Das Interview führte Anja Leser.
Philosophie.ch: Welche Rolle hat die Philosophie in der Gesellschaft und welche sollte sie haben?
Welche Rolle die Philosophie innehat, hängt von der Gesellschaft ab, von der man spricht. Dieser Unterschied zeigte sich mir beispielhaft in den zwei Ländern, in denen ich studierte. So zog meine Studienwahl in der Schweiz regelmässig die Rückfrage nach sich, welchen Nutzen mir das eintrage. In Wien dagegen hörte ich des Öfteren: «Ah, das ist ja interessant, worüber arbeitest du gerade?» Aufgrund solcher Erfahrungen neige ich zu der Auffassung, die zweifelsohne eine Verallgemeinerung darstellt, dass die Schweizer Gesellschaft der Philosophie keine grosse Bedeutung beimisst. Hier geniessen diejenigen Metiers ein Ansehen, die ein geregeltes Einkommen versprechen. Das schien mir in Wien anders zu sein.
Allerdings ist es keineswegs so, dass sich die Menschen in der Schweiz nicht mit philosophischen Themen beschäftigten, sei es mit Fragen rund um den Klimawandel oder mit dem Sinn des Lebens. Das zeigt sich mir allein schon bei Gesprächen mit Fremden im Zug, wie sie in der Schweiz ohne Weiteres möglich sind. Mit anderen Worten, die Philosophie spielt für Schweizerinnen und Schweizer durchaus eine Rolle. Es gehört aber nicht unbedingt zu deren Selbstverständnis, dies anzuerkennen. Ob sich daran etwas ändern müsste? Ich weiss nicht … Wir könnten vielleicht vermehrt auf ein öffentliches Bewusstsein hinarbeiten, dass die Philosophie eine Ressource ist, aus der man schöpfen kann, wenn es um grosse Lebensthemen geht wie Tod, Geburt, Partnerwahl, Umgang mit Geld, Umweltbewusstsein, Spendentätigkeit und ähnliche Dinge.
Philosophie.ch: Was gehört zu Ihren jetzigen Hauptaufgaben im Berufsalltag und welche Vorzüge bietet Ihnen Ihre philosophische Ausbildung?
Unterscheidungen zu treffen ist sicher eine wichtige Fähigkeit, die ich mir im Philosophiestudium aneignete. Dazu gehört auch die Unterscheidung zu treffen, was in meinen Zuständigkeitsbereich fällt und was nicht. Das Philosophiestudium ist (oder war) nicht durchstrukturiert wie zum Beispiel das Medizinstudium. Entsprechend musste ich mich selber organisieren und motivieren. Das war sehr anspruchsvoll und ich habe sicher ein bis zwei Jahre damit verbracht, mir diese Fähigkeit anzueignen. Dies hatte gleichzeitig den Vorzug, dass ich andere Sphären des Lebens erkunden konnte. Mit der Zeit zeigten mir diese Umstände auf, wie nützlich es ist, sich selber Ziele zu setzen und Wegmarken zu definieren.
Philosophie.ch: Was hat Ihnen die vertiefte Auseinandersetzung mit der Philosophie gebracht, abgesehen von den eben genannten Vorteilen in Bezug auf Ihre Arbeit? Inwiefern war diese Auseinandersetzung nützlich für Ihr Leben im Allgemeinen?
Um mit etwas Negativem anzufangen, allen psychologischen Empfehlungen zum Trotz: Das kritische Denken, das in meinem Verständnis wesentlich zur Philosophie gehört, zieht dir mitunter den Boden unter den Füssen weg. Es kann sehr verunsichernd sein, wenn man bemerkt, wie viel man im Grunde nicht weiss und nicht versteht. Wenn eine geliebte Überzeugung plötzlich über Bord geht, gerät man nicht selten ins Wanken. Ein weiterer unliebsamer Nebeneffekt des Philosophiestudiums, quasi eine déformation professionelle, besteht in der hartnäckigen Versuchung, den Mitmenschen unter die Nase zu reiben, wie viel Halbwissen sie mit sich herumschleppen und welche ihrer Argumente weder schlüssig noch gültig sind. Ehe man sich’s versieht, ist man sozial unerwünscht.
Die positiven Aspekte wiederum erschliessen sich teilweise aus diesen Bemerkungen. Wenn man das destabilisierende Moment des philosophischen Infragestellens aushält, macht es dich robuster gegenüber den vielfältigen Schocks, die das Leben bereithält. Man entwickelt die Zuversicht nicht gleich unterzugehen, selbst wenn eine sicher geglaubte Gewissheit in sich zusammenfällt. Im besten Fall führen solche Erfahrungen zu einer intellektuellen Bescheidenheit und Redlichkeit. Philosophie kann sehr existenziell sein, aber gerade darin liegt auch ihr Potenzial.
Philosophie.ch: Was meinen Sie, sagt das über sie als Person aus, dass Sie Philosophie als Studienfach gewählt haben?
Bei mir spielte eine Rolle, dass mein Vater Wiener ist und mir von Haus aus eine grosse Wertschätzung für Kultur- und Geistesgeschichte, Literatur und Philosophie vermittelt wurde (vgl. meine Antwort auf die erste Frage). Weiters hatte ich im Gymnasium einen guten Freund, den ich sehr bewunderte für seine geistige Leistungsfähigkeit und der sich für das Philosophiestudium entschied. Es war eine Kombination verschiedener Aspekte, die aus meiner Lebenswelt heraus handfesten Einfluss ausübten.
Auf einer mehr geistigen Ebene hegte ich den Eindruck, dass die Philosophie diejenigen Fragen behandelt, die mich wirklich umtreiben, die existenziellen nämlich. Mir sagte auch die Art und Weise zu, wie diese Behandlung vonstatten geht. Es ist weniger ein empirisches Forschen als vielmehr eine Form essayistischen Reflektierens. Abgehoben von der Realität sollte der eigene Denkstil freilich nicht sein. Dennoch liegen mir die kreativen Spielräume besonders am Herzen, die wir uns in der Philosophie bisweilen erschliessen.
Philosophie.ch: Welche anderen (Berufs-) Erfahrungen, Qualifikationen oder Gremien- und Vereinsarbeiten haben Ihnen nebst dem Studium den erfolgreichen Berufseinstieg erleichtert/die Karriere vorantreiben lassen? Was würden Sie PhilosophInnen für den Berufseinstieg raten?
Mein Berufseinstieg war anspruchsvoll und auch nicht sofort von Erfolg gekrönt. Während des Studiums hatte ich mehrere Nebenjobs: Ich arbeitete als Redaktor beim Studierendenmagazin der Universität Bern, ich organisierte zusammen mit Freunden den Lesesessel im Berner Kulturlokal ONO und ich waltete weiter als Hilfsassistent an zwei universitären Instituten. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass mir diese Erfahrung bei Bewerbungen oft zum Vorteil gereichte.
Auf jeden Fall ist die Pflege des persönlichen und beruflichen Netzwerkes ein entscheidender Faktor. Die Mehrzahl der Stellen wird ja gar nicht erst ausgeschrieben. Mein Ratschlag ist, sich früh damit zu beschäftigen, warum man sich für Philosophie interessiert und was man davon in eine spätere Berufstätigkeit mitnehmen will. Vor diesem Hintergrund kann man sich Betriebe, Organisationen und Personen suchen, die Lust machen auf eine Zusammenarbeit. Empfehlenswert scheint mir, bereits während des Studiums entsprechende Veranstaltungen zu besuchen und erste Kontakte in die Berufswelt zu knüpfen. Bewirbt man sich dann, ist man diesen Institutionen bereits ein Begriff. Das ist in der kleinen Schweiz besonders wichtig.
Philosophie.ch: Was halten Sie von den Aussagen, dass das Philosophiestudium in die Brotlosigkeit führen wird oder, dass PhilosophieabsolventInnen «nichts Richtiges» können?
Diese Aussage kann man als empirische oder als normative Behauptung interpretieren. Als empirische Behauptung ist sie angreifbar, soweit ich weiss. Zumindest für die USA gibt es Studien, wonach Absolvierende eines Philosophiestudiusm wirtschaftlich nicht wesentlich benachteiligt sind.
Als normative Behauptung führt uns diese Frage zurück zur Eingangsfrage nach dem Ansehen, das die Philosophie in der Schweizer Gesellschaft geniesst. So gesehen reflektiert diese Aussage die vermutlich vorherrschende Meinung, dass Philosophie eben kein richtiger, echter, «währschafter» Beruf ist. Andere Forschungszweige sind das allerdings auch nicht. Der Vorwurf trifft also wenn, dann nicht die Philosophie allein.
Dann ist da noch die Aussage, dass PhilosophInnen nichts Richtiges können. Das ist ebenfalls falsch. PhilosophInnen können Argumente erkennen und kritisieren, sie können recherchieren, systematisch lesen, vernetzt denken und den Kern einer Sache schriftlich herausschälen. Wie anfangs erwähnt sind sie auch erprobt darin, Ambiguitäten, Unsicherheiten und Unwissenheit auszuhalten. Das sind aus meiner Sicht äusserst wertvolle Fähigkeiten. Hier gilt es sich auch gegen verkürzte Vorstellungen davon zu wehren, was Fähigkeiten überhaupt sind. Klar, ein Schreiner kann Holz verarbeiten. Das ist eine Fähigkeit, das steht ausser Frage. Aber ein Argument auseinandernehmen ist eben auch eine Fähigkeit, und zwar eine, die je nach Situation sehr wertvoll sein kann.