Die Wissenschaftsphilosophie, auch bekannt als Wissenschaftstheorie oder Philosophie der Wissenschaft, ist ein Teilgebiet der Philosophie, das sich mit den grundlegenden Fragen zur Natur, Methodik und Erkenntnis der Wissenschaften befasst. Sie erforscht die philosophischen Grundlagen, Prinzipien und Annahmen, auf denen das wissenschaftliche Denken und Handeln gründet.
Historische Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie:
Die Wurzeln der Wissenschaftsphilosophie wird von einigen Philosophiehistorikern wie beispielsweise Losee weit zurück in die Geschichte der Philosophie verortet. Gemäss ihnen haben sich bereits antike Denker wie Aristoteles und Platon Fragen zur Natur des Wissens, d.h. den Kriterien, gemäss denen etwas einen Anspruch auf Wahrheit hat, gewidmet und daher Grundfragen der Wissenschaftstheorie behandelt, selbst wenn die Wissenschaftstheorie als konkrete Fragestellung damals noch nicht existierte.
Diese kommt erst nach der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, die von Galileo Galilei, Johannes Kepler und Isaac Newton angeführt wurde und den Grundstein für modernes wissenschaftliches Denken legte, auf. Philosophen wie Francis Bacon, Berkeley, Hume und Kant fühlten sich verpflichtet, die Wissenschaft und ihre Methoden zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen.
Im 20. Jahrhundert erlebte die Wissenschaftsphilosophie eine erneute Intensivierung der philosophischen Reflexion, die man sicher teilweise der Grundlagenkrise in der Mathematik und der Physik zuschreiben kann. Die Grundlagenkrisen dieser Disziplinen wurden ausgelöst durch die Publikation der Russelschen Antinomie, nährte sich jedoch an weiteren Fragen zur Beschaffenheit der Mathematik und der in ihr beinhalteten Axiome. Es bildete sich im Anschluss dazu im Jahre 1924 der sogenannte Wiener Kreis. Der Wiener Kreis, umfasste unter der Leitung von Moritz Schlick eine Gruppe Intellektueller, die sowohl aus der Philosophie als auch der Mathematik und Naturwissenschaften kamen. Sie legten den Schwerpunkt auf ebendiese Grundlagendebatten in den Natur- und Sozialwissenschaften, der Mathematik und der Logik . Der innerhalb des Wiener Kreises entwickelte logische Empirismus hatte grossen Einfluss auf die Epistemologie und Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel brachte Karl Popper mit seinem Konzept des Falsifikationismus eine neue Sichtweise auf die Wissenschaft voran, indem er betonte, dass Theorien anhand von widerlegbaren Hypothesen überprüft werden sollten. Thomas Kuhn führte den Begriff der "paradigmatischen Verschiebung" ein, der die nicht-linearen Entwicklungen wissenschaftlicher Theorien beschreibt.
Kernthemen der Wissenschaftsphilosophie:
Die Wissenschaftsphilosophie beschäftigt sich mit einer breiten Palette von Fragen, darunter:
1. Wahrheit und Realität: Wie können wir sicher sein, dass wissenschaftliche Erkenntnisse wahr sind und die Realität korrekt widerspiegeln? Inwiefern können wissenschaftliche Theorien als Annäherungen an die Wahrheit angesehen werden?
2. Methodik und Erklärung: Welche Methoden verwenden Wissenschaftler, um Phänomene zu untersuchen und zu erklären? Gibt es eine einheitliche wissenschaftliche Methode oder verschiedene Ansätze für verschiedene Disziplinen?
3. Induktion und Deduktion: Welche Rolle spielen induktive und deduktive Argumente in der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung? Sind sie gleichwertige Methoden, um zu gültigen Schlussfolgerungen zu gelangen?
4. Verhältnis von Theorie und Beobachtung: Wie sind theoretische Konzepte mit empirischen Beobachtungen verknüpft? Inwieweit beeinflussen Theorien unsere Wahrnehmung und Interpretation von Daten?
5. Wissenschaftliche Erklärungen: Was macht eine gute wissenschaftliche Erklärung aus? Welche Rolle spielen Gesetze, Modelle und Hypothesen bei der Bereitstellung von Erklärungen für Naturphänomene?
6. Reduktionismus vs. Holismus: Sollte man komplexe Phänomene auf einfachere Bestandteile reduzieren, um sie zu verstehen, oder sollten sie als Ganzes betrachtet werden?
7. Ethik in der Wissenschaft: Welche ethischen Überlegungen sollten bei wissenschaftlicher Forschung und Praxis berücksichtigt werden? Wie beeinflusst die Wissenschaft die Gesellschaft und umgekehrt?
Aktuelle Diskussionen und Herausforderungen:
Die Wissenschaftsphilosophie steht stets vor neuen Herausforderungen und Debatten. Einige aktuelle Themen umfassen:
1. Wissenschaftliche Erklärungen in komplexen Systemen: Angesichts der steigenden Komplexität in vielen wissenschaftlichen Disziplinen fragen Philosophen, wie angemessen wir Phänomene in komplexen Systemen erklären können.
2. Künstliche Intelligenz und Wissenschaft: Die Entstehung von KI wirft Fragen auf, wie wissenschaftliche Erkenntnisse generiert und interpretiert werden, wenn sie von Maschinen unterstützt oder produziert werden.
3. Verhältnis von Theorie und Experiment: Die Debatte über die Bedeutung von Theorien und Experimenten in der Wissenschaft setzt sich fort. Wie stark sollten Theorien an experimentelle Ergebnisse gebunden sein?
4. Wissenschaftliche Objektivität und Wertfreiheit: Philosophen diskutieren, ob absolute Objektivität in der Wissenschaft möglich oder wünschenswert ist und wie Werturteile die Forschung beeinflussen können.
5. Interdisziplinarität: Angesichts der zunehmenden interdisziplinären Forschung stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze und Methoden.
Einen weiteren Einführungstext zur Wissenschaftsphilosophie von Patrick Schneebeli finden Sie hier, eine Einführung in die Philosophie der Physik von Anja Leser hier, eine zur Philosophie der Psychiatrie von Jelscha Schmid hier, eine zur Philosophie der Psychologie von Lionel Thalmann hier.
Einführende Literatur
John Losee: A Historical Introduction to the Philosophy of Science, Oxford, 2001
Martin Carrier: Wissenschaftstheorie, Hamburg: Junius, 2006.
Peter Godfrey-Smith: Theory and Reality. An Introduction to the Philosophy of Science, Chicago: The University of Chicago Press, 2003.
Gerhard Schurz: Philosophy of Science. A Unified Approach. New York, London: Routledge, 2014
Klassiker der Wissenschaftsphilosophie
Rudolf Carnap: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft. [1966]. Nymphenburger, München 1989.
Rudolf Carnap, Hans Hahn, Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis. 1929. Artur Wolf, Wien 1979. Abgedruckt in Rainer Hegselmann (Hrsg.): Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979, S. 81–101.
Wolfgang Deppert: Theorie der Wissenschaft. Band 1–4, Springer VS, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-14023-6 (Band 1), ISBN 978-3-658-14042-7 (Band 2), ISBN 978-3-658-15119-5 (Band 3), ISBN 978-3-658-15123-2 (Band 4)
Pierre Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. [1906] Meiner, Hamburg 1978.
Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. 7. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-28197-6.
Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. 1935. Hrsg. von L. Schäfer und Th. Schnelle, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-27912-2.
Bas van Fraassen: The Scientific Image. Clarendon Press, Oxford 1980, ISBN 0-19-824424-X.
Carl Gustav Hempel: Philosophy of natural science. Prentice-Hall, Englewood Cliffs, N.J. 1966. (dt.: Philosophie der Naturwissenschaften. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1974)
Paul Hoyningen-Huene: Systematicity: The Nature of Science. (= Oxford studies in philosophy of science). 2. Auflage. Oxford University Press, New York 2015.
Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2., rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-27625-5.
Karl R. Popper: Logik der Forschung. Hrsg. von Herbert Keuth. 11., durchges. u. erg. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2005, ISBN 3-16-148111-9.