Immer wenn es darum geht, über Erfahrungen zu schreiben, ärgere ich mich ein bisschen. Nicht, weil ich nichts zu erzählen hätte – im Gegenteil. Sondern weil meine Erfahrungen immer gleich so dramatisch anfangen. Ich klinge dann sofort wie das Klischee einer Frau mit kurdischem Background. Und das wollte ich eigentlich nie sein. Ich hätte mir gewünscht, meine Geschichte würde ganz anders beginnen – vielleicht überraschend, vielleicht banal.
Aber eben nicht wie aus einer melodramatischen Serie – nur ohne die Werbepausen.
Und doch: Hier sind wir.
Ich gehöre zur ersten Generation in meiner Familie, die den Weg ins akademische Leben gegangen ist. Ohne Vorbilder im eigenen Haushalt, aber mit viel Erwartungsdruck im Gepäck. Denn da waren sie: die Geister unserer Mütter und Großmütter, die flüsterten, dass jetzt bitte was Großes kommen soll. Unsere Familien hatten nicht aus Spaß ihre Heimat verlassen, Sprachbarrieren durchbrochen und in Schichten gearbeitet. Jetzt sollten wir liefern.
In meinem Elternhaus waren die Rollen klar verteilt. Während die Männer bei einem Çay über Politik, Geschichte oder Philosophie diskutierten, waren die Frauen damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen.
Aber das hieß nicht, dass sie nicht auch arbeiteten. Viele von ihnen waren berufstätig – meistens in Teilzeit – und trotzdem lastete die gesamte Hausarbeit und Kindererziehung auf ihren Schultern. Sie leisteten doppelte Arbeit, erhielten dafür aber kaum Anerkennung. Oft sogar gar keine.
Als ich mit dem Studium begann, dachte ich: Jetzt wird alles anders. Ich dachte, das, was ich zu Hause erlebt hatte, sei ein kulturelles Problem. Ein Problem meines Herkunftskontextes.
Doch schon nach den ersten Semestern wurde mir klar: Dieses Ungleichgewicht betrifft nicht nur mein Zuhause, nicht nur meine Familie, nicht nur „uns“. Es ist ein strukturelles Problem. Eines, das sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht. Ganz gleich, wie gebildet eine Frau ist, wie weit sie es gebracht hat – die Mechanismen, die sie kleinhalten, sind oft dieselben.
Das sollte sich jetzt ändern.
Wir, die neue Generation der Flüchtlingsfamilien von gestern, waren die Soldaten der Gleichstellungsbeauftragten im Privaten von heute.
Denn Veränderung beginnt nicht im Bundestag oder in internationalen Gremien, sondern am Esstisch. Das Private ist politisch – dieser Satz hat sich in meinem ersten Seminar zur feministischen Theorie eingebrannt. Er hat meinem diffusen Unbehagen eine Sprache gegeben. Ich wusste plötzlich: Es liegt nicht nur an mir. Es liegt am System.
Was mir aber außerhalb dieser feministischen Seminare auffiel – und fehlte – waren Philosophinnen. Ja, es gibt sie. In jeder Epoche, in allen Themenbereichen. Aber sie tauchen im Curriculum der meisten Unis nur dann auf, wenn es ausdrücklich „um Feminismus“ geht. Als wäre ihr Denken eine Fußnote der Philosophiegeschichte. Dabei haben so viele Frauen kluge, radikale, witzige, systemkritische Gedanken zu Metaphysik, Ethik, Politik, Erkenntnistheorie verfasst. Nur halt ohne Bart.
Also saß ich da, in einem Hörsaal voller Kant- und Nietzsche-Zitate, und fragte mich: Wo sind die anderen? Die, die so aussehen wie ich, die, die anders sprechen, anders leben? Die Frauen? Die Unsicheren? Die Ungehörten?
Ich merkte schnell, wie sehr es eine Frage der Gewöhnung ist, seine Gedanken auszusprechen. Viele, die sich trauten, laut zu denken, waren daran gewöhnt worden – zu Hause, in der Schule, im Leben. Sie redeten mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie bei Sokrates persönlich das Rederecht beantragt. Und wir? Wir redeten leiser. Vorsichtiger. Nicht, weil wir weniger zu sagen hätten. Sondern weil wir trainiert wurden, uns zu zügeln.
Einmal diskutierten wir einen Text von Nietzsche. Ich wies auf eine Stelle hin, die ich als klar frauenfeindlich empfand. Sofort regte sich Widerspruch – vor allem von Kommilitonen, die schon im Master waren und ihre Stimme mit der Autorität ganzer Bücherregale vortrugen. Ich blieb bei meiner Meinung. Später kamen Studentinnen zu mir, die sich für meinen Widerspruch bedankten. Sie hätten sich das nie getraut. Aber ich hätte auch für sie gesprochen.
In dem Moment habe ich begriffen: Es geht nicht nur um Inhalte, sondern auch darum, wer den Raum bekommt, sie zu äußern.
Und ehrlich gesagt, ich habe oft gezweifelt, ob ich in diesen Räumen richtig bin. Akademische Eltern hatte ich nicht. Geld für teure Bücher auch nicht immer. Ich habe braune Augen und braune Haare. Ich bin nicht selbstverständlich da. Und genau deshalb war es für mich ein kleines Wunder, als ich Prof. Dr. Elif Özmen kennenlernte. Eine Frau mit meinem Namen. Mit ähnlichem Hintergrund. Und mit einer beeindruckenden Präsenz in einem Fach, in dem ich mich oft wie ein Fremdkörper fühlte. Sie hat mir gezeigt: Ich bin nicht falsch. Ich bin nur ungewohnt.
Hannah Arendt hat gesagt, wir leben in einer bedingten Welt – aber wir bedingen sie auch. Und Adorno erinnert uns daran, dass wir so leben sollten, wie wir es für richtig halten, auch wenn uns das in Konflikte bringt. Diese Gedanken haben mich begleitet. Nicht als Zitate in Hausarbeiten, sondern als Orientierung in Momenten, in denen ich nicht wusste, ob ich wirklich dazugehöre.
Heute denke ich: Doch, ich gehöre dazu. Wir brauchen mehr Stimmen, die herausfordern. Die anders sind. Die den Raum nicht nur betreten, sondern ihn ein Stück weit umgestalten. Und wir brauchen mehr Frauen an Orten, an denen man sie nicht erwartet. Frauen mit Kopftuch. Frauen of Colour. Frauen mit Behinderung. Frauen, die ihre Stimme erheben – damit andere ihre eigene finden.