ist und kein Beweis für die Richtigkeit postmoderner Ansichten. Wenn solche zutreffen sollten, dann ist das Zufall. Besser hören wir auf die antiken Philosophen, die grossen Sophisten mit eingeschlossen. Stellenweise sind auch Texte der drei Buchreligionen dem gutmütigen Aufklärungsdenken vorzuziehen. Wir wollen Echtheit, Authentizität, Historizität und Dramatik, keine Rezepte wie "gute" Menschen "schlechte" Menschen entweder "zur Vernunft bringen" oder die Uneinsichtigen einfach unsichtbar machen können (Exklusion aufgrund ideologischer Differenzen). Freilich ist diese Einstellung ein Merkmal aller Religionen, aber eine Religion darf nun mal das sein, was sie ist (auch der Glaube an die Vernunft). Darob brauchen wir uns nicht zu erhitzen. Abseits von sakralen Texten und Praktiken darf ein eigenständiger säkularer Weg gesucht werden, der wo immer möglich parareligiöse Denkarten zu überwinden sucht. Eine Ersatzreligion ist ein schlechter Ersatz für Religion, und das Entsprechende für Ersatzphilosophien (siehe mein Post-Interview zu Rorty auf diesem Portal, 11. März 2019). 

    Hegel, Peirce, Bergson

    Wenn wir mit Josiah Royce von einem Sein und Sollen sprechen (the is, the ought), dann können wir Hegels Grundgedanken einfach so fassen, dass einem unvollkommenen Sein als Ergänzung ein Sollen entgegentritt, welches das Sein zu mehr Fülle und Vollkommenheit führen kann, was bei Hegel dann die Synthese zum vorläufigen Anundfürsichseienden ist, also die bessere Definition des Seins durch ein Sollen, durch eine Norm oder einen Logos (mein Satz in Anführungs- und Schlussstrichen ist zunächst metaphorisch zu verstehen). So erkläre ich Hegels Dialektik: als Verwirklichung von Potenzialen und als konservativer Glaube an den Fortschritt. 

    Dem Sein und Sollen entsprechen bei Pierce - rein formal betrachtet - die Erstheit und die Zweitheit, der Synthese die Drittheit (man vergegenwärtige sich das semiotische Dreieck). Formal gibt es eine Entsprechung, aber inhaltlich hält sich Pierce mehr an Aristoteles' Arbeit/Werk-Modell, das ja auch noch für Whitehead fundamental ist. Das formulieren wir so: Es gibt eine zu realisierende Form (Thirdness), welche vom Urheber (Firstness) ins Material (Secondness) übertragen werden soll, und dies gegen Widerstand jeder Art. Im Zeichenprozess, der den Kunstbetrachter miteinschliesst, geht es dann darum, die Drittheit zu vermitteln (das ästhetische Ziel). Das gemeinsame Dritte (die Essenz) soll erkannt werden und in gewissen Lebenszusammenhängen eine soziale Wirkung hervorbringen. (Das klingt fast nach neuscholastischer Ethik. Besonders wenn wir dabei an die Trinität denken, mit dem Heiligen Geist als Drittheit.)

    Bei Bergson geht es im Wesentlichen um die Emergenz des Neuen, also um Kreativität (kosmisch, natürlich, menschlich, abgesehen von Gott). Im Anschluss an den grossen Epikur lässt sich das Neue als zufällige Abweichung vom Alten verstehen (Devianz von einer trägen Fallbewegung), wobei Bergson den Zufall der antiken Atomisten mit einem spätromantischen und neuaristotelischen Lebens- und Ausdrucksdrang (élan vital) ersetzt, was uns zupass kommt. Mit Bergson liesse sich übrigens auch einen Rückbezug zu Schelling machen, und noch mehr zu Goethe. Vielleicht sollte man auch Schopenhauer und Nietzsche in diese Schau einbeziehen, aber es ist mir noch nicht klar, welchen neuen Aspekt die beiden einbringen würden. Ein eigenes Kapitel zum "Willen der Kunst" oder "des Künstlers" benötigen wir nicht. In der nächsten Folge unserer objektivistischen  Theoriebildung wird es viel eher um drei grundlegende Motivationsarten von Künstlern gehen. Mit Hegel, Peirce und Bergson bauen wir am gleichen Tempel, obwohl wir es mit drei sehr unterschiedlichen philosophischen Temperamenten zu tun haben. Wie weit ich diesen Ansatz mit meinen beschränkten Mitteln ausarbeiten kann, wird sich weisen. in der nächsten Folge dieser objektivistischen Ästhetik geht es um die Motivation des Künstlers und um das Verhältnis von Künstler und Kunstwerk.

    Die Definition von Ames

    Kunst ist weder Gefühl noch Gesinnung, wenigstens nicht wesentlich so. Kunst ist Mensch, und Mensch ist Gesellschaft, genauer "komplexe Gesellschaft": komplexe Ursachen und komplexe Wirkungen, die langfristig nicht von einzelnen gesteuert werden können. Mit der Kunst blicken wir auf uns selbst, wir betreiben also kein Hobby für gelangweilte Büromenschen. Kunst ist kein Luxus, vielmehr gehört sie zum Allgemeinwohl, sowohl politisch als Ausnützung der Freiheit, als auch medizinisch, als Entfaltung von Kräften, die gute und schlechte Wege nehmen können. (4)

    Weiter oben durfte ich in einem Satz meinen Vater Dr. med. Hubert Roggo erwähnen. Das Schicksal will es, dass ich ihm alles - oder fast alles - im Leben verdanke. So auch meinen Ansatz in der Ästhetik, der primär auf eigenen Erfahrungen in jungen Jahren beruht, dann aber schnell einmal eine soziologische Prägung erhielt. Der amerikanische Philosoph und Ästhetiker Van Meter Ames (1898-1985) ist mir bereits bei meinen Doktorstudien zu James und Whitehead begegnet. Ich freue mich, dass ich seine Definition von Ästhetik hier anführen darf, denn sie steht in dessen Artikel zum Thema in jener amerikanischen Enzyklopädie, welche mein Vater nicht zuletzt auch für mich angeschafft hat. (5) Nach Ames ist Ästhetik das Studium ...

    " (...) of what is involved in the creation, appreciation, and criticism of art; in the relation of art to other human activities and interests; and in the changing role of art in a changing world." 

    Hier sind wir auf eine treffende Definition gestossen, die zufällig ganz meiner Denkweise entspricht. Das eine Schlüsselwort ist "relation" (wie könnten es anders sein?) - eigentlich auch für Dewey, wenn er nur etwas konsequenter gewesen wäre. Relationen zwischen Akteuren in einem gewählten Raum/Zeit-Segment sind insgesamt nichts anderes, als die Gesellschaft und deren Geschichte unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Damit deutet sich an, dass wir den Kulturkompass grundsätzlich richtig lesen: Geschichte / Gesellschaft, sozusagen die Achse Nord / Süd, zu der alles weitere in Beziehung gebracht werden kann, um in der Kultur die Orientierung zu behalten. Das andere Schlüsselwort heisst "change" oder auch "Erneuerung" (meine Wortwahl) im Sinne einer Emergenz des Neuen aus dem Alten heraus, weil "etwas nicht mehr genügte", wie das auch Hegel Peirce, Whitehead und Bergson meinen. Beziehungen / Veränderungen - auch das wieder sehr nahe zum untrennbaren Paar Gesellschaft / Geschichte.

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    (1) Der begabte jüdische Rockmusiker Paul Stanley (*1951) hat irgendwann nach dem Jahr 2000 mit wenig malerischer Vorbildung und in einer schwierigen Phase seines Lebens spontan ein Selbstbildnis geschaffen, das ihm überraschend gut gelungen ist (Pop Art mit expressionistischem Ausdruck). Er selbst gab an einer Ausstellung seiner Werke von sich, dass Kunst "aus dem Bauch" kommen müsse, um den Betrachter zu ergreifen. Das Gefühl spricht zum Gefühl - eigentlich das, was das Wort "Sympathie" bedeutet. Ich habe leider noch keinen Original-Stanley gesehen, wohl aber einige Musikerporträts von Ron Wood von den Rolling Stones, die ebenfalls gut gelungen sind (in Basel, um das Jahr 2005 herum). Die menschliche Kreativität ist eine ganz erstaunliche Sache, die sich nicht mit Geboten und Verboten zügeln lässt. Sie findet immer einen Weg, sei es über das Gefühl oder über das Denken, in guten und in schwierigen Zeiten. Wer Rockmusik nicht mag, kann Paul Stanley in einem Duett mit Sarah Brightman hören, oder als Phantom der Oper 1999 in Toronto.

    (2) Zum meinem Idealismus-Begriff: Obwohl ich mich sehr für Paläontologie und die Geschichte der Evolutionstheorie interessiere, bin ich selbst kein Evolutionist. Es käme mir nie in den Sinn, Kant über Aristoteles, oder Wittgenstein über einen mittelalterlichen Philosophen zu stellen. In keiner Weise. (Wenn schon, dann umgekehrt.) Das heisst, ich darf denken, was ich will und mit wem ich will. Wenn ich mich nun von Bergson - vielleicht auch von Dewey - inspirieren lasse, dann möchte ich den Menschen genau als das geistige Wesen definieren, das sich erinnert und an die Zukunft denken kann. Genau das, vorwärts und rückwärts, mit der Möglichkeit, sich über Generationen hinweg schmale "margins of freedom" zu erkämpfen (wie ich einmal geschrieben habe). Diese Einzigartigkeit hat mit der Dominanz unserer Gehirnfunktionen zu tun (im Vergleich zu anderen Säugetieren), welche fehlende Kraft und Ausdauer leider mehr als nur wettmacht. Vergangenheit und Zukunft sind nicht gegenständlich in der Welt vorhanden, sondern "Dinge und Sachverhalte" (in meinem Jargon "komplexe Tendenzen") verweisen zeichenhaft auf sie. Deshalb der natürliche Übergang vom Idealismus zur Semiotik. So sieht grosso modo meine philosophische Einstellung aus (plus eine männliche Ethik). Es erstaunt mich auch jetzt wieder, mit wie wenig Sätzen man eine Philosophie umreissen kann, wenn mir diese Bemerkung (ohne Eigenlob) erlaubt ist. 

    (3) Es ist gut möglich, dass meine Kritik an bedeutenden Philosophen manchmal etwas rasch daherkommt, und dass man mit viel Liebe und Geduld "noch etwas" finden könnte (etwa bei Dewey oben im Text). Meine Ungeduld hat mit der Sprache zu tun. Die Ironie ist, dass ich hier mit den Analytischen Philosophen konvergiere, selbst wenn ich von deren oberflächlicher Methode herzlich wenig halte. Wenn wir schon in der Sprache gefangen sind, sollen wir uns nicht "noch mehr" in die sterile Zelle der Grammatik einschliessen. Ausbrechen heisst die Losung! Suche, Irrtum und Tragik sind unser Leben. Danach kommt der Tod. Also besser noch ein Bekenntnis zum Existenzialismus. Nun, die Sprache bildet öfters eine unsichtbare Mauer, welche sich nicht leicht umgehen lässt. Und dennoch! Der Koloss Hegel wälzt den Stein der Weisheit hin und her, auf und ab, und verwendet dabei eine gewundene, schwer verständliche Sprache, die man beinahe als "esoterisch" bezeichnen möchte. Ein Wunder, dass Hegel so früh in französischen und russischen Salons diskutiert wurde! Das kann doch nur heissen, dass das Hindernis Sprache umgangen werden kann. Für die meisten bleibt die Mauer jedoch geschlossen, ein Tor zum Passieren zu weit entfernt. Das ist verständlich, nur sollten solche Leute nicht den Ton im Lehrbetrieb angeben.

    (4) Mit "schlechte Wege" meine ich nicht, dass eine linke Gesinnungs- und Gedankenkontrolle vonnöten wäre, sondern dass physiologische Energien sich gleichsam stauen und am falschen Ort entladen können. Ich bin also viel eher ein Anhänger der Tiefenpsychologie als ein Freund linker Weltregierungsvisionen mit China an der Spitze. Da wir es bei allem Menschlichen stets mit sozialen Phänomenen "mit historischer Bedeutung" zu tun haben, darf ich meine bürgerliche Freiheit benutzen und Stellung beziehen. Deshalb ist es mir in jeder Hinsicht erlaubt, mich als gebildeter Europäer im Kulturkampf zu positionieren, der sich im Westen seit meinen frühesten Lebensjahren in der akademischen Welt angebahnt hat, und in der heutigen Zeit einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat - die linke Monokultur wird erstmals durchbrochen. Während Schriftsteller wie Kim Stanley Robinson und Steven Erikson (zwei Romanschriftsteller, die ich bei allen Mängeln persönlich mag) "alte linke", also gemässigt optimistische Positionen einnehmen, wähle ich mit dem verstorbenen Autoren Michael Crichton und mit George R. R. Martin einen informellen "neuen rechten" (gemässigt pessimistischen) Standpunkt, der viel näher an der Tragik der menschlichen Existenz ist als simplistische (linke) Überzeugungen, die im Grunde gute von schlechten Menschen unterscheiden, was völlig uninteressant ist. In der Sprache der grossen Klassiker gesprochen stehe ich Nietzsche heute näher als Marx, sehe aber sehr wohl, dass Karl Marx (auch Herbert Spencer) ein ausgezeichneter Synthetiker des 19. Jahrhunderts war. Nicht genug, ich möchte meine Attitüde noch anders präsentieren, denn hier hat sich offenbar in meiner Seele in den vergangenen Jahren etwas verschoben: Lord Byron reflektiert mein Lebensgefühl mit 50 Jahren viel besser als P. B. Shelley, der mich früher mehr begeisterte; ebenso mit Goethe und Schiller. Ich verehre Schiller, Hölderlin und Shelley, keine Frage, aber ihren Idealismus mag ich heute nicht mehr teilen, was meinem freundschaftlichen Verhältnis zu Hegel und Schelling jedoch keinen Abbruch tut. Die Bedeutung von Coleridge und Wordsworth ist in meinem Leben konstant. Die beiden Dichter wandeln in einer eigenen Sphäre. Zwei Figuren in meinem neukeltischen Roman sind Schatten von Hegel und Coleridge, also sehr weit hinaus verwandt (Akhad der Druide und Kalush der Hohepriester). Siehe meine entsprechende Seite auf Facebook.

    (5) Van Meter Ames (1969), "Aesthetics", in: Collier's Encyclopedia, Vol. 1, S. 181-183. New York: Crowell-Collier Education Corp. 

    Wenn Theorie am Schreibtisch entsteht und nicht im Feld (wie in der empirischen Forschung), verliert sie schnell den Bezug zur Praxis - in unserem Fall zu kreativen Menschen, die mit Ideen, Techniken, Materialien und gesellschaftlichen Grenzen ringen. Es ist immer möglich, dass Theorien ihrer Natur nach wirklichkeitsfern sind, weil zu allgemein. Wie weit ich diesen Ansatz mit meinen beschränkten Mitteln ausarbeiten kann, wird sich weisen. In dieser Folge meiner objektivistischen Ästhetik geht es mir vor allem um die Motivation des Künstlers und um das Verhältnis von Künstler und Kunstwerk. Die von Ayn Rand entlehnte Bezeichnung "objektivistisch" soll die Subjekt/Objekt-Dualität "objektiv" angehen, und zwar in einem soziologischen und sozialpsychologischen Sinn. Dabei geht es auch um Werte und im Vorfeld um Ideologie. Meine Position ist nicht einfach "antisubjektivistisch" und gegen Kant gerichtet (obwohl auch dies), sie ist in einem praktischen Sinn "antisozialistisch" und in einem theoretischen Sinn "antiatomistisch", das heisst: Kulturheroen wie Goethe, Beethoven oder Hegel fallen nicht einfach vom Himmel, sondern sie sind als Individuen ein unerwartetes (zuweilen unwillkommenes) Produkt einer komplexen gesellschaftlichen Situation mit einer widersprüchlichen Geschichte im Hintergrund. Das passende Bild dazu wäre die Blume, die aus dem Schmutz hervorspriesst und allen Widerwärtigkeiten trotzt. Das menschliche Potenzial ist immer da, aber es fehlt meistens an Wille und Kraft. Meine Herangehensweise ist im Prinzip naturalistisch, wobei mein Naturalismus genauer als gesellschaftlicher Realismus verstanden werden sollte. (1)

    Grenzen der künstlerischen Freiheit

    Wir wollen nicht mit einem theoretischen Netz fischen gehen, das nur ein paar wenige "erleuchtete" Fischchen einfängt, ansonsten aber nutzlos im Meer der Weltgeschichte den Strömungen ausgesetzt ist. Nun, was haben wir bis jetzt im Inventar? Was könnten Leitfragen sein, oder Eckpunkte? Abgesehen von einer grundsätzlich historischen (und anti-linken) Einstellung soll hier folgendes vertreten werden: sicher kein Relativismus, keine moralisierende Ethik, keine neue Philosophie (vom Typ "wir wissen nichts aber sagen alles"), keine Gewissheiten, und kein Anspruch auf Vollständigkeit, dafür aber Inspirierendes und Offensichtliches wie:

    • die Motivationen des Künstlers
    • das (wechselnde) Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk
    • Material und technische Möglichkeiten (auch das Können)
    • Normen und Abweichungen davon (Konformismus und Devianz)
    • der Kunstmarkt und Verdienstmöglichkeiten für Künstler
    • Publikum und Kunstkritiker (Anerkennung oder Ablehnung)
    • Verständnis und Missverständnis (auch Erfolg und Misserfolg)

    Abgesehen von der Motivation des Künstlers lassen sich die anderen Aspekte des Kunstvorgangs alle als limitierende Faktoren ansehen, seien diese nun vom Willen, Fleiss und Können der kreativen Person abhängig oder nicht. Also, künstlerischer Flow auf der einen Seite, Hindernisse und Engpässe auf der anderen. Es scheint mir nicht besonders interessant, die Motivation des Künstlers unter limitierende Faktoren zu subsumieren. Theoretisch wäre das mit einer Begründung möglich, aber mein dualistischer Geschmack zieht die Gegenüberstellung Kunst - Nichtkunst allgemein vor (nicht alles ist potenziell Kunst oder Kultur). Das ist wieder eine Entscheidung, die nicht für alle gleich gefällt werden kann. Wenn wir nun Material, Normen, Publikum, Markt und Rezeption unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt betrachten, wird eine ganz allgemeine Frage auftauchen: Was bringt eine solche Diskussion in Gang? Diese erste Formulierung ist noch sehr unpräzis, sie scheint nicht viel zu enthüllen. Wenn wir das neutrale Wort "Diskussion" mit "Urteil" (und dem, was auf ein Urteil folgen mag) ersetzen, lässt sich schon eher sehen, was für eine Energie im Ringen um Anerkennung steckt. Auf den Punkt gebracht, auf den es mir in meinen Beiträgen ankommt: Konflikt ... Konflikt und dessen glückliche oder tragische Überwindung. Aufgang und Niedergang von Individuen, Praktiken, Richtungen, Publikumsvorlieben (Moden), Lehrmeinungen, Markttendenzen, Geldquellen usw. Es geht letztlich um Kreativität und um den Selbsterhalt des Künstlers - das eine fördert oder beschränkt das andere. Wenn der / die Künstlerin aus einem bestimmten Grund das Kunsthandwerk nicht mehr ausführen kann, wird er / sie für den Kunstbetrieb irrelevant. Das liegt auf der Hand, aber es geht uns in diesem Abschnitt eben um eine Theorie und Semiotik der Kunst - alle Phasen des Kunstprozesses als Zeichen "für oder gegen etwas" gelesen. Wir wollen uns Klarheit verschaffen und versuchen deshalb, das "Normale" am Kunstvorgang stilsicher zu formulieren - das, was wir aus Sicht des Künstlers gewärtigen sollten, um etwas Treffendes aussagen zu können. Meine nächste theoretische Entscheidung: Um weiter den Anschluss zu kriegen behaupte ich, dass in unserem speziellen Zusammenhang Konflikte auf "fehlender Zufriedenheit" zurückzuführen sind: Ekel, Irritation, Dissatisfaktion (2), will sagen, soziale und historische Erwartungen, die nicht erfüllt werden, oder ein Konfliktpotenzial, das immer schon da war und jetzt sichtbar wird (als Provokation oder anders). Dissatisfaktion als Zustand drückt sich in Ablehnung als Verhalten aus. Die psychologischen Vehikel, die wir hier entlehnen, sollen aufzeigen, wo eine Kunstsemiotik ansetzen kann, nämlich bei Zeichen (im weiteren Sinne), die einen Zustand "kennzeichnen" und ein Verhalten auslösen. Zeichen sind nicht statische, quasi-ästhetische Phänomene, die in sich selbst ruhen, kontempliert und entsprechend beurteilt werden könnten. Menschliche Kultur ist sozial und eben "menschlich", abhängig, konfliktträchtig, und mit "inneren und äusseren" Intentionen gesättigt (die Unterscheidung intrinsisch / extrinsisch auf Absichten angewendet, nicht auf sehr schwierig zu definierende Werte). Das scheint zunächst klar, aber Menschen sind ganz und gar widersprüchlich (wie Coleridge wusste). Wie ist zum Beispiel zu erklären, dass ein Filmkritiker einen Film lobt, der mir als einigermassen gebildeten Menschen langweilig oder sogar peinlich vorkommt? Gleiches für auffällig angepriesene zeitgenössische Literatur, die mir manchmal nur Beziehungskisten mit eingestreuten Obszönitäten zu sein scheint, oder noch schlimmer: ein genre-übergreifendes Mischmasch von halben Figuren, halben Geschichten und losen Enden, die sich nicht spielerisch verknüpfen lassen, da wegen postmoderner Ermüdung das Spielerische erlahmt und eine Handlung nur noch "den Anschein einer Handlung" zu sein vorgibt - warme Luft für avantgardistische Geister. Nun ein Blick ins turbulente Künstlerleben!

    Die Motivation des Künstlers 

    In diesem Abschnitt werde ich versuchen, die Sicht des Künstlers einzunehmen. Ich möchte vorausschicken, dass ich dem Common Sense folge ohne in Sachen Philosophie "sehr englisch" und "sehr antideutsch" zu sein. Mit einem Lächeln nehme ich zur Kenntnis, dass die Briten eben das Rad ein zweites Mal erfinden müssen, um damit zufrieden zu sein (zum Beispiel Idealismus ohne Dialektik, oder Sprachphilosophie ohne Syntax). Davon habe ich mich bei aller Sympathie zu England und zum englischen 19. Jahrhundert nie beeindrucken lassen. Angenommen, es gibt eine Subjekt/Objekt-Trennung und eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre (pragmatisch notwendig, aber unzutreffend), dann möchte ich mit den amerikanischen Pragmatisten (plus A. N. Whitehead und A. Rand) die Relation von Subjekt und Objekt "objektiv" verstehen  (objektivistischer Zugang). Objekt kann alles sein: das Material, die Technik, die Tradition, geltende Normen in Kunst, Geschäft und Moral, das Publikum, die Kunstkritik, die Biographie des Künstlers insofern er / sie sich von persönlichen Erlebnissen inspirieren lässt (Gefühle, Träume und Vorstellungen). Das Neue als Gegenstand kann kein Objekt sein bevor es im Schaffensakt entsteht, wohl aber das Gefühl und der Gedanke des Aufbruchs, des Ausbrechens und Experimentierens (das Konzept ist ein Objekt). Es gibt demnach Objekte, die eher ein Ding sind (auch soziale Tatsachen), und andere, die eher einer Idee entsprechen. Das war zu erwarten, aber es schadet nicht, sich erneut Klarheit darüber zu verschaffen. Platons Ideenlehre lässt verschiedene Anwendungen zu, man braucht sie nur an den Kontext anzupassen. Nun denn, es scheint, das Künstler mehr oder weniger introvertiert / extrovertiert sind und abgesehen von materiellen Interessen mehr oder weniger emotionale Motivationen haben. Ich sehe drei Arten der Motivation:     

     

    I   - Genuss / Schaffensdrang / Ehrgeiz (aktives Erleben)

     

    II  - Leiden / Autotherapie / Selbstfindung (passives Erleben) 

     

    III - Denken / Überzeugung / Sendungsbewusstsein (geistiges Erleben) 

     

    Zum Vergleich mögliche Motivationen des Betrachters: Genuss, Ablenkung, Bildung, Kunstgeschäft, Schmuck am Arbeitsplatz, Suche nach Prestigeobjekten um sozialen Status zu markieren. Vielleicht auch Langeweile und andere unerfreuliche Gründe. Die Frage, warum es überhaupt "Verwender" von Kunsterzeugnissen gibt, deckt sich praktisch mit der Frage, warum es so etwas wie Kunst gibt.

    Nicht alles ist Kunst

    Es liesse sich lässig sagen, dass ja alle Menschen so motiviert sind wie Künstler. Vermutlich würde das dann gleich zum Anlass genommen, aus einem falschen Gefühl der Gerechtigkeit heraus alle Mitglieder der Gesellschaft als "potenzielle Künstler" (Literaten, Intellektuelle) zu betiteln und ihnen solche Rechte automatisch zuzusprechen. Wer es nicht schafft, ist Opfer der Gesellschaft, ganz einfach. Blicken wir zurück! William Morris, John Dewey und andere Linksintellektuelle haben zu ihrer Zeit versucht, von einer durchwegs erbaulichen, aber für Dritte opaken "konkreten Erfahrung" aus die Kunsterfahrung theoretisch zu begründen. Die allgemeine Auffassung war, dass etwas Hohes auf etwas Tiefem ruhen muss, um wirklich zu sein. Dabei wurde der Begriff der Kunst so auf Lebenswelt und Durchschnittsbürger (Mann oder Frau) überdehnt, dass jeder Mensch "potenziell ein Künstler" genannt werden kann. Von meinem Standpunkt aus gesehen, muss diese falsche Demokratisierung der Kunst abgelehnt werden. Wenn alles da oben "Wolke" genannt wird, weiss man am Ende des Tages nicht mehr, wie man über den blauen Himmel sprechen soll. Die Ästhetik des Alltags ist selbst nicht Kunst, sondern eine hübsche Art, sich einzurichten und Ordnung in sein Leben zu bringen. Das ganze Leben ist eine Kunst oder ein Kampf, aber das sind metaphorische Sprechweisen. Umgebungen, Gebrauchsgegenstände, Natureindrücke, Wünsche, Ängste oder was auch immer sind vielleicht Anlässe für das Erinnern, Denken, Deuten und Schaffen, aber nicht bereits Kunst. Denn Kunst ist wie alle Kultur eine Umwandlung von etwas in etwas anderes - von etwas Negativem in der Natur zu etwas Positiven in der Kultur (nicht moralisch gemeint). Ohne Natur formuliert gibt es in einer Gesellschaft Potenziale in Kunst und Wissenschaft, die verwirklicht werden oder nicht (potenzielle Künstler und Gelehrte). Was als "schön", "wertvoll" oder "heilig" gilt, ist Konvention (nicht Natur). Etwas ist schön, weil es die Tradition so will. Es verwundert nicht, dass ein Ausbruch aus dem Bekannten gerne als Provokation - oder einfach als "hässlich" - angesehen wird. Es erhebt sich die Frage, wie sich etwas Neues im Kunstbetrieb überhaupt etablieren kann, und an was dieses Neue zu erkennen gibt, dass es mehr als eine Schrulle oder eine Mode ist. Wie kann ein Zeichen seine Wertigkeit umkehren und plötzlich positive Reaktionen auslösen? Das Zeichen bleibt objektiv betrachtet das gleiche, aber Sender und Empfänger werten und verwenden es anders. Dies tun sie deshalb, weil sich etwas in der Rezeption verändert hat. Entweder weil Werte "umgewertet" werden (wie in unserer Zeit), oder weil das Kunstprodukt einer anderen Kategorie zugerechnet wird, und damit auch andere Erwartungen erfüllen kann. Umwertungen vom Negativen ins Positive seit dem späten 19. Jahrhundert sind zum Beispiel leere Fingerfertigkeit bei Virtuosen oder dumpfe Provokation bei Literaten und Philosophen (allgemein eine ideologische Einstellung bei heutigen Akademikern). Früher hat man sich mit solchen Attitüden den Ruf ruiniert, heute gelten solche Sachen als normal. Dieses Adjektiv deutet schon darauf hin, dass sich Normen (Konventionen) ändern, und zwar als Aspekt des allgemeinen sozialen Wandels. Veränderungen in der Gesellschaft müssen nicht im Sinne der Tradition "wertgeleitet" und wünschenswert, sondern sie werden primär durch Geld und Einfluss generiert oder künstlich verstärkt. Geld und Einfluss greifen dort, wo menschliche Bedürfnisse im Spiel sind, wo mit Bedürfnissen gespielt werden kann. Das wären einmal die Machtmittel. Dazu kommt die Rückseite der Demokratie, die mit der Masse rechnet, aber nicht mit der Bildung der Masse rechnen kann. Das Volk besteht halt nicht aus Künstlern und Intellektuellen, die alle das Gute verstehen und dieses auch wirklich wollen. Aufrichtige und tüchtige Künstler und Intellektuelle sind eine verschwindend kleine Minderheit. Bildung und Demokratie gehören zusammen, aber die Zukunft dieser Art der politischen Organisation ist sehr ungewiss.

    Satisfaktion / Dissatisfaktion

    Wir gehen von zwei Extremfällen aus, bei denen hinsichtlich Erwartungen Zufriedenheit oder Unzufriedenheit vorherrscht (Satisfaktion oder Dissatisfaktion in meiner Terminologie). Dies tun wir nach dem allgemeinen Schema Harmonie / Konflikt, wobei wir ebenso gut von einer erfolgreichen oder erfolglosen Übermittlung einer Botschaft (oder künstlerischen Absicht) sprechen könnten, was näher bei der Semiotik ist. In diesem Sinne nennen wir die Akteure "Sender", "Empfänger" und der anonyme "Zeitgeist", der als Gefäss für Werte, Normen und Vorurteile auch eine Ursache ist. Wir nehmen wieder die Perspektive des Künstlers ein, denn er / sie ist Anfang und Ende der gelebten Kreativität, zwar nicht der Voraussetzungen der Kunst, aber der Ausführung dessen, was im Brennpunkt seiner / ihrer Inspiration als erstrebenswert und möglich erscheint. Wir wollen, wie gesagt, von zwei Idealfällen ausgehen, um zum interessanten Fall zu gelangen, der als Konflikt gelebt wird.

     

    Fall 1 - Alles passt - tout va bien - also (SSSSS): 

    Künstler (S) - Techniken und Materialen ermöglichen das Kunstwerk (S) - 

    Kunstliebhaber (S) - Schulmeinung (S) - Kunstmarkt (S) 

     

    Fall 2 - Nichts geht mehr - rien ne va plus - also (DDDDD):

    Künstler (D) - Techniken und Materialen ermöglichen das Kunstwerk (D) - 

    Kunstliebhaber (D) - Schulmeinung (D) - Kunstmarkt (D)

     

    gemischter Fall - Jener, der uns am meisten interessiert (SSDDD):

    Künstler (S) - Techniken und Materialen ermöglichen das Kunstwerk (S) - 

    Kunstliebhaber (D) - Schulmeinung (D) - Kunstmarkt (D)

     

    Zur "Schulmeinung" gehören Kunstkritik und Kunsthistorie: wie das gebildete Verdikt in einer bestimmten Epoche ausfällt (S oder D), dies mit dem Verweis, dass sich die Haltung der Kritiker / Historiker mit der Zeit wandeln kann. Analog zur Politik lassen sich "konservative" und vermeintlich "zukunftsgerichtete" Gruppen von Kunstbeteiligten ausmachen, typisch in der Musik des 19. Jahrhunderts. Wir gehen gleich zum wirklichkeitsnahen Fall (SSDDD). Das Neue erscheint, wird bekämpft, ausgeschlossen, sinnentleert, lächerlich gemacht - der Künstler und sein Werk. Inklusion und Exklusion. Konflikt und dessen Überwindung. Wie ist so etwas denkbar? Klar, man kann sich diese Situation gut vorstellen, aber wie ist sie theoretisch sauber zu fassen? Denn die Frage nach dem Neuen, nach dessen objektiver Emergenz und dessen Anerkennung als künstlerische Leistung ist keine einfache. Wie erklären wir, dass ein hervorragender Künstler die Situation (SSDDD) gewärtigen muss, und ein Kunsthändler hundert Jahre nach seinem Wirken einen Markt bedienen kann, der sich in Bezug auf seine Kunst theoretisch gesprochen zu (SSSSS) gewandelt hat? Was hat den Meinungsumschwung verursacht oder begünstigt? Wie steht es mit Urteilen und Kompetenzen? Wer kann etwas, wer weiss etwas, wo ist Mode das Geschäft? Die Kunstkritiker machen das Wetter nicht alleine, besonders wenn sie untereinander uneins sind, was neue Kunst, neue Musik und neue Literatur sein kann und sein darf. Und wo wäre in dieser begrifflichen Einrahmung der Platz für die Semiotik? Dieser Frage soll später in Teil VI nachgegangen werden.

    Weiter unten werden wir ein paar Gedanken zur Metaphysik des Neuen notieren. Hier fragen wir wieder nach der Motivation, aber diesmal im Hinblick auf den Drang, Grenzen zu überschreiten und eine eigene künstlerische Identität zu erlangen. Was daraus resultiert, ist das Neue (das neuartige Werk). Wie lässt sich das fassen, wenn eine kreative Person eigene Wege einschlägt, also etwas tut, das nicht direkt erlernt wurde? Nun, es bieten sich mehr psychologische und mehr soziokulturelle Erklärungen an. Der Künstler weicht von einer geltenden Norm, von bekannten Techniken oder vom geläufigen Geschmack ab, weil er / sie ...

    a) provozieren möchte (auf sich aufmerksam machen, Geschäftssinn, manchmal auch einfach Inkompetenz)

    b) weil die letzte Konsequenz es verlangt oder möglich macht, ein künstlerisches Sujet auf die Spitze zu treiben (Perfektionismus)

    c) Spiel- und Experimentierfreude (Prozess vor Produkt)

    d) ein glücklicher Irrtum führt zu einer unbeabsichtigten Innovation (nicht als Folge von Inkompetenz)

    e) eine unglückliche Lebensphase führt zu einer Disruption des Kontinuums der persönlichen Identität, entsprechend Selbstverständnis als Künstler (pathologisch oder nicht)

    f)  weil der künstlerische Ausdruck nicht primär Ausdruck einer Einzelperson ist, sondern einer Antibewegung oder einer Subkultur (alternative Gruppen), mit der sich der Künstler identifiziert

    g) wie beim letzten Punkt, aber in Bezug auf eine Religion oder einen weltlichen Glauben (Ideologie)

    So kann man sich in etwa die subjektive Seite des Künstlerlebens vorstellen. Was zwischen Schaffensimpuls und öffentlicher Unzufriedenheit (Dissatisfaktion) steht, ist der Begriff der Devianz. Devianz ist nicht immer eine Intention und nicht einmal immer eine aktive Handlung. Devianz soll hier allgemein bedeuten, dass der Künstler (absichtlich oder nicht) zu etwas vordringt, das neu, provokativ und von Akademikern und Konformisten meist als "falsch" und "hässlich" aufgefasst und verworfen wird. Historisch gesehen sind das "objektive" Urteile (unter gegebenen Voraussetzungen), denn sie wurden tatsächlich gefällt (sie lassen sich kontextualisieren). Sie sind jedoch nicht "objektivistisch" in dem Sinne, dass sie den ganzen Kunstvorgang subjektiv, intersubjektiv und objektiv nachvollziehen oder gleichsam "abbilden". Es wird eine Perspektive eingenommen - die des Kritikers, die des Historikers, die der Hüter der Moral - und von dieser Warte aus wird dann etwas dargestellt. Man mag das "objektiv" oder "intersubjektiv" nennen, wir haben es jedenfalls nicht mit einer idealtypischen, soziologischen, "superobjektiven" Gesamtschau zu tun, die uns den Hintergrund unseres Kunstverständnisses liefern soll. Einverstanden, Philosophie ist weder Psychologie noch Soziologie, aber Philosophie kann auch nicht eine individualistische Irrlehre sein. Philosophie ist aus meiner Sicht nicht-spezifisches Verstehen von Inhalten und Fragestellungen, für die einzelne Disziplinen zuständig sind und Anschauungsmaterial liefern (etwa Linguistik als Grundlage für Sprachphilosophie, denn das spezialisierte Wissen geht vor). Damit können wir das Grundgerüst des vorliegenden Entwurfes in die Triade Künstler - Devianz - Konflikt fassen, welche das fertige Kunstwerk und dessen Rezeption / Interpretation mit einbezieht: 

    Künstler - (Kunstwerk) - Devianz - (Interpretation) - Konflikt

    Wenn wir in Teil VI den Übergang zur Semiotik schaffen wollen, benötigen wir ein plausibles Gerüst, denn damit wird der theoretische Ansatz sichtbar, den wir nicht aus den Augen verlieren sollten.

    Emergenz des Neuen

    Wenn wir nun ein paar metaphysische Fragen im Umkreis von Kunst und Kreativität stellen, wird deutlich, was wir mit der Kunsttheorie bezwecken und was nicht unser Ziel sein kann. Metaphysik ist sinnvoll und interessant, denn wie alles andere auch, entspringt sie der menschlichen Neugier und Kreativität (Imagination). Es ist möglich - und ich glaube das sogar -, dass sich Fragen nach dem Neuen, nach der Natur der Kreativität "an sich" und nach dem "wahren Wesen" von Werten nicht endgültig beantworten lassen. All das lässt sich am einfachsten in einem wirklichkeitsnahen soziologischen Rahmen beobachten (als Konsequenzen von etwas). Das heisst nicht, dass wir einem Frageverbot folgen müssen, denn ein Frageverbot ist ein Denkverbot oder eine "Mystifikation" von etwas (Whitehead contra Russell / Wittgenstein, wie Studenten wissen). Prinzipiell kann das allgemeine etwas namens "das Neue" entweder absolut oder relativ neu sein. Was kann das sinnvoll heissen? Nun, "absolut neu" setzt eine gewisse Radikalität - ich möchte fast sagen "Entwurzelung" - voraus. "Neu" ist, was nie in dieser Art da war. Wenn ich "absolut neu" verwende, dann tue ich das, weil ich aus luftiger Höhe den Eindruck habe, dass "absolut" und "das Absolute" nicht fundamental verschieden sind, denn es handelt sich zunächst nur um zwei Wortarten. Ich lasse mir da keine Sprachverwirrung unterschieben. Die geschriebene Sprache verwirrt weder mich noch den aufmerksamen Leser, es sei denn, wir beherrschen die Grammatik und die Semantik von Worten und Sätzen nicht (etwa wenn Deutsch eine Fremdsprache ist). Die Frage nach dem Absoluten ist endgültig und positiv nicht beantwortbar, aber ex negativo durchaus interessant und angehbar. Das Absolute ist im Prinzip das, was von nichts anderem abhängt, sagen wir Selbstkonstitution statt Derivation (meine Wortwahl). Damit haben wir auch schon "relativ neu" und "Derivation" oder in Anlehnung an die Genetik "Neukombination" mittels der eine potenzielle Gestalt eine aktuelle Gestalt werden kann (mein freie Verwendung des Wortes). An diesem Punkt berühre ich wieder die Metaphysik von Whitehead (in der Folge von Leibniz, Bergson und anderen, und im Umfeld des Britischen Idealismus). Etwas wird wahrgenommen oder aufgenommen, verarbeitet und zu etwas anderem, zu etwas eigenem prozessiert. Dabei denke ich zuerst an die Genetik, wenn auch Whitehead-Schüler gerne auf die Physik des 20. Jahrhunderts verweisen. Rein theoretisch ist die Überlegung interessant, dass das Absolute - was immer das auch sein mag - nicht der Kausalität unterworfen ist. Metaphysisch gesprochen gibt es keine Relationen (keine Relativität), welche es intern formen, bedingen und motivieren könnten. Das Absolute ist eine Welt für sich. Indirekt können wir die prinzipiell korrekte Variante "absolut neu" verwerfen, wenn wir einen totalen Begriff des Absoluten voraussetzen. Das sollte man meines Erachtens tun, um Etymologie und Semantik nicht zu strapazieren. Das Neue in Kunst, Literatur und Wissenschaft kann nicht "absolut neu" sein, denn das würde nahelegen, dass es urplötzlich erscheint und nicht als Wirkung oder selbst als (neue) Ursache angesehen werden braucht. Das Neue wäre dann ein unerklärliches Phänomen ohne erkennbares Vorher und Nachher sein, etwa vergleichbar den rätselhaften Flugkörpern, welche amerikanische Piloten wegen deren extremen Geschwindigkeiten keiner bekannten Kategorie zuordnen können. Sie kamen und gingen, und der Effekt war Null. Ein Buch, ein Kunstwerk oder ein wissenschaftlicher Durchbruch ohne Vorher und Nachher (also ohne Relationen), das ist völlig undenkbar! Also ist das Neue in der Gesellschaft eine Wirkung vom Alten und von Erscheinungen, die in der jüngsten Vergangenheit liegen. Ob die Analogie mit der Genetik für das Verständnis des Neuen und der Kreativität hinreicht, sei dahingestellt. Ich denke, die Analogie mit den Neukombinationen und dem Umschlag von potenziell zu aktuell ist der richtige Weg (Genotyp zu Phänotyp :: Konzept zu dessen Realisierung). Analogien sind keine Homologien, aber sie können uns die Richtung zeigen, in die wir gehen möchten. Mit diesem kleinen metaphysischen Exkurs soll dieser Teil meiner improvisierten Kunsttheorie beschlossen werden.

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    (1) Abgesehen vom näheren Thema mögen meine unfertigen Entwürfe auch als Kontrast zu gängigen Haltungen interessant sein, denn ich schreibe nicht von der politisch-korrekten linken Seite her, sondern von einer selbstbewussten, vernünftigen rechten Seiten. Studenten fehlt meistens die andere Seite der Argumentation, was sehr bedauerlich und für die Philosophie gänzlich unnatürlich ist. Pro und Contra, und einen vertretbaren (vorläufigen) Weg daraus hinaus - das wäre eigentlich die Flexibilität im Denken, die im Anschluss an die Tradition vom Mittelalter bis zu Hegel nötig wäre, um eine junge Elite hervorzubringen, die einen echten Beitrag zur Gesellschaft leisten könnten. Das ist leider nicht der Fall, deshalb meine gelegentliche Polemik. Mein sozialer Realismus und meine Betonung von Konflikten verraten keine überholte linke Gesinnung, ganz im Gegenteil. Das stelle ich da und dort klar.

    (2) Ich erwähne zuweilen (ganz unverbindlich) die Namen Ayn Rand und Alfred North Whitehead. Mein Gebrauch des Wortes "dissatisfaction" wurde von Whiteheads technischem Term "satisfaction" in seinen berühmten Metaphysikvorlesungen von 1927 inspiriert. Das Gemeinsame ist die allgemeine Vorstellung eines Aneignungsvorganges, der positiv oder negativ verlaufen kann. Anders gesagt sprechen wir von einer Selektion aufgrund von gegebenen Kriterien.

    Objektiv und objektivistisch

    Wie schon früher gesehen nennt sich mein Ansatz "objektivistisch" weil meines Erachtens das subjektive Empfinden der diversen Kunstbeteiligten zweitranging ist. Mir schwebt dabei eine Wörterbuchdefinition vor, also der Gegenbegriff zu "subjektivistisch". An dieser Stelle darf ich klarstellen, dass ich kein Follower der Rand-Schule bin. Es gab dieses Jahr eine grosse Ayn-Rand-Konferenz nur 200 km von meinem Standort entfernt, aber ich habe auf eine Teilnahme bewusst verzichtet, was nicht heisst, dass ich gleich ein Gegner von Ayn Rand bin. Objektiv sind die Phänomene, objektivistisch ist das komplexe Gesamtphänomen, so mein Grundgedanke. Welches sind die Schichten der Objektiviät, die manchmal mit Freiheit und subjektiver Selbstentscheidung vermengt werden? Es kommen mir drei Aspekte in den Sinn: 

    (a) der soziokulturelle Rahmen (nicht subjektiv) 

    (b) die Kommunikation auf Basis von verbalen / nonverbalen Zeichen (nicht subjektiv) 

    (c) das derzeitige Inventar an künstlerischen / literarischen Produkten von "unbeliebt" und "unbedeutend" durch das ganze Panoptikum hindurch zu "beliebt" und "bedeutend" (alles nicht subjektiv), die Architektur immer mit eingeschlossen. 

    Mit etwas Bösartigkeit könnte man mir einen "nicht-marxistischen Kollektivismus" vorwerfen - eine Position, die ich auch bis zu einem gewissen Grad vertrete. Meine subjektive Einstellung kann "konservativ und leicht pessimistisch" genannt werden. Ich stelle das empfangende, reflexive Individuum dem "kommunikativen Kollektiv" (Wolfgang Sohst) gegenüber und denke dabei mit gewisser Distanz an Whiteheads elementare Wahrnehmungstheorie von 1927. Das reflexive Individuum tut zunächst nichts Äusserliches. Es fühlt sich selbst, beobachtet, es erinnert sich, lernt, ahmt nach, erkennt Möglichkeiten, leidet. Es legt in kurzer Zeit einen weiten Weg zurück, bevor es sich an einer Entwicklung produktiv beteiligen kann. Das Individuum glaubt fest an seine Freiheit und vielleicht an seine Berufung, und dieser Glaube kann als rational und notwendig betrachtet werden, nicht aber als "objektiv vorhanden", wie ich meine. Freiheit in Körper und Geist ist eine "enge Angelegenheit" mit wenig Luft - eigentlich ein Privileg, wenn wir uns nicht auf das Prinzip beschränken. Das heisst, es gibt davon weit weniger, als erhofft und angenommen. Die grosse Freiheit ist eine notwendige Illusion, aber nicht unbedingt die richtige Grundlage für eine wirklichkeitsnahe Theorie. Die grosse Sehnsucht bringt uns der Wahrheit nicht näher, so enttäuschend das für viele Progressive in Europa und Amerika auch klingen mag. Freiheit ist das, was als "Rest" aus der Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft am Boden "liegen bleibt" und ergriffen werden kann, wenn von einer starken Persönlichkeit der richtige Zeitpunkt erkannt und genutzt wird. Ich betrachte diese Auffassung als realistisch, als eine solide Sichtweise jenseits der unerfüllbaren Prätensionen von Aufklärung und Moderne, die heutzutage aggressiv und ohne zu Erröten vom Neomarxismus vertreten werden ("kultureller Marxismus" nach J. B. Peterson, teilweise als Selbstfindungsschema, auch als Ersatzreligion).

    Nun könnte man mir vorwerfen, dass mein objektivistisches Totum (the total art process) ein theoretisches Postulat ist, welches empirisch nicht eingeholt werden kann. Es zeigt sich also die Ironie, dass ein Antikantianer wie ich plötzlich ein gigantisches "Ding and sich" in den Raum stellt, das als Füllung die Löcher in der Wand verbergen soll (die Lücken in der Theorie). Diese Kritik muss ich mir gefallen lassen. Nur sehe ich keine Alternative zum Objektivismus, also zu einer antisubjektivistischen Position, bei er es um Transaktionen in einem weiteren Rahmen geht. Der kulturelle Selektions- und Transmissionsmechanismus kann auf individualistischer Basis nicht verstanden werden.  Hier muss ich noch folgende theoretische Vorannahme ansprechen: Ich bin der Überzeugung, dass theoretische Gegensätze wie subjektv vs. objektiv, oder relativ vs. absolut nicht wirklich Gegensätze darstellen. Vielmehr sehe ich darin eine Schichtung von Prioritäten und Perspektiven. Ich bin vermutlich nicht der einzige, der das so sieht.

    Wenn man solche Bezeichnungen nicht zu eng nimmt, betrachte ich mich immer noch als einen Prozessphilosophen mit einer gewissen Affinität zur Phänomenologie und zu Hegels Dialektik. Dem Kantianismus und Pragmatismus stehe ich recht kritisch gegenüber, obwohl ich mich für den Amerikanischen Pragmatismus interessiere und auch nicht abgeneigt bin, zuweilen Fichte und Cassirer zu berücksichtigen (in Zusammenhang mit Kant). Im Bereich der politischen Philosophie bin ich ein Realist und Antimarxist und handle konsequent danach. Diese Offenheit schuldet heutzutage jeder / jede Schreibende ihren Lesern, ebenso ein Lehrender den ihm / ihr untergeordneten Studenten, die wenig Vorwissen mitbringen, und manchmal auch wenig Motiviation.

     

    Der semiotische Ansatz

    In diesem Abschnitt soll es ganz allgemein um Zeichen gehen, und wie sie unser gesellschaftlich bedingtes Bewusstsein informieren. Es geht mir nicht um eine alternative Zeichentheorie, sondern um die Bedeutung von Zeichen in einer Kultur. Mit meinen Beispielen werde ich auch die philosophische Semantik streifen (Bedeutungen in einem Kontext). Zunächst kondensiere ich die ganze Sache und gelange dann im Hinblick auf Geistesprodukte zu Metaphern.

    Ein Kode (Zuweisungsmodus) ist eine Relation, bei der auf konventionelle (also erlernbare) Art zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem vermittelt wird (Signifikant und Signifikat). Es gibt auch natürliche oder spontane Reaktionen auf Zeichen, etwa auf  optische oder akustische Zeichen (Signale) unter Tieren, unter Menschen, oder zwischen Mensch und Tier. Verbale und non-verbale Zeichen, Symbole, und was uns besonders interessiert: Metaphern.

    Ein Zeichen ist signifikante Form. Was heisst das? Damit will ich sagen, dass künstliche Zeichen als Formen verwendet werden, denen man aufgrund des geltenden Kodes Inhalt zuweist. Inhalt kann sein Assoziationen oder Verhaltensregeln einschliesslich Warnungen / Drohungen. 

    Bei natürlichen Zeichen (Signale, psychosomatische Regungen) wird nicht verlangt, dass ein wahrnehmender Organismus Form und Inhalt assoziert, denn die Reaktion geschieht instinktiv (vielleicht mit einem Anteil von Lernen). Dieses quasi-dualistische Verständnis liesse sich auch mit der einfachen Perzeption vergleichen. Wenn ich irgendwo dort einen Baum sehe, dann erkenne ich zunächst eine Form, die im Definitionsbereich von "Baum" liegt. Erst im zweiten Anlauf achte ich auf Einzelheiten, bin mir bewusst, wo und wie der Baum lebt, welche Baumart das sein könnte, dessen Alter, usw. (Beispiel entlehnt von Morris Cohen). Der Baum als solcher ist als Erscheinung kein Zeichen, weil es keinen intersubjektiven Kode gibt, der mir sagt: "Achtung! Baum! Bremsen!" Diese Reaktion kann in bestimmten Situationen als quasi-instinktiv angesehen werden, gehört aber nicht zur erkennenden Wahrnehmung. Auch wenn ich einen Baum umarmen möchte, kann das ebenfalls nicht als Zeichenreaktion gelten. Es gibt vielleicht eine Mode, aber keinen festen Kode, der mich auffordert: "Baum! Umarmen! Jetzt!" Freilich sind Moden, Werte und Ängste auch kulturabhängig, selbst wenn man als "Resttier" noch über ausreichend "Restinstinkt" verfügt, um eine Gefahr oder eine Torheit zu vermeiden. Aber für eine Zeichenrelation bedarf es eines "Schleiers", eines "Geheimnisses", wenn man so sagen kann. Das Geheimnis wird gelüftet, wenn wir lernen, den geltenden Kode anzuwenden. Bei einem Baum oder einem Gewitter reagieren wir eher spontan. Nun, prinzipiell betrachtet könnte Zeus oder Gott mit einem Blitz etwas androhen, das Priester vielleicht rechtzeitig entschlüsseln und abwenden könnten: "Wenn wir jetzt nicht sofort zehn Stiere rituell opfern, wird der Hügel gepalten, und unsere Festung bricht in sich zusammen." So etwas ist möglich, allerdings müsste man dabei sehen, dass wir hier menschliche (Zeichen-) Verhältnisse an den Himmel projizieren, denn warnen oder Furcht einflössen ist ein menschlicher Akt, nicht ein meteorologischer Fakt. Ein Kode ist keine stellvertretende Sprache für eine absolute Gewissheit (etwa religiöser Art), aber das Verwenden und Verstehen eines Kodes (und dessen historische Herkunft) sind ganz und gar objektive Tatsachen, die mit Subjektivität herzlich wenig zu tun haben. Jede menschliche Erfindung und jede einzelne und gemeinsame Erfahrung ist ein objektives Datum in der Geschichte, ganz egal, wie es moralisch bewertet wird. Solange es eine Spur von Erinnerung gibt, ist etwas für uns wirklich, daseiend.

     

    Metaphern, oder wenn der Mensch im Schnittpunkt steht

    Wir kommen nun zur Wirkung von Metaphern, oder besser gesagt, zum Wesen des menschlichen Denkens zwischen Konvention und natürlichem Zwang (Naturzustand und Zivilisation). (1) Geist und Kultur finden in Geschichte und Gesellschaft statt. Die Feinauflösung dieser Schichten und Risse wären soziokulturell geformte Individuen ("Intellekte", scholastisch ausgedrückt). Alles, was in Betracht gezogen werden kann - selbst das vermeintlich Unmögliche - geschieht in einem menschlichen Intellekt, der ein Aspekt eines sozialen Tieres mit Sprache ist (frei nach Aristoteles). Die Wirkung von Metaphern ist gewissermassen ein Einfärben der Bedeutungen in einem Satz als Teil eines weiteren sprachlichen, emotionalen und materialen Kontextes. Eine Metapher ist eine Art symbolischer Vergleich, und nicht nur das: Metaphern transportieren Werte und sind insofern emotionale Vektoren. Im Alltag wird keine genaue Trennung zwischen Metaphern und Vergleichen gemacht. Sätze wie "Männer sind wie Kinder" oder "Kinder sind Plaggeister" werden als gleichartig aufgefasst. Genau besehen ist das letztere eine Metapher (Kinder sind nicht wirklich irgendwelche Geister) und das erste ein Vergleich: Nimm einen Mann und ein Kind, und man wird sehen, dass sie in gewisser Hinsicht genau gleich sind (was so nicht stimmt). Nun, diese Unterscheidung ist für uns unerheblich; sie ist eher literarischer Art. Hier geht es um das Bewusstsein, dass der Mensch / die Menschheit an der Schnittstelle von Natur und Kultur steht. Alles überlappt und überlagert sich irgendwie, und alles geht durch das menschliche Gehirn. Kultur wird so ein Aspekt der Natur, und Natur wird ein Aspekt der Kultur. Ein gutes Beispiel wäre der Satz "Der Mensch ist eine Maschine" (siehe weiter unten). Da ich mich für das Verhalten und die Verbreitung von Wölfen interessiere, wähle ich zunächst folgendes Beispiel: 

     

    "Der Mensch ist ein Wolf."

                       -  Der Mensch ist ein Wolf (ist schlecht).

                       + Der Mensch ist ein Wolf (ist gut).

     

    Die Konvention verlangt von uns Konventionalisten, die negative Deutung zu favorisieren und die andere zu verurteilen. Wissenschaftlich wissen wir seit den 70er Jahren, dass der Wolf zwar nicht genetisch, aber vom Verhalten her dem Menschen ziemlich ähnlich ist (was ganz erstaunlich ist, denn bei Raubkatzen verhält es sich genau umgekehrt). Deshalb würde eine inzwischen grosse Minderheit von Wolfliebhabern den Satz bewusst gegen den Strich (also positiv) verstanden haben wollen. Das wäre dann die revisionistische Meinung gegen die konventionelle (die es vielleicht zu überwinden gilt). Wiederholen wir dieses Spielchen, aber diesmal setzen wir bei unser Spezies an:

     

    "Der Mensch ist ein Wolf."

                      -  Der Mensch (ist schlecht) ist ein Wolf.

                      + Der Mensch (ist gut) ist ein Wolf.

     

    Nochmals das Gleiche, aber von der (fehlenden) Güte des Menschen aus gedacht. Der Wolf ist so gut / so schlecht wie der Mensch (vorhin war es umgekehrt). Ob wir jetzt den ersten oder den zweiten Ansatz ins Auge fassen, jedesmal ist es so, dass ein Term als "gut" oder "schlecht" gefühlt und gewertet wird, was sich dann auf den zweiten Term überträgt. Die Konnotation färbt gleichsam auf den anderen Term ab. Somit wird der Wolf bis zu einem gewissen Grad "menschlich" und der Mensch "wölfisch", was doch interessant ist. (2) Anders gesagt, haben wir hier nicht ein synthetisches Urteil zusammengesetzt aus zwei Gliedern, das entweder wahr oder falsch ist. Nein, so funktioniert Kultur nicht. Es ergibt sich in unserem Bewusstsein eine Art verschwommenes Gesamtbild, bevölkert von Menschen, Wölfen und der Idee des Guten (oder des Schlechten). Wenn wir überraschenderweise "Der Mensch ist ein Wolf (ist gut)" denken und fühlen, dann machen wir offensichtlich die Inferenz: Wenn der Mensch in wichtiger Hinsicht wolfartig ist, und Wölfe gut sind, dann ist der Mensch auch gut (ein Syllogismus). Das wäre einmal die Geschichte mit dem Wolf. Nehmen wir ein etwas anders gelagertes Beispiel, den wahren Fall jenes Computerspiels, das einen Titel trägt, der direkt aus H. P. Lovecrafts Feder stammen könnte: The Vanishing of Ethan Carter (2013):

     

    Die Landschaft mit Bergen und Wäldern befindet sich in Polen.

    Die polnische Landschaft ist im Computerspiel.

    Die Landschaft im Computerspiel ist in Polen.

     

    Jetzt können wir beinahe spüren, dass wir mit einem Fuss in der wirklichen, mit dem anderen in der (wirklichkeitsnahen) virtuellen Welt stehen. Wir kriegen eine starke Ahnung von etwas Hybriden, ein Gesamtbild hervorgebracht durch den Spiegel neuer Medien, etwas, das unser Bewusstsein prägt ... und sich in der Nacht vielleicht in unsere Träume schleicht. Der virtuelle Fussweg hinauf zum verlassenen Haus ist beinahe identisch mit dem Fussweg in der freien Natur, der für die Graphiker des Spiels in Westpolen fotografiert wurde. Wenn wir diese Ähnlichkeit einmal erlebt haben, können wir uns dieser Assoziation nicht mehr erwehren. Sie kommt zu uns wie etwas, das wir einmal gelernt haben, oder stärker gesprochen: etwas, das uns mittlerweile bestimmt, das wir nicht vergessen können. Wir haben quasi eine Bewusstseinserweiterung vorgenommen (eine minimale, aber dennoch). Diese marginale Bewusstseinserweiterung über Generationen, Gesellschaften und Jahrhunderte hinweg ist das, was wir "Kultur" nennen. Es ist der Mensch in der Kultur, der die Natur mit einem X erweitert (ich ändere die Kunst-Gleichung von Arno Holz ab): Kultur = Natur + X

    Das Plus meint allgemein, was Zivilisation bedeutet: "Kultur" oder "Zivilisation" bedeutet, dass der Mensch etwas von der Natur wegnimmt, und dieses mit Wissen und Arbeit zu etwas anderem umwandelt. Das Umgewandelte fügt er zur Wirklichkeit hinzu, wenn man so sagen kann. Eigentlich würden wir oben eher ein Minus erwarten. Beides geht, aber ich möchte bei diesem Argument eher das Hinzufügen menschlicher Werke betonen als einen Verlust von Rohmaterial. So weit so gut. Aber was hat das näher mit Kunst und Semiotik zu schaffen? Die Antwort ist im Prinzip analog zu den Beispielen mit dem Wolf und dem Computerspiel. Freilich gelangen wir hier in schwieriges Gelände. Deshalb wähle ich im Zusammenhang mit der Verwendng von Zeichen Kommunikation als Ausgangspunkt: Kultur / Zivilisation basierend auf Kommunikation, die Gesellschaft zu einem gewissen Zeitpunkt als kommunikatives Kollektiv. Wenn gemeinsam etwas vollbracht werden soll, bedarf es der Sprache (verbale Zeichen, verdeutlicht mit Gesten). Ein Mammut lässt sich ohne koordinierte Handlung nicht töten und gemeinsam bearbeiten und schon gar nicht transportieren. Kommunikation gibt es in der Natur und in der Kultur. 

    Menschliche Kommunikation ist komplex und beruht auf Zeichen und Zeichenkodes. Die Reaktionen auf Zeichen sind meist erlernt und nur selten spontan (instinktiv). Menschen verständigen und koordinieren sich mehrheitlich über Sprache. Sprache ist nicht alles, aber Sprache ist viel. Die lebendige Sprache (akustische und graphische Zeichen mit Ordnung und Bedeutung) bestimmt, wie wir über die Welt denken, wie wir handeln, und wie wir das Geschehene nachträglich bewerten und einordnen. Zeichen sind / ermöglichen die Struktur einer sozialen Organisation über Generationen hinweg. (3) 

    Abgesehen von Zeichen und deren Funktion gehe ich von einem primitiven Modell aus, das in diesem Text nicht zum Tragen kommt. Es gibt soziale Aktivität mit und ohne Vektor. Mit "Vektor" meine ich Zielgerichtetheit, was in meiner Vorstellung bedeutet, dass eine genügend starke soziale Gruppe das Steuer übernehmen und dem konfusen Sprechen und Handeln in der Gesellschaft eine Richtung geben kann. Das ist meine Alternative zum bekannten Opferdiskurs des Neomarxismus, der wieder mehr in Mode ist. Chaos und Ordnung, wenn man so will, aber abseits einer ethischen Skala des Guten und Bösen (weil das ein anderes Thema ist). Es geht nicht primär um Unterdrückung, sondern um Einfluss und Kontrolle, und so etwas wie Kontrolle wird durch intellektuelle und materielle Steuermechanismen hergestellt, was nicht marxistisch zu interpretieren ist, sondern soziologisch und zeichentheoretisch (ganze Diskurse werden durch Zeichensysteme geformt und durch Assoziationen eingefärbt), und dies wenn möglich ohne politische Ideologie. Das Ganze ist auch auf den Kunstbetrieb anwendbar. Das Erfolgreiche ist nicht unbedingt das Massgebende oder das Beste; es kann auch das Resultat einer günstigen Konstellation sein. 

     

    Die Maschinerie des Kunstbetriebs

    Bevor ich auf den Untertitel dieses Abschnitts eingehe, möchte ich nochmals ein Beispel bringen, in der Art der Beispiele oben.

     

    "Der Mensch ist eine Maschine."

                        - Der Mensch ist eine Maschine (ist schlecht).

                        + Der Mensch ist eine Maschine (ist gut).

     

    Was bedeutet das? Einerseits bedeutet das wieder, dass etwas in gewisser Hinsicht "in" etwas anderem ist. Zudem wird bei diesem Beispiel deutlicher als zuvor, dass ein herrschendes Paradigma (Kultur, Wissenschaft, Ideologie - wohl ein Mix davon, und auch psychologische Faktoren) die Sätze gleichsam einfärbt und  das ganze Urteil dorthin lenkt, wo es die Tradition, die Anhänger eines wissenschaftlichen Paradigmas, oder einer erhofften "sozialistischen Revolution" gerne haben möchten. Auf eine theoretische Ebene gehoben sagen wir: Die Mensch-Theorie ist in gewisser Hinsicht "in" der Maschinen-Theorie vorhanden, oder umgekehrt. Wenn mechanische Systeme dem Paradigma entsprechen, dann würden wir das ungefähr so denken. Wenn dagegen lebende Systeme das Paradigma sind, würden wir die Sache umkehren: Die Maschinen-Theorie ist in gewisser Hinsicht "in" der Mensch-Theorie drinnen. Dies weniger schematisch und allgemeiner ausgedrückt: Die Mechanik ist ein Aspekt des Lebens, was impliziert, dass unsere technischen und anderen Errungenschaften quasi Nachahmungen der Natur sind (im anderen Fall ist die Natur ein Supermechanismus). 

    Alles, was der Mensch mit Arbeit in die Welt bringt, ist im weiteren Sinne "Kultur", so auch die Wissenschaften und deren Anwendungen. Wenn wir, wie allgemein üblich, "Kultur" im engeren Sinne verwenden, können wir damit die Wissenschaft ausschliessen (auch Recht, Wirtschaft, Technologie usw.) und eine Dichotomie skizzieren. Vielleicht erinnert man sich an die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, wenn man folgendes liest: Wissenschaft arbeitet mit Hypothesen, die Kultur mit Metaphern, wobei das eine das andere nicht ausschliesst. Der Austausch von Gedanken und Gefühlen geschieht über tradierte und erlernte Zeichensysteme, oder über überlappende Schemata, wie man auch sagen könnte. Die Sphäre sämtlicher kognitiver Typen, psychosomatischer Reaktionsmuster und psychischer Archetypen bilden das, was man üblicherweise "Kultur" oder "Zivilisation" nennt. Kapital, Privatbesitz und materielle Kultur sind die materiellen Bedingungen einer Gesellschaftsordnung. Sie sind nicht primär, nicht sekundär, sondern interlokutär (wie ich sage). Brückenköpfe für kulturelle und zivilisatorische Leistungen. Die Brücken, die da gebaut werden, sind überpersönlich, streifen die Gegenwart und reichen von der Vergangenheit in die Zukunft.

    Das Ganze hört sich an wie eine riesige Maschine, die einmal gut, ein andermal weniger gut funktioniert. Wo gibt es da noch Platz für Gefühle, für Geschmack, für sensible Seelen, oder umgekehrt, für Provokateure? Wie deutlich wird, gehe ich hohen Ansprüchen, "guten Menschen" und der Idee des Schönen möglichst aus dem Weg. Ich folge also eher Nietzsche als Platon. Warum? Erstens, weil ich nicht in einen moralischen Diskurs abgleiten will (deshalb meine antilinke Polemik überall). Zweitens, weil ich der Auffassung bin, dass soziale Tatsachen bestimmend sind, sie sind quasi das tragende Gerüst historischer Ereignisse und die äussere Bedingung für individuelle Biographien. Kann man denn einen solchen "superobjektiven Kunstholismus" (wie ein Kritiker mockierend sagen könnte)  überhaupt noch "Ästhetik" nennen? Ja und nein, es kommt eben darauf an, was man unter "Ästhetik" verstehen möchte. Wo bevorzugt von Subjektivität, moralischen Imperativen und psychischer Gesundheit gesprochen wird, werde ich mich gerne einer Meinung enthalten und mich mit etwas anderem beschäftigen. Wie an anderer Stelle angedeutet, sehe ich, dass eine linke aufklärerische Haltung letztlich dazu führt, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden, letztlich auch "gute" von "schlechten" Menschen. Das lehne ich ab. Plakativ bediene ich mich gerne eines markanten Beispiels, um dem idealistischen Gutmenschentum etwas Konkretes entgegen zu setzen: Der Marquis de Sade mag psychisch nicht ganz gesund gewesen sein, aber er war bestimmt kein schlechter (oder ungebildeter) Mann. Das heisst, dessen sexuelle Fantasien und Beschreibungen sind kein Mass für Wert und Wirkung seiner Werke. Entweder hat ein historisches Ereignis (im Grenzfall kann das eine überragende Person sein) eine Wirkung oder nicht. Wenn diese der Fall ist, dann ist anzunehmen, dass besagtes Ereignis "werthaft" ist, also für das Vorhandensein oder Fehlen einer Wertvorstellung steht (Beispiel: Besonnenheit oder "vernünftig handeln"). Wir können nicht ernsthaft sagen, dass der antike Forscher namens P im ersten Perserreich bedeutend für das Thema Q war, wenn wir von P heute kaum etwas wissen und auch nichts mehr erfahren können. Es kommt also nicht darauf an, was wir mögen, was wir ablehnen, wie wir den Diskurs steuern möchten, und was wir aus moralischen Gründen auf den Sockel heben möchten (oder umgekehrt). Es kommt alleine auf die Wirkung einer kulturellen Leistung an. Dabei sind subjektive Regungen in individuellen Seelen durchaus ein "Nebeneffekt". Wir lesen, hören und bewundern nicht, was wir autonom und souverän aus dem Fundus der Kulturgeschichte fischen, sondern was via sozialer Institutionen an uns förmlich herangetragen wird. Vielleicht wäre der mittelalterliche Schriftseller S mein idealer geistiger Begleiter, aber S ist vorläufig in Vergessenehit geraten - zu dumm für mich, also werde ich mich vielleicht mit T oder R anfreunden und dessen Werke als "wertvoll" und "geniessbar" ansehen. Ich passe mich also an, selbst wenn mir das nicht immer busst ist. Klar, das Individuum ist als Einzelperson wichtig für die Gesellschaft, aber zunächst ist das Individuum ein Produkt der Umtände, ganz und gar nicht der Meister seines Schicksals (wenn wir von einem Mann sprechen). Ich denke, dass sich diese Position verteidigen lässt, aber sie lässt sich auch zugunsten einer gängigen Auffassung von "Ästhetik" angreifen. Das Leben ist widersprüchlich, und es verbergen sich viele Ironien darin. So kann ich denn sagen, dass es eine Ironie ist, wenn ich diesen Beitrag mit dieser subjektiven Festellung beschliesse: Vielleicht ist eine Theorie auch eine Frage des Geschmacks.


    (1) Ich erinnere mich, dass wir in einem Seminar mit Herrn Prof. A. Graeser (mein Doktorvater an der Universität Bern) von Max Black gesprochen haben, weiss aber den genauen Kontext nicht mehr. Im Folgenden konvergiert meine Darstellung eingermassen mit dem, was Black in den 60er Jahren zu Metaphern geschrieben hat.

    (2) Der Anti-Werwolf - ein neues Märchen würde der Konvention völlig zuwider laufen: Der gute Wolf verwandelt sich bei hellem Sonnenschein in einen bösen Menschen. Und doch würden alle Leser diese verkehrte Werwolf-Story als Satire erkennen und sich dabei amüsieren. Das Vergnügen zeigt, dass die Konvention nicht durchbrochen wird.

    (3) Syntax und Semantik: akustische Zeichen mit Ordnung und Bedeutung, also anders als in der Tierwelt, weil ein Lernprozess vorausgesetzt wird.