Gute Gründe für ein Philosophiestudium

Ist ein Philosophiestudium brotlose Kunst? Weshalb sollte man überhaupt Philosophie studieren? Wir haben einige Philosophen gefragt. 

Anja Leser: Nützliche Kompetenzen

Philosophinnen und Philosophen erwerben während ihres Studiums, neben inhaltlichen Kenntnissen, u.A. folgende Qualitäten:

  • Analyse von Texten, Theoriegebäuden, Strukturen und Ideen
  • kritische Auseinandersetzung mit Ideen
  • folgerichtige, logische Argumentation
  • Aufzeigen von Begründungen, Zusammenhängen, Widersprüchen und übersehenen Details
  • Hervorbringen von konstruktiven und gut begründeten Vorschlägen
  • Offenheit gegenüber ungelösten Fragen
  • Verschriftlichung komplexer Gedanken in eine verständliche Form.

Die durch das Studium entstandene Einübung und Erarbeitung der aufgeführten Fähigkeiten ermöglichen den Studierenden, diese in anderen (nicht philosophischen) Themengebieten anzuwenden.

Nicht nur Berufsbranchen, deren Arbeit sich mit Texten oder Kommunikation befassen (Journalismus, Verlagswesen, Kommunikation oder Bibliotheken), kommen für Philosophen in Frage. Auch in den Bereichen Kultur, NGOs, öffentliche Verwaltung oder bei Stiftungen finden Philosophinnen und Philosophen Anwendungsmöglichkeiten ihrer Fähigkeiten.
Dazu kommt, dass die ausgeprägte Sprach- und Argumentationskompetenz ebenso als wichtige Kompetenz für VerkäuferInnen oder BeraterInnen gilt. So werden in Grossbritannien beispielsweise häufig PhilosophInnen als AnalystInnen von Banken rekrutiert.
Neben all diesen fachfremden Tätigkeiten, bieten die Universitäten und Gymnasien weitere Möglichkeiten, die inhaltlichen Kenntnisse anzuwenden, ob als ForscherIn, DozentIn oder als Lehrperson. Trotzdem gibt es aber auch Verbände, die sich auf gewisse philosophieverwandte Themen spezialisiert haben, und auf inhaltlich ausgebildetes Personal angewiesen sind. So stellen auch die Ethikkommissionen eine Berufsmöglichkeit für Philosophiestudierende dar. Nicht zuletzt gibt es in der Schweiz auch einige Philosophinnen und Philosophen, die sich selbstständig gemacht haben und z.B. philosophische Beratungen oder Ähnliches anbieten.

Trotz den relativ rar gesäten „philosophischen Berufen“ verliert das Studium aber nicht an Attraktivität und Nützlichkeit. Ein Philosophiestudium wird oft auch als Denkschule erlebt, die für das Leben als solches als äusserst wertvoll empfunden wird. Ob es sich hierbei um eine inhaltliche, historische Übersicht über die gedankliche Entwicklung der Menschheit dreht oder um die Fähigkeit handelt, klarer zu denken, zu sprechen und zu schreiben: Kaum Jemand würde das eigene Philosophiestudium als gänzlich nutzlos beschreiben.


Philipp Blum: Die Frage ist bereits philosophisch

Die beste Antwort auf die Frage, ob es für ein Philosophiestudium gute Gründe gibt (braucht?), ist eine Analyse der Frage selbst: was meinen wir mit Gründen? in welcher Beziehung stehen sie zu Entscheidungen und Handlungen? was macht Gründe zu guten Gründen? brauchen wir Gründe, sind sie notwendig oder nur gut? sind verschiedene (Arten von) Gründen verschieden gut oder auf verschiedene Weise gut? Was meinen wir mit einem "Studium": einen Immatrikulationsstatus, ein Interesse, eine Beschäftigung, ein Bestehen gewisser Prüfungen, der Erwerb von ECTS? Und was meinen wir mit "Philosophie"? Kann man, so verstandene, "Philosophie" nur an Universitäten, so verstanden, "studieren", nur in philosophischen Instituten, nur als eingeschriebene Studierende, nur bei pünktlicher Abgabe aller erforderlichen Arbeiten? 

Die Frage nach dem Sinn der Philosophie und ihres Studiums führt uns direkt ins Dickicht philosophischer Fragen, aus dem kein nicht-philosophischer Weg wieder hinausführt. Darin liegt das Einzigartige der Philosophie: die Meta-Biologie (das Nachdenken über die Biologie, das Nachdenken über das Nachdenken über die biologischen Phänomene) gehört nicht selbst zur Biologie, die Meta-Mathematik nur beschränkt zur Mathematik, die Meta-Physik nicht zur Physik - sondern eben zur Philosophie! Die Meta-Philosophie hingegen ist ein Teil der Philosophie, manche sagen gar: mit ihr auf eine rätselhafte Weise identisch. Aber das ist auch wieder eine philosophische Frage.


Valentina Luporini: Faszinierende Fragen

Die Philosophie hat eine lange Tradition, die unsere Kultur tiefgreifend geprägt hat. Diese erstaunliche menschliche Fähigkeit, die Welt und sich selbst einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ist bis heute die Quelle und das Fundament aller anderen wissenschaftlichen Disziplinen geblieben. Im Dialog mit den Philosophen der Vergangenheit und Gegenwart befasst sich die Philosophie mit Themen wie Wissen, Handeln, Mensch, Natur, Kunst und vielen anderen. Die Philosophie befasst sich unter anderem mit Fragen wie: Gibt es einen freien Willen oder sind wir von unserer Natur bestimmt? Hat nur der Mensch eine Würde oder haben auch Tiere eine Würde? Wie lassen sich die Rechte der Menschen begründen und was genau ist eine Person? Was ist wahr?
Wie man sieht, ist das philosophische Untersuchungsfeld vielgestaltig und bietet einen unerschöpflichen Reichtum.

Was können wir wissen? Wie wollen wir leben? Was sollten wir tun? Was und wer sind wir wirklich? Wer solche Fragen faszinierend findet und sich nicht scheut, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen oder an seine Grenzen zu gehen, wird das Studium der Philosophie als besonders befriedigend empfinden. Die Freude am Diskutieren und Argumentieren, die Herausforderung, sich an einem intellektuellen Prozess zu beteiligen, der nicht zu einer endgültigen Antwort, sondern immer wieder zur Entdeckung neuer und überraschender Perspektiven führt, die Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen unserer Zeit - von der Menschenwürde bis zum Terrorismus, von der persönlichen Identität bis zum freien Willen: das sind nur einige Aspekte des Philosophiestudiums.

Die durchschnittliche Studiendauer in der Philosophie beträgt drei Jahre für den Bachelor-Abschluss, im Allgemeinen gefolgt von zwei Jahren für den Master-Abschluss. Auf den Webseiten der verschiedenen Fachbereiche der Philosophie finden Sie genauere Informationen über Form und Inhalt der verschiedenen Studiengänge, spezifische Forschungsbereiche und Spezialisierungsmöglichkeiten.


Laura Molinaro: Ein ganzer Mensch sein

Philosophie ist weder ein schwieriges Spiel für brillante Köpfe noch ein kompliziertes Rätsel, in dem man sich verlieren kann.Die Philosophie ist für mich die zutiefst menschliche Tätigkeit.

Das Leben und die Natur erscheinen uns zutiefst rätselhaft, und Forschung und Wissenschaft erschöpfen nie die Antworten, sondern schärfen unsere Fragen und geben Anlass zu neuen Fragen. Die Aufgabe der Philosophie ist es, die Herausforderung anzunehmen und diesen Fragen auf den Grund zu gehen, neue Fragen zu stellen, Zusammenhänge zwischen scheinbar weit auseinander liegenden Fakten zu suchen.

In der Geschichte der westlichen Philosophie haben sich unterschiedliche Ansätze und Themen entwickelt, die sich in zwei Makrogruppen einteilen lassen.Die erste hat eine eher historische Tendenz, die Quellen sammelt, Themen neu ordnet, diese Visionen mit einem neuen Blick neu vorschlägt und dazu neigt, Fragen zu stellen, die für die menschliche Sphäre relevant sind.Die zweite hingegen hat einen eher kreativen Ansatz, bei dem versucht wird, zu ermitteln, ob die neu entstandenen Fragen lösbar sind, wo sich verschiedene Theorien treffen und aufeinanderprallen und warum, und stellt im Allgemeinen Fragen zu Themen, die eher mit der Wissenschaft zusammenhängen. Natürlich ist diese Trennung nicht eindeutig, und die beiden Gruppen stellen oft dieselben Fragen.Was ist das Universum? Was sind materielle Objekte und menschliche Wesen?Was kann uns die Wissenschaft lehren? Was haben unsere Mitphilosophen vor Jahren, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden gesagt?Was ist eine soziale Gruppe? Was können wir mit Gewissheit sagen? Wie funktionieren unser Verstand und unsere Wahrnehmung der Welt?Wie funktioniert die Sprache? Was ist Geschlecht? Was ist Kunst?  Wie leben wir? Was bedeutet es, zu existieren?

Diese radikalen Fragen werden von Philosophen auf der ganzen Welt über alle Ansätze, Zeiten, geografischen Orte und den Lauf der Geschichte hinweg immer wieder aufgeworfen, bereichert, präzisiert und erforscht. Philosophie zu betreiben bedeutet nach meiner Erfahrung und der vieler anderer Philosophen, die Möglichkeit zu haben, diesen Fragen nachzugehen. Dieses Netzwerk von Menschen, Fragen, Antworten und Theorien erstreckt sich über Zeit und Raum und bildet einen großen Wandteppich, zu dem man beitragen kann. Und ich denke, weil diese Fragen die reinste Demonstration unserer Menschlichkeit sind, bedeutet die Beschäftigung mit der Philosophie in gewisser Weise, wirklich menschlich zu sein.

Bei der akademischen Beschäftigung mit Philosophie geht es nicht nur darum, die Gedanken vergangener Philosophen zu lernen, sondern auch darum, solide Methoden zu entwickeln, um diese Fragen zu stellen und zu beantworten. Ein guter Philosoph ist nicht nur kreativ, sondern auch sehr diszipliniert und klar. Wer diesen Weg einschlägt, erwirbt also im Laufe der fünf Studienjahre (drei Bachelor-, zwei Masterstudiengänge) das geeignete Handwerkszeug, um Fragen zu stellen und zu beantworten, sowie viele faszinierende Fakten und Theorien.

Beruflich gesehen ist die Lehrtätigkeit im Allgemeinen das Haupteinsatzgebiet der Absolventen dieser Studienrichtung. Die im Laufe der Jahre erworbenen Methoden sind jedoch auch für andere Tätigkeiten, sogar in Unternehmen, von Nutzen. Denn Kreativität und Strenge in Verbindung mit der Fähigkeit, viele verschiedene Informationen zusammenzufassen, führen zu Problemlösungsfähigkeiten, die in verschiedenen Arbeitsumgebungen eingesetzt werden können.


Nathalie Kiepe: Warum nicht?

Das Philosophiestudium war für mich ein Weg, auf völlig legitime Weise neugierig zu sein. Ein Philosophiestudium gibt einem die Befriedigung, viele Fragen stellen zu können, sich zu wundern - sich zu wundern über, grob gesagt, alles. Da das Spektrum der Philosophie sehr breit ist, ist für jeden Geschmack etwas dabei! Sie sind gerne Sonntags-Astrophysiker? Dann lernen Sie die Philosophie der Physik kennen. Sie haben eine Leidenschaft für logisches Denken und reagieren allergisch, wenn Ihre Verwandten eine Implikation versuchen, aber das Pech haben, eine wahre implizierende Aussage gefolgt von einer falschen implizierten Aussage zu machen, während sie die Wahrheit des Ganzen behaupten? Willkommen in der faszinierenden Welt der Logik. Oder vielleicht schickt Sie der Titel der Sammlung "Que sais-je?" direkt in eine Krise des Wissens und der Gewissheit? Dann ist vielleicht die Erkenntnistheorie einen Umweg wert.

Ich könnte noch einige Absätze mit solchen Beispielen fortfahren, aber Sie werden es verstanden haben: Ich denke, dass jeder, der neugierig ist, gerne Ideen diskutiert, große Werke liest und gerne debattiert, in einem Philosophiestudium glücklich werden kann. Natürlich sind die Vorlesungen anfangs einführend und die Auswahl ist vielleicht nicht sehr groß, aber nach dem Propädeutikum wird die Auswahl in der Regel immer größer.


Lionel Thalmann: Frei sein, wachsen, ABER...

Kein anderes Studium wird Dir auf die gleiche Weise die Möglichkeit bieten, dem ganzen Spektrum Deiner Interessen nachzugehen und Dich sowohl auf einer persönlichen wie auch auf einer professionellen Ebene weiterzuentwickeln. Das wurde in den Beiträgen von den Kolleginnen und Kollegen bereits deutlich zum Ausdruck gebracht.

Zu einer ehrlichen Antwort gehört aber auch die Kehrseite: Wenn es Dir um Anerkennung geht, wenn Du wünschst, in der Gesellschaft zu einer allgemein respektierten und hochgeschätzten Berufsgruppe zu gehören, dann hast Du als Philosoph, als Philosophin im Grunde nur eine Möglichkeit: Du musst Aussergewöhnliches leisten. Du musst aus den tausend Bewerbern, die sich den harten Weg zu einer Professur hochkämpfen, hervorstechen, um Dir die vier Buchstaben "Prof" vor den Namen schreiben zu dürfen. Du musst eine aussergewöhnliche, neue Idee entwickeln und diese ausserhalb des geschützten Bereichs der Alma Mater der breiten Öffentlichkeit schmackhaft machen. Du wirst weder gescoutet, noch findest Du in der Privatwirtschaft eine Führungsposition, bei welcher als Voraussetzung ein Studium der Philosophie gefordert wird. Du musst Dir den Weg selbst bahnen.

Wenn Du als durchschnittlicher Student mit einem "genügenden" Abschluss zu einem angesehenen Beruf gelangen willst, dann studiere Medizin, werde Ingenieur, Pilot oder Banker. Als durchschnittliche Philosophin, als jemand, der den Unterschied zwischen dem platonischen Ideenhimmel und dem kantischen "Ding an sich" kennt und diesen in einer Abschlussarbeit darzulegen versteht, bist Du für die Gesellschaft (noch) nichts wert. Als durchschnittlicher Arzt hingegen, als mittelgute Ingenieurin wirst Du für Deine Tätigkeit auch ohne aussergewöhnliche Leistung allgemein anerkannt und respektiert.

Dies ist eine Tatsache, dessen Gewicht vielen Studierenden der Geisteswissenschaften während des Studiums noch nicht wirklich bewusst ist; doch die künstliche Distanz, das riesengrosse Privileg, welche uns das Studium der Philosophie gegenüber solchen "gesellschaftlichen Problemen" einzunehmen erlaubt, bleibt leider nicht für immer erhalten.

Dies ist mein Ratschlag an alle, welche mit dem Gedanken spielen, sich für ein Studium der Philosophie zu entschieden: Wage es und staune, wie es Dich wachsen lässt; aber vergiss Dich dabei nicht als Teil der Gesellschaft, die Du zum Problem erklärst. Versuche Dich auch in anderen Gebieten, die überhaupt nichts mit Philosophie zu tun haben; sprich nicht nur mir Leuten aus Deiner Bubble und arbeite neben dem Studium, um möglichst schnell finanziell unabhängig zu werden.  


 

NN: Mein Grund ist besser

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