PhilosophInnen in der Schweiz

Andrea Anderheggen: Fliegenglas Verlag

vom Fintech-Startup Gründer zum Hörbuchverleger

    Andrea Anderheggen: Startup-Gründer.

    Mit einigen talentierten Kollegen völlig anderer Gesinnung habe ich nach dem Studium ab 2006 die Zahlungsart Sofortüberweisung.de aufgebaut – ein Online-Payment System, das wir 2013 an die Klarna Group verkaufen konnten und heute in ganz Europa etabliert ist.

    Kurz nachdem das erste iPhone und der App Store veröffentlicht wurden, gründete ich dann die Mobile Commerce Plattform Shopgate, die zu Beginn Online-Händlern half, mobile Apps und mobile Websites zu erstellen. Anfang 2018 gab ich schließlich die Geschäftsleitung an Kollegen ab.

    Nach einer kurzen Auszeit habe ich dann 2019 den Hörbuchverlag Fliegenglas gegründet, der einen beruflichen Weg zurück zur Philosophie darstellt. – Fliegenglas bietet eine einzigartige Sammlung an ungekürzten philosophischen Originaltexten als Hörbuch an.


    Philosophie.ch: Inwieweit hat Dich die Philosophie begleitet oder geprägt?

    Andrea Anderheggen: Sie hat mich sehr geprägt. Dazu muss ich etwas ausholen:

    Philosophie habe ich nie studiert, um mir historisches Wissen anzueignen. Es ging mir immer um grundsätzliche Fragen, die ich mir stellte, auf die ich eine Antwort suchte oder durch bessere Fragen oder Gelassenheit ablösen wollte.

    Während ich gegen Endes des Studiums an meiner Lizentiatsarbeit zu Ludwig Wittgensteins Privatsprachenargument schrieb und dabei parallel an der Lektüre von Heideggers Sein und Zeit und dessen späteren Werken arbeitete, fiel es mir immer schwerer, die meisten der philosophischen Erklärungen überhaupt noch ernst zu nehmen.

    Immer häufiger hatte ich den Eindruck, dass die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert – wie es Wittgenstein etwas pointiert formuliert. Je genauer ich nachdachte, desto ungenauer und verwirrender schienen die philosophischen Fragen, die Begriffe und erst recht ihre Erklärungen zu werden.

    Der, wie sich später herausstellte, viel zu radikale Verdacht nach sechs Jahren Philosophiestudium: Die theoretische Philosophie hat sich selbst abgeschafft.

    So wunderte ich mich in Seminaren und Vorlesungen regelmäßig darüber, wie man die genauen, sprachlichen Untersuchungen eines Wittgenstein einfach ignorieren könne, um eine philosophische Theorie zu diskutieren oder wie man sich auf konstruierte Detailprobleme fixieren konnte, die in der Daseinsanalyse eines Heideggers kaum von Relevanz bleiben konnten und nur einen konstruierten Teil eines viel größeren In-der-Welt-Seins und seiner Möglichkeiten ausmachten.

    Mein Abschluss in Philosophie war deshalb nicht nur ein akademischer Abschluss oder das Absolvieren eines Diploms, sondern ein – wie sich später herausstellte zu voreiliges – Abschliessen mit der Philosophie selbst.

    Einige Jahren vergingen, ohne dass ich mich ernsthaft mit Philosophie auseinandersetzen wollte.

    Eines schönen Tages dann, auf einer einsamen, geschäftsbedingten Autofahrt quer durch Deutschland, sind Zweifel entstanden:

    Stellen die präzisen Untersuchungen Wittgensteins zu Worten wie «Bedeutung», «Wissen», «Denken», «Meinen» oder die dichterischen Erzählungen Heideggers über Denken und Dasein vielleicht nicht das Ende, sondern einen weiteren Anfang dar? Hatten diese Philosophen selbst denn mit der Philosophie abgeschlossen? Hatte ich die Gedanken dieser Philosophen vielleicht zu streng, zu eng oder zu radikal gelesen?

    Philosophie.ch: Und wozu haben diese Fragen dann geführt?

    Andrea Anderheggen: Na ja, zunächst wollte ich die Philosophen und ihr Denken, das mich so geprägt hat, noch einmal genauer verstehen. Das sind nicht nur Wittgenstein und Heidegger, sondern auch Kant, Descartes, Platon, Aristoteles, Frege, Quine, Rorty und Habermas.

    Das Problem: Ich hatte keine Zeit.

    Denn das Gründen von Unternehmen ist ein 150%-Job, der dich Tag und Nacht in Gedanken begleitet und emotional durch alle Höhen und Tiefen schleudert. Zudem konnte ich meiner Familie kaum zumuten, mich in der viel zu kurzen Zeit am Wochenende mit philosophischen Zweifeln auseinanderzusetzen, statt das bunte Familienleben mit Kindern zu leben.

    Mein Tag hatte nicht genügend Stunden.

    Glücklicherweise fiel mir dann eine Idee ein:

    In der Firma hatte ich einen Mitarbeiter namens Jürgen Gergov, der zwar im Verkauf arbeitete, aber eigentlich ein ausgebildeter Sänger und großartiger Sprecher ist. Ihn fragte ich eines Tages, ob er bereit wäre, diese Bücher im Original als Hörbücher einzulesen. Er nahm den Auftrag trotz der ungeheuren Herausforderungen solcher Werke gerne an.

    So entstand über die Jahre eine kleine, feine Privatsammlung an philosophischen Hörbüchern.

    Die Zeit, die ich regelmäßig mit Geschäftsreisen im Auto oder Flugzeug verschwendete, wurde plötzlich zur philosophischen Hörzeit und zu wertvollen Stunden des Nachdenkens.

    Nicht nur das:

    Durch das Hören dieser Werke habe ich einen für mich neuen Standpunkt entdeckt, der mir beim Lesen und selbst in den Seminaren nie richtig aufgefallen, geschweige denn diskutiert worden ist.


    Philosophie.ch: Welcher war das?

    Auf den Punkt gebracht:

    Die grossen Philosophen waren in erster Linie Suchende.

    Und: Die Suche ist längst nicht abgeschlossen.

    Platons Ideenlehre, Wittgensteins Gebrauchstheorie der Sprache, Kants Kritiken, Heideggers Denken sind Ausdruck einer Tätigkeit, um das Offensichtliche, Selbstverständliche genauer zu verstehen. Es sind Annäherungen und Untersuchungen, die keineswegs abgeschlossen sind. Feste, unzweifelhafte Theorien sind es schon gar nicht, selbst wenn Leser:innen inklusive meinem jüngeren Ich aus praktischen Gründen immer wieder versuchen, an der Idee einer Theorie festzuhalten.

    Durch das Hören dieser Werke habe ich nach und nach die Momente und Passagen entdeckt, in denen sich diese Philosophen explizit relativierend zu ihren eigenen Ausführungen äußern, ihrem Zustand als Suchende Ausdruck verleihen und damit den Raum für weiteres Nachdenken öffnen: Äußerst spannende Momente, die in meinem Studium viel zu wenig Beachtung gefunden hatten und in der Sekundärliteratur oft übersehen werden.

    Im Detail darüber zu sprechen, würde wohl den Rahmen hier komplett sprengen.


    Philosophie.ch: Zurück zum Beruf: Hilft das Philosophiestudium bei Deiner beruflichen Tätigkeit konkret? Wenn ja, inwiefern?

    Andrea Anderheggen: Ja, sicher! – Zunächst habe ich festgestellt, dass es drei Fähigkeiten gibt, die dank eines Philosophiestudiums ausgebildet werden und im Berufsleben äußert nützlich sind:

    Lesen, schreiben und denken.

    Zunächst das Lesen: Wer schon einmal einen philosophischen Originaltext gelesen hat, weiss, dass er meist ungeheuer dicht an Gedanken oder Konsequenzen ist. Um solche Texte zu verstehen, muss man ein Auge dafür entwickeln, worauf es inhaltlich ankommt und was daraus folgt. Man muss die Worte und Sätze nach Ihrer Relevanz sortieren können und eine Fantasie dafür entwickeln, wohin solche Gedanken implizit führen.

    Diese Fähigkeit, die man mit dem Philosophiestudium erwirbt, ist alles andere als selbstverständlich: Allzu oft führt im Berufsleben ungenaues Lesen dazu, dass man Mitarbeitende, Kundinnen und Kunden, Partner:innen, Wettbewerber, Investoren falsch oder zu ungenau versteht. Mit entsprechenden Folgen.

    Schreiben ist eine weitere Fähigkeit, die man erwirbt und die ungeheuer wichtig ist im Berufsleben. Wer klar und verständlich schreiben kann, verfügt über ein mächtiges Instrument, um Menschen mit seinen Gedanken zu überzeugen. Die geschriebene Sprache ist in unzähligen Kontexten wichtig. In jeder E-Mail, jedem Brief, jeder Bewerbung, jeder Präsentation, jedem Bericht, jedem Post macht diese Fähigkeit den Unterschied zwischen gut und großartig aus.

    Schließlich ist auch die philosophische Denkweise sehr viel wertvoller als gemeinhin gedacht.

    Gerade in der heutigen Zeit:

    Es gilt ständig vieles oder alles zu hinterfragen. Wer sich auf Dogmen ausruht, riskiert, überholten Konzepten nachzulaufen, die dauerhaft nicht zum Erfolg führen. Wie kaum jemals vor unserer Zeit, gilt es, sich häufig selbst neu zu erfinden. Viele Studien und Berufe, die es heute gibt, riskieren mit der Digitalisierung in Zukunft an Relevanz zu verlieren. Das grösste Risiko heute besteht darin, keine Risiken zu nehmen. Wer nicht hinterfragen kann, ist über kurz oder lang mit unlösbaren Problemen konfrontiert.


    Philosophie.ch: Gibt es denn auch inhaltliche berufliche oder private Vorteile eines Philosophiestudiums?

    Ja, unabhängig von den drei wichtigen Fähigkeiten zu lesen, schreiben und zu denken, gibt es auch inhaltliche Gründe, weshalb Philosophie wieder wichtiger wird:

    Beispielsweise fällt mir immer häufiger auf, dass – zumindest in meinem relativ grossen Umfeld – viele Menschen daran leiden, viel zu überzeugt von sich selbst zu sein. Zumindest in ihrem Auftreten.

    Ich bin kein Psychologe, aber ich vermute, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit all ihren negativen Folgen langsam aber sicher zur Volkskrankheit deklariert werden müsste:

    Immer weniger Menschen leben nach dem sokratischen Grundsatz, dass sie eigentlich nichts oder nur sehr wenig wissen und etwas mehr Bescheidenheit angebracht wäre. Immer mehr Menschen hören nicht zu, um zu lernen, sondern um zu antworten und sich irgendwie durchzusetzen – zum Nachteil aller. Dabei wird auch die Wahrnehmung der Grenze zwischen sachlicher und persönlicher Kritik immer schwächer.

    Allgemeiner formuliert: Empathie und Ethik müssen einen stärkeren Platz in unserer Gesellschaft einnehmen, sofern der Mensch nicht als selbstverliebtes, egoistisches Instagram-Profil enden will. Und dazu ist zumindest die praktische Philosophie berufen.

    Auch die zu Beginn des Studiums besuchten Logik-Vorlesungen und -Seminare prägen mich bis heute. Es ist eben nicht das Gleiche, ob in einer Vereinbarung ein «und» oder ein «oder» steht. Und viel öfter als man sich vorstellen kann, werden in der Wirtschaft aus Nachlässigkeit oder Inkompetenz grob fahrlässige logische Fehler und Rückschlüsse begangen, die teilweise katastrophale Konsequenzen haben. Eine solide Ausbildung in Logik und Argumentation, die man mit einem Philosophiestudium unweigerlich mitbekommt, ist hier ungeheuer viel wert.

    Zu guter Letzt scheinen viele Menschen bezüglich ihrer Lebensinhalte verwirrt zu sein:

    Das bloße Streben nach Geld als Zweck ist ein gutes, millionenfach sichtbares Beispiel: Aber was nützt es mir, viel Geld zu haben, wenn ich nicht weiss, wie es mich glücklich machen kann? Was nützt es mir, schöne Dinge zu kaufen oder zu besitzen, wenn ich mich nach kurzer Zeit schon so daran gewöhne, dass ihr Besitz mich gar nicht mehr glücklich macht, sondern im Gegenteil Ängste schürt, sie wieder zu verlieren? Was nützt es mir, bewundert oder angesehen zu werden, wenn die Gründe dafür nur oberflächlich mit meiner Person und mehr mit meinen Besitztümern zu tun haben?

    Die Philosophie kann helfen, Mittel von Zweck kritisch zu unterscheiden, Lebensinhalte zu hinterfragen und eine intelligentere Einstellung gegenüber dem zu entwickeln, wonach viele Menschen streben, ohne im Grunde zu wissen, wofür.

    Insbesondere auch die theoretische Philosophie hilft, eine dogmatische, einseitige Sicht auf die Welt zu vermeiden. Die dort entwickelten Gedanken gewinnen ihre Bedeutung oft im Rückblick auf einen viel längeren Zeitraum als er beispielsweise von den Naturwissenschaften gefordert wird.


    Philosophie.ch: Kurz zum Abschluss: Was macht Fliegenglas und warum ist das für Studierende der Philosophie spannend?

    Mit Fliegenglas bieten wir eine Streaming-App für Hörbücher an und die Philosophie ist eine der Hauptkategorien.

    Inzwischen haben wir nicht nur meine Privatsammlung, sondern eine ganze Reihe weiterer epochemachender Originaltexte der Philosophie als Hörbücher produziert und veröffentlicht; Hörbücher, die es woanders in dieser Qualität nicht gibt.

    Das Projekt ist jedoch kontrovers:

    Viele Professoren, mit denen ich in den letzten Monaten in Kontakt stand, sind skeptisch, ob man durch Hören, die anspruchsvollen Inhalte philosophischer Hauptwerke überhaupt begreifen kann. Werke wie Kant’s Kritik der reinen Vernunft, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen oder Aristoteles’ Nikomachische Ethik seien kaum für das Hörbuchformat geeignet.

    Darauf gibt es nur eine effektive Antwort:

    Probiere es einfach aus!

    In der Fliegenglas App bieten wir längere, kostenlose Hörproben an. Für alle, die sich von diesen Werken so begeistern lassen wie wir, gibt es danach zwei Möglichkeiten: Ein Hörbuch einzeln erwerben oder ein monatlich kündbares Abo für alle Philosophie-Hörbücher testen und buchen. – Für Student:innen gibt es zudem eine deutlich günstigere Student-Edition.

    Die Vorteile des Hörbuch-Formates kann ich aus erster Hand bestätigen: Schließlich war ich bereits Kunde von Fliegenglas, bevor es Fliegenglas überhaupt gab.

    Mir persönlich haben die Hörbücher geholfen, die Gedanken zu verinnerlichen, neue spannende Details zu entdecken und mich auch mit Philosophie zu beschäftigen, wenn Lesen unmöglich ist. Die Lektüre dieser Werke wird dabei nicht ersetzt, sondern um einen inspirierenden, aufschlussreichen Zugang ergänzt.