1. Von der anderen Seite – Einführung in die Psychopathologie
«Was macht sie denn? Hat sie denn keine Gedanken?» Dicke Regentropfen prasseln an das Fenster und fliessen in breiten Strömen an den Scheiben herunter. Die feuchte, graue Luft, die sich draussen vor dem Fenster auftürmt, ist so dick und zäh, dass es mir schwerfällt, sie zu atmen. Ich sitze auf der Bettkante und starre in den Raum. «Das bist nicht du», piepst eine leise, jedoch sehr bestimmte Stimme, die mich schaudern lässt. «Verdächtige Frequenz», fährt es mir durch den Kopf und ich zucke zusammen.
In einer Mischung aus Euphorie und Todesangst springe ich auf und beginne, mit grossen Schritten in meinem Zimmer hin und her zu laufen. «3-8-4-9-3… 3-8-4-9-3… Konzentrier dich..!» Mir kommen diese Zahlen unheimlich wichtig, unheimlich bedeutsam vor und mich durchzuckt das Gefühl einer Vorahnung. Mit zittrigen Fingern reisse ich die Schreibtischschublade auf und krame aufgeregt nach einem Edding, während eine digitale, übermenschliche Frequenz Silben und Symbole durch meine Synapsen jagt, die ich erregt und voller Hast in menschliche Sprache enkodiere. «Drei… die Gretchenfrage…man will wohl… Acht, das ist das Leid, der Schmerz, der Herr Homunculus… wir, der Fröschling und die Wurst, die Wange, die Zange… er hat… das ist… id est: Enthumanifizierung… Wer jagt, gewinnt… und das ist des Esels Last, des Meisters Rast, des Menschen… der Maschine… des Jedermann, des Ottos und des Hanswurst… so nennt sich im digitalen Zeitalter, wer auf sich hält, was alle wissen: Don`worry, be happy – die Botschaft des modernen Menschen, des Antisapiens Errectus, der einer Wiege – dem AKW – entspringt…» Mit einer Mischung aus Stolz und Schaudern betrachte ich die Buchstaben und Zeichen an den Wänden meines Zimmers und lasse den Stift zu Boden sinken.
Als ich die Haustür ins Schloss fallen lasse und auf die Strasse trete, hat der Regen nachgelassen. Mir ist etwas schwindelig und es fällt mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Die kühle Luft, die in meine Lungen strömt, ist klebrig und bitter und mir kommt der Gedanke, die natürliche Luft sei ausgetauscht und durch eine Masse ersetzt worden, die meinen Körper mit Elektrizität füllt und zunehmend entmenschlicht.
Das Gelb und Orange des Herbstlaubes, das schwer und nass auf dem Gehweg klebt, bildet sich grell und schrill auf meiner Netzhaut ab und ich ahne zunehmend, dass ich mich mittlerweile in einer jenseitigen, digitalen Welt befinde. Auch die Äste der kahlwerdenden Bäume sind auf eine Art und Weise angeordnet, die kaum auf natürliche Weise entstanden sein kann und höchstwahrscheinlich das Resultat eines Algorithmus ist. «Hier ist nichts dem Zufall überlassen», denke ich laut und kichere verzweifelt vor mich hin, während ich wie aus einer Blase über mir dabei zusehe, wie ein Apparat meine elektrisierten Beine über den nassen Asphalt steuert.
Auf einem Plakat, dessen vom Regen verquollene Reste an einer Strassenlaterne baumeln, lese ich: «Ja zu…» - «Ja zu…» Ich interpretiere das als eindeutiges Zeichen und breche in ein gequältes und gleichzeitig von Dankbarkeit und Rührung ergriffenes Lachen aus. Eine unfassbare Flut von bruchstückhaften Gedanken, Zahlen, Silben und Satzfragmenten jagt durch meinen Schädel und ich beginne, meinen Kopf verzweifelt gegen das Plakat zu schlagen. Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Gehweg zwischen lauter bunten Blättern. Das Blut rauscht durch meine Ohren und der Kopf ist jetzt ganz leer – als hätte der Apparat mir die Gedanken entzogen.
Auf der Strasse kommen mir zwei Gestalten entgegen. Es sind die Zwillinge aus dem Haus nebenan: Freundliche, betagte Herrschaften, die stets gleich gekleidet sind und die man immer nur zu zweit antrifft. Heute tragen sie eine Art Jagdmontur: Derbe Stifel, dunkelgrüne Filzmäntel und dazu braune Jägerhüte, die sie mit kleinen Federn geschmückt haben.
«Sind die echt? … Wohl eher Attrappen! … Soll aussehen wie Zufall… Hübsch hat man sie zurechtgemacht und platziert, wirklich hübsch…!» Obwohl mich der Anblick der Attrappen überfordert, gelingt es mir nicht, mich davon loszureissen. Ich starre das seltsame Paar in einer Mischung aus Angst und Fassungslosigkeit an und bin völlig absorbiert vom Detailreichtum der Requisite. Mein Blick bleibt erst an den knolligen Nasen, dann an den Füssen hängen, die sich rhythmisch – zu rhythmisch, um echt zu sein – über das bunte Herbstlaub bewegen. «Bin ich die? Oder sind die ich?» Mir kommt es vor, als bildeten wir eine Einheit. Als sei ich in ihnen, in ihren Füssen.
Als ich die Migros betrete, bietet sich mir eine digitale Kulisse, die mich bis zum Zerbersten reizt. Grelles Licht sticht mir in die Augen, die vielen Farben schmerzen mir in den Synapsen und das elektrische Surren, das in der Luft liegt, dringt in jede Zelle meines Körpers. Ich bin komplett überfordert und, noch im Eingang stehend, erstarre ich zu einer Steinsäule und verharre regungslos, während in mir die nackte Panik tobt, weil mir ist, als sei ich gelähmt. Oder: Als sei ich gar nicht mehr. Als sei ich jetzt diese Dinge - diese Nivea-Flasche, dieses orangefarbene Einkaufskörbchen, dieser leuchtende Schriftzug. «Die Dinge haben das Sein erobert», fährt es mir durch den Kopf und ich frage mich, wem dieser Gedanke gehört.
Meine Knie zittern, die Glieder sind starr und steif und meine Zähne sind fest aufeinandergepresst. Ich versuche mit aller Kraft zu denken, doch es gelingt mir nicht. «Suchen Sie etwas?» Das graue Muster der Fliesen, das ich seit Minuten anstarre und das bereits in mich gedrungen ist, wird auf einmal von einem orangefarbenen Bauch ersetzt, der durch das Bild auf meiner Netzhaut wackelt und grösser und grösser wird. Ich zucke zusammen, schliesse meine Augen, und als ich sie wieder öffne, erkenne ich, dass der Bauch zu einer eckigen Brille gehört, die über einem schwarzen Schnurrbart thront. «Man hat das Männlein hübsch zurechtgemacht», tönt es wie aus einem Lautsprecher und ich beginne zu kichern. Was ich denn suchte, fragt eine Stimme, die unmenschlich klingt und aus weiter Ferne zu kommen scheint. «Kaffee», presse ich über meine Lippen und frage mich, ob meine Äusserung auf seiner Frequenz liegt. Der Apparat scheint verstanden zu haben, denn zwei schwarze Lederschuhe setzen sich in Bewegung, denen ich hastig folge. Ich bin erleichtert, dass die Schuhe da sind; denn wenn ich nicht existiere, so wenigstens sie.
Schliesslich stehe ich vor einem Regal und zwei schmale Lippen unter einem Schnurrbart verkünden, dass hier der Kaffee zu finden sei. Ich entgegne den Lippen, dass mir das alles zu technisch, zu künstlich sei und spüre jetzt, ich bin von der herkömmlichen Kaffeeindustrie beauftragt worden, der Ausbeutung durch die Digitalisierung des Anbaus, der Ernte und des Vertriebs von Kaffeebohnen Einhalt zu gebieten. «Ich spreche hier im Interesse der Kaffeebauern und die haben der Produktion den Kampf angesagt… Aus Güte hat noch niemand den Hanswurst verklagt… Wir wissen, wo Sie wohnen!», erkläre ich dem Schnurrbart, der mich mit – selbstverständlich nur gespielter – Verwunderung ansieht. Ich sehe, wie eine Hand nach einer Kaffeepackung greift, während eine Stimme, die wie die einer Hexe klingt, mich ermahnt, ich dürfe mich nicht durch meine Gestik verraten, denn der Apparat ahne bereits etwas und die Dinge seien schon in Vorbereitung. Mich versetzt das in heftige Erregung und kalte Angst und während der Schnurrbart mir auf den Fersen ist, stürme ich keuchend zur Kasse, wo die Apparate bereits auf mich warten, um mir ihre Wahrheit einzupflanzen – die digitale Wahrheit. Um zu verhindern, dass sie mir die Codes absaugen, die ich für die Kaffeebauern kreiert habe, beginne ich, laut zu rechnen und dabei den Atem anzuhalten, wie es mir über eine Mitteilung auf einer Einkaufstüte angeraten wird.
Nachdem ich endlich bezahlt habe, verlasse ich stürmisch den Supermarkt, überquere eilig den Parkplatz und haste die Strasse nach Hause hinauf. Dort spüle ich ein paar Tabletten Beruhigungsmittel mit einem Bier herunter und lasse mich erschöpft aufs Bett sinken.
2. Seitenwechsel – Einführung in die Psychopathologie, Teil II
Sechs Wochen und einen Psychiatrieaufenthalt später sitze ich in der Aula der Uni, einen Notizblock auf dem Schoss, und warte auf den Beginn der Vorlesung. Der Dozent – ein älterer, leicht untersetzter Herr mit freundlichem Blick – hat sich bereits zum Rednerpult begeben und fummelt an einigen Kabeln herum, während er mal auf seinen Laptop, mal auf die Präsentationsfläche an der Wand blickt.
Das Thema der heutigen Vorlesung ist «Schizophrenie» und der Professor beginnt mit der Ätiologie und den diagnostischen Kriterien der Erkrankung. Ich mache mir eifrig Notizen und lausche gespannt den Worten des Dozenten, im Saal ist es ganz still. Dann, als ich meinen Blick vom Notizblock hebe und auf die nächste Folie richte, erscheint eine Skizze, auf der zwei «seltsame Dinger» abgebildet sind, die aussehen wie zwei Knochen, deren dicke Enden zueinander zeigen. Dazwischen befindet sich eine schmale Lücke, die mit lauter schwarzen Pünktchen gefüllt ist. Die Folie, auf der diese Zeichnung präsentiert wird, ist mit «Dopaminhypothese» überschrieben und der freundliche alte Herr erklärt uns, dass dieser Hypothese in der Ätiologie der Erkrankung nach aktuellem Stand eine grosse Bedeutung zukomme. Er deutet auf die Legende unter der Skizze und wir erfahren, dass es sich bei den beiden «Knochen» um Synapsen handele, und bei den kleinen Pünktchen um den Neurotransmitter Dopamin, der sich in der Lücke, dem synaptischen Spalt befinde. Bei Schizophrenie gebe es eine dopaminerge Hyperaktivität, erklärt der Dozent, wodurch es zu produktiv-psychotischen Symptomen komme.
Nun wolle er sich im Detail dem Symptom «Wahn» zuwenden, fährt der Professor fort und präsentiert eine neue Folie, die ein Zitat aus dem AMDP-System enthält: «Wahn entsteht auf dem Boden einer allgemeinen Veränderung des Erlebens und imponiert als Fehlbeurteilung der Realität, die mit apriorischer Evidenz auftritt und an der mit subjektiver Gewissheit festgehalten wird, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Erfahrung der gesunden Mitmenschen sowie zu ihrem kollektiven Meinen und Glauben steht.»
Wieder wechselt die Folie und jetzt lesen wir den Titel «jumping to conclusions», während der Dozent erklärt, es handele sich hierbei um einen kognitiven «bias», der mit Wahnerleben assoziiert sei, und zu dessen Entstehung und Aufrechterhaltung beitrage. Unter der Überschrift befinden sich zwei Ovale, ein rotes und ein grünes, die einen roten und einen grünen Teich darstellen sollen, wie der Dozent uns aufklärt. In dem roten Teich befänden sich 80% rote und 20% grüne Fische, während im grünen Teich genau umgekehrt 80% grüne und 20% rote Fische lebten. Man habe Versuchspersonen mit und ohne Schizophrenie in Experimenten diese Anordnung vorgestellt und sie gebeten, über eine Computertaste blind, d.h. ohne zu wissen, in welchem Teich, zu «angeln», wobei ihnen nach jedem Durchgang die Farbe des Fisches mitgeteilt wurde. Die Aufgabe der Versuchspersonen habe nun darin bestanden, herauszufinden, in welchem der beiden Teiche sie wohl angeln würden, und, sobald sie sich sicher waren, abzubrechen und ihre Vermutung darüber zu äussern, ob sie im roten oder im grünen Teich geangelt hatten. Versuchspersonen mit Schizophrenie hätten dabei wesentlich schneller eine Annahme darüber gebildet, aus welchem Teich ihre Fische stammten als die gesunden Kontrollpersonen. Zudem hätten sie eine höhere Sicherheit ihrer Vermutung angegeben. Dieses «voreilige Schlussfolgern», oder eben «jumping to conclusions», finde sich in verschiedenen Studien und sei auch Bestandteil von Interventionen, die auf eine Reduktion von Wahnerleben abzielten, schliesst der Dozent.
Während meine Kommilitoninnen und Kommilitonen beginnen, ihre Laptops und Schreibutensilien zu verstauen und plaudernd den Saal zu verlassen, bleibe ich noch einen Moment sitzen und starre nachdenklich auf meine Notizen.
3. Die Suche nach der ganzen Geschichte – Methodische Erwägungen und die Selbstbetroffenheit des Suchenden
Wenn ich versuche, das, was ich im Rahmen meiner Schizophrenie erlebt habe, mit dem in Verbindung zu setzen, was ich an der Universität über diese Erkrankung gelernt habe, dann wird mir wieder einmal mehr klar, was Karl Jaspers meinte, als er in seiner «Allgemeinen Psychopathologie schrieb: «Die Wissenschaft ist nur eines der Hilfsmittel. Es muss noch viel hinzukommen.»
Was hinzukommen muss, ist vor allem ein Zugang über die Ebene des subjektiven Erlebens. Zwar sind viele Psychologinnen und Psychologen durchaus bemüht, sich in die Welt ihrer Klient*innen hineinzuversetzen und deren Erleben nachzuvollziehen, und in Fachzeitschriften und Büchern werden mehr und mehr Texte publiziert, die die Erfahrungsperspektive widerspiegeln. Aber – trotz all dieser positiven Entwicklungen: Der Stellenwert der «eigentlichen» Erfahrung des Psychopathologischen gleicht doch meist eher einer Randnotiz. So wird den Stimmen der Betroffenen in der universitären Lehre häufig lediglich in Form eines Exkurses Raum gegeben, und bei der Entwicklung des ICD 11, das die WHO kürzlich publiziert hat, wurde zwar darauf geachtet, dass die Arbeitsgruppen divers in Bezug auf Alter, Geschlecht und Kultur sind, und dass die Perspektive von Praktiker*innen einbezogen wird – einen Menschen, der von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, sucht man in den Arbeitsgruppen jedoch vergeblich.
Die Auseinandersetzung mit der Perspektive des subjektiven Erlebens führt uns schnell zu den Geisteswissenschaften, und zwar ganz im Sinne Karl Jaspers, der eine Vielfältigkeit von methodischen Herangehensweisen forderte, die sich einander «ergänzen» sollen. Hier empfiehlt sich ein Blick in die Phänomenologie, einer philosophischen Richtung, die Karl Jaspers vertrat, und die sich mit der Erforschung der subjektiven Erfahrungen und der Wahrnehmung der Welt durch das Individuum befasst. Denken wir zurück an das Fischteich-Experiment: Ein so komplexes und vielschichtiges Phänomen wie das des Wahnerlebens, das uns zu existentiellen Fragen nach Bewusstsein und Realität führt, wird hier durch einen relativ eindeutigen und klar beschreibbaren Defekt im Gehirn erklärt - was, wenn man den Wahn in all seinen Facetten erlebt hat, eine sehr unbefriedigende und trivial anmutende Erklärung ist. Thomas Fuchs, ein deutscher Psychiater, der sich aus phänomenologischer Sicht dem Phänomen des Wahns angenähert hat, schreibt: «According to current concepts, delusion is considered as a result of faulty information processing or incorrect inference about external reality”, und fügt an: «This can hardly be the whole story.»
Wir ahnen jetzt, dass wir, wenn wir uns mit einem Phänomen wie dem des Wahns beschäftigen, nicht umhin kommen, uns mit Fragen auseinanderzusetzen, die uns in das noch weitgehend unbekannte Terrain des menschlichen Bewusstseins führen, und die schliesslich nicht nur andere Menschen, sondern unsere eigene Lebenswirklichkeit betreffen.
Erinnern wir uns an die Definition von Wahn im AMDP-Manual, der zufolge es sich um eine «Fehlbeurteilung der Realität» handelt, die «im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Erfahrung der gesunden Mitmenschen» steht. Ist es nicht eigentlich nur logisch, dass jemand, der in seinem beruflichen Alltag quasi am laufenden Band damit beschäftigt ist, seinen Mitmenschen den Realitätssinn abzusprechen, sich auch damit beschäftigen muss, was Realität eigentlich ist? Dies führt ihn allerdings bald zu einer Auseinandersetzung mit Fragen, die sein eigenes Selbst in existentieller Weise betreffen. .
4. Praktische Anleitung: Wie man sich seinen gesunden Menschenverstand bewahren kann
Vor etwa einem Jahr nahm ich an einer Fachtagung der DGSP (Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie) zum Thema «Normalität» teil. In dem Workshop, für den ich mich entschieden hatte, befand sich eine Gruppe von etwa dreissig Personen, die gebeten wurden, einen Stuhlkreis zu bilden, in dessen Mitte ein Tisch aufgestellt war. Der erste Vortragende, ein schlaksiger, älterer Herr mit runder Brille, der sich als Psychologe vorstellte, leitete seinen Beitrag ein, indem er die Gruppe zu einem Experiment einlud. Er deutete auf den Tisch, auf dem einige Kärtchen ausgebreitet waren, und erklärte, es sei nun unsere Aufgabe, zu den Wörtern auf den Kärtchen Assoziationen zu bilden. Jedoch keine «normalen» Assoziationen, sondern «gelockerte» Assoziationen – wie man sie von bestimmten pathologischen psychischen Zuständen her kennt. Die Teilnehmenden des Workshops schienen durch diese Einführung im ersten Moment durchaus amüsiert und neugierig - es erhob sich ein leises Gelächter und Getuschel im Raum - , doch bereits kurze Zeit später wich die anfängliche Begeisterung für diesen kreativen Einfall einem betretenen Schweigen im Raum – man scharrte unruhig mit den Füssen, hüstelte verlegen und richtete den Blick möglichst starr zu Boden. Schliesslich, wahrscheinlich, da sie die Stille nicht mehr ertrug, erbarmte sich eine rundliche Dame in geblümtem Hemd, aufzustehen und sich auf das Experiment einzulassen. Sie trat in die Mitte des Raumes und griff scheinbar wahllos nach einer der Karten: «Wand», stand in grossen Lettern darauf und nach einer Weile des Schweigens begann die Teilnehmerin, der Gruppe ihre Einfälle dazu mitzuteilen. Das Ergebnis: Die Assoziationen, die die Dame in Form von Stichworten mit bestimmter Stimme und konzentriertem Blick in den Raum warf, waren derart nachvollziehbar, rational und kohärent, dass rein gar nichts davon in irgendeiner Form «pathologisch» oder «abnormal» anmutete. Mir schien, als gäbe es eine Grenze, die sie nicht zu überschreiten wagte. Als sei sie nicht in der Lage – oder nicht gewillt – von ihrem gesunden Menschenverstand abzulassen, vom Weg der Vernunft zu weichen und sich in das unbekannte Terrain des Wahnsinns zu begeben.
Übrigens ist die Erfahrungsperspektive den Fachpersonen – Psychologinnen und Psychologen, Psychiaterinnen und Psychiatern sowie wissenschaftlich arbeitenden Personen – ja nicht grundsätzlich unbekannt. Ich zumindest habe einige Personen in meinem Bekanntenkreis, die sich nicht nur mit den theoretischen Grundlagen des «Pathologischen» beschäftigt haben, sondern durchaus auch in der Praxis mit den entsprechenden Phänomenen vertraut sind; und der Psychologe, der selber «einen an der Klatsche hat», ist in der Gesellschaft keine unübliche Annahme. Trotz all dieser offensichtlichen Berührungspunkte: Bemerkenswert ist doch, dass die typische Haltung zum Umgang mit dieser «Doppel-Expertise» darin besteht, sie um jeden Preis zu verheimlichen.
Um diesen Unwillen bzw. dieses Unvermögen, die unterschiedlichen Perspektiven auf den Wahnsinn zu vermischen und zu einer Einheit werden zu lassen, und um den impliziten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die theoretische Auseinandersetzung mit dem Pathologischen strikt von dessen praktischer Kenntnis getrennt werden müsse, zu beleuchten, wollen wir auf Michel Foucault zurückgreifen, der in seinem Werk «Wahnsinn und Gesellschaft» die Geschichte des Wahnsinns thematisiert. Dabei müsse man, so schreibt er in seinem Vorwort, «jenen Punkt Null wiederzufinden versuchen, an dem der Wahnsinn noch undifferenzierte Erfahrung, noch nicht durch eine Trennung gespaltene Erfahrung ist.» Foucault spricht von einer «Zäsur, die eine Distanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt» und nennt die Kultur, die «zurückweist, was für sie ausserhalb liegt.» Es gelte, eine «Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit» vorzunehmen, die «einen Wahnsinn gefangen hält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst die wieder hergestellt werden kann», wobei Foucault hier neben kulturellen Vorstellungen und Institutionen auch die Wissenschaft nennt, die Vernunft und Wahnsinn voneinander trennt. Er stellt fest: «Die Heilung des Irren liegt in der Vernunft des anderen.»
Es kann also keine schizophrenen Psychologinnen geben – zumindest nicht offiziell – und das Bemühen, ein Ineinanderverschmelzen von fachlicher Expertise und Erfahrungsperspektive zu verhindern, ist vor diesem Hintergrund durchaus verständlich. Doch – und hier möchte ich die Worte Fjodor Dostojewskijs wiederholen: «Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, dass man seinen Nachbarn einsperrt.» Dieses Zitat stellt den jahrhundertealten Mechanismus der Ausgrenzung nicht nur fest, sondern liefert auch eine Erklärung für das gesellschaftliche Bedürfnis, alles Abnormale, Pathologische von sich zu weisen und zu trennen: Nämlich die damit verbundene Auseinandersetzung mit dem eigenen Verstand – der eigenen Wahrnehmung, dem eigenen Bewusstsein – ja selbst der eigenen Realität. Rhodes und Gipps, zwei Autoren, die sich mit dem Phänomen des Wahns und dessen Entstehung beschäftigen, schreiben in einem ihrer Artikel, dass – sobald unsere Grundüberzeugungen und Annahmen über die Welt infrage gestellt werden, so wie es im Fall von wahnhaftem Erleben vorkommen kann – eine Inkongruenz wahrgenommen werde, und zwar «an incongruence that we realize with an unsettling, `vertiginious`feeling». Dieses Gefühl von «Schwindel», das sich einstellt, wenn die eigene Realität hinterfragt wird und ins Wanken gerät, ist derart verstörend und bedrohlich, dass es keinen Zugang zur persönlichen Erfahrungswelt erhalten darf.
Die Trennung von Vernunft und Wahnsinn, von wissenschaftlicher Betrachtung und subjektivem Erleben, von Arzt*in und Patient*in, scheint also sowohl eine wissenschaftliche als auch eine menschliche und schliesslich gesellschaftliche Notwendigkeit darzustellen, die sich mit Foucaults Worten zusammenfassen lässt: «Es kann keine Vernunft ohne Wahnsinn geben» Das Gefühl geistiger Gesundheit des Einen scheint am besten dadurch erreicht zu werden, dem Anderen dieselbe abzusprechen.
5. Ausblick
Nachdem wir beleuchtet haben, welchen Zweck die Trennung zwischen Psycholog*in und Patient*in, zwischen einer wissenschaftlichen Betrachtung der psychopathologischen Phänomene und deren subjektivem Erleben, zwischen einem gesunden und einem kranken Mitmenschen erfüllt, bleibt die Frage nach der «ganzen Geschichte». Karl Jaspers` Grundhaltung hierzu war, dass alle Methoden «weder einzeln noch zusammen das Ganze des Menschen erfassen können», und dass «jede Totalerkenntnis des Menschen» sich als Täuschung erweise. Trotzdem betont er stets die Wichtigkeit wissenschaftlicher Forschung und nennt zudem «Phantasie und Intuition» als Hilfsmittel, um zu einem psychopathologischen Verständnis zu gelangen. Auch wenn die Idee einer Synthese der Zugänge und Methoden zum Gegenstand der Psychopathologie eine Illusion bleibt: Wir sollten den «Monolog der Vernunft über den Wahnsinn», wie Foucault die vorherrschende Haltung beschreibt, zu einem Dialog werden lassen, der die Sichtweisen nicht zu einer Einheit verschmelzen lassen muss, wohl aber jene Figuren bedenken sollte, ohne deren Rollen sich keine Geschichte schreiben lassen wird.
Literatur
· Foucault, M. (1961). Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
· Fuchs, T. (2020). Delusion, Reality, and Intersubjectivity: A Phenomenological and Enactive Analysis. Philosophy, Psychiatry & Philosophy, 27, 61-79
· Jaspers, K. (1965). Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer
· Rhodes, J., & Gipps, R. G. T. (2008). Delusions, certainty, and the background. Philosophy, Psychiatry & Psychology, 15, 295–310.