Ein Beitrag von Geert Keil

Naturalismus und menschliche Natur

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    I. Einleitung

    Die verästelte Diskussion über den Naturalismus in der Gegenwartsphilosophie lässt sich grob in einen theoretischen und einen praktischen Zweig gliedern: ›Naturalismus‹ heißt in der theoretischen Philosophie etwas anderes als in der Ethik. Die theoretische Philosophie grenze ich dabei durch das Kriterium ab, dass in ihr die Frage, was wir tun sollen, keine Rolle spielt.
    Die erste Hälfte des Beitrags ist der Unterscheidung dreier Spielarten des Naturalismus in der theoretischen Philosophie gewidmet, die man ›metaphysischen Naturalismus‹, ›Scientia mensura-Naturalismus‹ und ›analytischen Naturalismus‹ nennen kann. Im dritten und vierten Abschnitt gehe ich auf erklärtermaßen naturalistische Positionen ein, die sich auf die Natur des Menschen berufen. In diesen Positionen kommt der Naturbegriff auf andere Weise ins Spiel als in den drei genannten Varianten des Naturalismus. Wo von der menschlichen Natur die Rede ist, wird ›Natur‹ nicht als Bereichsbezeichnung verstanden, sondern im Sinne von ›Wesen‹ oder ›eigentliche Beschaffenheit‹. Der Schlussteil des Beitrags handelt vom neo-aristotelischen oder kurz Aristotelischen Naturalismus, der mit einem normativ gehaltvollen Begriff der menschlichen Natur operiert, was auch immer das heißen mag. Der Aristotelische Naturalismus wird gewöhnlich als eine Form des ethischen Naturalismus aufgefasst. Auf den zweiten Blick ist die Zuordnung nicht so klar, weil der Aristotelische Naturalismus Elemente enthält, die zur Unterscheidung zwischen deskriptiv-anthropologischen und normativen Aussagen quer liegen.

    Hauptziel des Beitrags ist es, die Naturalismen der menschlichen Natur, den Aristotelischen eingeschlossen, im Kreis der anderen Naturalismen zu verorten und insbesondere zu klären, mit welcher Rechtfertigung sie ›naturalistisch‹ genannt werden. Was den ethischen Naturalismus betrifft, so hat sich die Debatte in den vergangenen Jahrzehnten so weit ausdifferenziert, dass eine Charakterisierung, die alle vertretenen Varianten abdecken soll, riskant ist. Hier ist ein etwas älterer Versuch: »Ethischer Naturalismus« ist eine »Sammelbezeichnung für Positionen der Metaethik, die versuchen, moralische Beurteilungsbegriffe, wie ›gut‹ oder ›gerecht‹, als einführbar oder definierbar auf der Basis einer deskriptiven Sprache, [...] oder moralische Urteile als Behauptungen über empirische oder nicht-empirische Sachverhalte [...] nachzuweisen« (Wimmer 1984, 965). Der ethische Naturalismus wäre demnach diejenige Position, die uns aus den Debatten über den naturalistischen Fehlschluss bekannt ist. Hume, Kant und Moore haben – in unterschiedlicher Weise – die logische Lücke zwischen deskriptiven Prämissen und normativen Konklusionen beschrieben. Ethische oder besser metaethische Naturalisten vertreten die Auffassung, dass in Berufungen auf Natürliches oder deskriptiv Erfassbares der naturalistische Fehlschluss vermieden werden kann. Die jüngere, durch John Mackies ›argument from queerness‹ befeuerte metaethische Debatte hat sich zunehmend auf die Fragen verlagert, welche Eigenschaften und welche Tatsachen als ›natürliche‹ und damit als naturalistisch legitime Reduktionsbasis für nichtnatürliche Tatsachen und Eigenschaften gelten können.

    Neben den Positionen, die aus Debatten über den naturalistischen Fehlschluss bekannt sind, gibt es einen weiteren Sinn von ›ethischem Naturalismus‹, der auf die Integration des Phänomens der Moralität in ein naturalistisches Weltbild abstellt:

    »There is a broad sense of ›moral naturalism‹ whereby a moral naturalist is someone who believes an adequate philosophical account of morality can be given in terms entirely consistent with a naturalistic position in philosophical inquiry more generally.« (Lenman 2014, § 1)

    »So the problem is one of finding room for ethics, or of placing ethics within the disenchanted, non-ethical order which we inhabit, and of which we are a part.« (Blackburn 1998, 48 f.)

    Das Unternehmen, der Moralität einen Platz in der Natur zu verschaffen, überlappt sich mit dem, was man in der theoretischen Philosophie ›metaphysischen‹ Naturalismus nennt. Das Phänomen der Moralität ist in dieser Perspektive einfach ein weiteres der Problemkinder, die prima facie schwer in die natürliche Ordnung zu integrieren sind, wie Intentionalität, Qualia, Modalität, Vernunft und Freiheit.

    II. Drei Arten von Naturalismus in der theoretischen Philosophie1

    Ich plädiere dafür, drei Spielarten des Naturalismus in der theoretischen Philosophie zu unterscheiden: den metaphysischen, den szientifisch-methodologischen und den semantisch-analytischen Naturalismus. Diese Einteilung ist nicht originell. Im Bereich des methodologischen Naturalismus existieren auch noch feinere Differenzierungen. Im Unterschied zu denjenigen Autoren, die es mit einem fröhlichen Pluralismus der Attribut-Naturalismen bewenden lassen,2 möchte ich indes geklärt wissen, ob alle diese Positionen etwas gemeinsam haben, so dass sie mit demselben Oberbegriff bezeichnet werden. Ich werde behaupten, dass viele Explikationen des Naturalismusbegriffs, ob mit oder ohne Epitheton, verschiedene Ausarbeitungsstufen eines und desselben Grundgedankens sind. In diesem Sinne erläutere ich die drei genannten Arten des theoretischen Naturalismus wie folgt:

    1. Metaphysischer Naturalismus

    Als ontologische oder metaphysische Position ist der Naturalismus eine These darüber, was es gibt, oder wie die Welt beschaffen ist. Der metaphysische Naturalismus lässt sich durch die Parolen wiedergeben ›Alles ist Natur‹, ›Alles ist natürlich‹ oder ›Alles, was es gibt, ist Teil der einen, natürlichen Welt‹. Diese Parolen lassen viele Fragen offen, vor allem die, was mit ›Natur‹ oder ›natürliche Welt‹ gemeint ist. Wenn die Natur schlicht mit ›allem, was es gibt‹ identifiziert wird, so gefährdet diese Totalisierung den Anspruch des Naturalismus, eine bestimmbare Position zu sein. Der metaphysische Naturalismus muss irgendwelche Merkmale angeben können, die eine Entität als Naturgegenstand disqualifizieren, denn auch für ihn gilt: Omnis determinatio est negatio. Faktisch dürften die meisten Philosophen, die sich dem metaphysischen Naturalismus zurechnen, materialistische Positionen vertreten. Es gehört aber nicht zum Begriff der Natur, dass diese keine immateriellen Entitäten enthält. Und für letztere Auffassung gibt es schon eine Bezeichnung, nämlich ›materialistischer Monismus‹.

    Der unkonturierte Naturbegriff des metaphysischen Naturalismus hat einen Grund: Der neuzeitliche Naturbegriff blickt auf eine lange, oft erzählte Geschichte der Entqualifizierung zurück. Es hat ein Verlust an inhaltlichen Bestimmungen stattgefunden, so dass in der Moderne nur noch eine blasse Bereichsbezeichnung übrigzubleiben scheint, der zufolge alles zur Natur zählt außer übernatürlichen Phänomenen, und die gibt es eben nicht. Wenn wir den metaphysischen Naturalismus im Sinne des Slogans ›Alles, was es gibt, ist Teil der Natur‹ verstehen, sind ›Natur‹ und ›Seiendes‹ extensional äquivalent:

    »Naturalism [...] can be defined negatively as the refusal to take ›nature‹ or ›the natural‹ as a term of distinction. [...] For present-day naturalists ›Nature‹ serves rather as the allinclusive category.« (Randall 1944, 357)

    Diese Totalisierung ist keine gute Idee, denn wenn der Bereich der Natur mit dem des Seienden oder Wirklichen zusammenfällt, dann wäre der Naturalismus ein Ismus des Wirklichen und hätte überhaupt keine kritische Pointe mehr. Doch bevor man die Natur mit dem Seienden zusammenfallen lässt, sollte man sich daran erinnern, dass die Entqualifizierung des neuzeitlichen Naturbegriffs eng mit der Ausbildung des naturwissenschaftlichen Weltbilds verbunden war. Als Bereichsbezeichnung wird ›Natur‹ von heutigen Naturalisten häufig verstanden als »das, was Gegenstand der Naturwissenschaft ist« (Mittelstraß 1984, 962). Der Begriff der Naturwissenschaft erscheint in dieser Perspektive grundlegender als der der Natur selbst. In der Naturalismusdefinition von David Armstrong lässt sich dieser Übergang beobachten:

    »Naturalism I define as the view that nothing else exists except the single, spatio-temporal, world, the world studied by physics, chemistry, cosmology and so on.« (Armstrong 1983, 82)

    Im ersten Teil des Satzes wird eine robuste metaphysische Bestimmung des Naturalismus gegeben: Es existiert nichts anderes als die eine raumzeitliche Welt. Dann wird in Form einer Apposition eine Erläuterung von ›raumzeitlicher Welt‹ nachgereicht – »the world studied by physics, chemistry, cosmology and so on«, deren kriterialer Status indes unklar bleibt. Zeichnet sich die raumzeitliche Welt dadurch aus, dass sie von den Naturwissenschaften untersucht wird? Wäre sie etwas anderes, wenn sie nicht von ihnen untersucht würde? Gibt es außerhalb der raumzeitlichen Welt nichts, weil dort nichts von »physics, chemistry, cosmology and so on« erforscht werden kann?


    2. Scientia mensura-Naturalismus

    Die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Naturbegriff zu dem der Naturwissenschaft ist schon in den Debatten um den amerikanischen Naturalismus der Mitte des 20. Jahrhunderts bemerkt worden. Dort hieß es von naturalismuskritischer Seite beispielsweise: »naturalism stands for scientific method; whatever rules out scientific method – that is supernatural. [...] ›Nature‹ means that which is open to scientific method« (Sheldon 1945, 263). Und noch pointierter: »Naturalism excludes what is not scientifically investigable, and calls the domain of possible investigation ›nature‹« (Randall/Buchler 1942, 183).

    In der zweiten Jahrhunderthälfte haben Sellars, Quine und andere den metaphysischen Naturalismus zum methodologischen oder szientifischen Naturalismus spezifiziert. Aus der metaphysischen These ›Alles ist Natur‹ wurde die methodologische These vom Erklärungsprimat der Naturwissenschaften. Dieser Naturalismus folgt dem Scientia mensura-Satz, dem von Wilfrid Sellars formulierten Prinzip: »In the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not« (Sellars 1963, 173). Bei Quine heißt es ganz ähnlich: »The world is as natural science says it is« (Quine 1992, 9),3 und »We naturalists say that science is the highest path to truth« (Quine 1995, 261). Die naturwissenschaftlichen Methoden sind der Königsweg zur Wahrheit, sie können überall angewandt werden und verschaffen Wissen über alles, worüber es überhaupt etwas zu wissen gibt, eingeschlossen den Menschen mit allen seinen Eigenschaften, Vermögen und kulturellen Praktiken. Dieser Naturalismus ist also kein Ismus der Natur mehr, sondern ein Ismus der Naturwissenschaften. Und da diese Position mit den Ausdrücken ›methodologischer‹ oder ›szientifischer Naturalismus‹ unterbestimmt bleibt, nenne ich sie Scientia mensura-Naturalismus.

    Der Scientia mensura-Satz enthält eine zweifache Universalisierung: Die naturwissenschaftlichen Methoden verschaffen Wissen über alles, worüber man überhaupt etwas wissen kann, und sie sind der einzige verlässliche Weg. Dieser universale Anspruch ist keine optionale Zutat zum Naturalismus, sondern liegt in der Logik des Programms. Dass es Bereiche gibt, in denen naturwissenschaftliche Methoden konkurrenzlos erfolgreich sind, kann man zugestehen, ohne Naturalist zu sein. Anderenfalls hätte der ältere Sellars recht, der schon 1922 erklärte: »we are all naturalists now«, wobei »naturalism [...] is less a philosophical system than a recognition of the impressive implications of the physical and biological sciences« (Sellars 1922, i). Ähnlich beschrieb John Dewey den Naturalisten als »one who has respect for the conclusions of natural science« (Dewey 1944, 2). Wenn der Respekt vor den Leistungen und der Erklärungskraft der Naturwissenschaften ausreicht, um als Naturalist zu gelten, dann ist gegen Sellars’ Einschätzung wenig einzuwenden: Wir wären dann als Angehörige einer Wissenschaftskultur sämtlich Naturalisten. Dieser Umstand spricht aber nicht für den Naturalismus, sondern gegen eine Begriffsbestimmung, die diese Konsequenz hat. Ein Verständnis von ›Naturalismus‹, das als einzige Gegenpositionen Obskurantismus, Wunderglauben oder ideologisch motivierte Wissenschaftsfeindschaft übriglässt, ist schon deshalb unangemessen, weil es nicht erklären kann, worüber Naturalisten und Nichtnaturalisten in ihren zahllosen einschlägigen Kontroversen der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Wissenschaftsphilosophie eigentlich uneins sind (vgl. dazu Keil/ Schnädelbach 2000).

    Ein Caveat ist hinsichtlich der Debattenlage in den Vereinigten Staaten angebracht. Ein kulturelles Klima, in dem die Evolutionstheorie als Gegenstand des Schulunterrichts den Angriffen religiöser Eiferer ausgesetzt ist, die den Kreationismus als wissenschaftliche Alternative behandelt sehen möchten, beeinflusst auch heute noch die Art und Weise, wie naturalistische Positionen von ihren Gegenpositionen abgegrenzt werden: Die Auseinandersetzung mit dem Supranaturalismus, also dem erklärenden Rückgriff auf übernatürliche Entitäten oder Kräfte, spielt in der amerikanischen Gegenwartsphilosophie eine größere Rolle als in Europa. So unterscheidet etwa Elliott Sober den ›metaphysischen Naturalismus‹ vom ›methodologischen‹ und bestimmt beide wie folgt: Dem methodologischen Naturalismus zufolge sollten wissenschaftliche Theorien keine übernatürlichen Entitäten postulieren, der metaphysische Naturalismus behauptet positiv, dass es keine solchen gibt (vgl. Sober 2011).

    Wo auf die besagte kulturelle Besonderheit keine Rücksicht zu nehmen ist, ist es fruchtbarer, den wissenschaftsbezogenen Naturalismus zu einer Position zu verschärfen, die sich nicht in Deweys »respect for the conclusions of natural science« erschöpft und dadurch nahezu alle zu Naturalisten macht, sondern den Umfang des Erklärungsanspruchs der Naturwissenschaften betrifft und diesen in kontroverser Weise ausweitet.

    Betrachten wir nun den Scientia mensura-Naturalismus etwas genauer. Der Begriff der Naturwissenschaft enthält das Wort ›Natur‹ als morphologischen und plausiblerweise auch als semantischen Bestandteil. Es ist deshalb alles andere als plausibel, dass der Begriff der Naturwissenschaft gegenüber dem der Natur basal sein soll. Vielmehr findet beim Übergang vom Ismus der Natur zum Ismus der Naturwissenschaften eine Problemverschiebung statt: Der Scientia mensura-Naturalist, der von der Natur nicht mehr sprechen will, hat die Anschlussfrage zu beantworten, was die Naturwissenschaften vom Rest der Wissenschaften unterscheidet, wobei die Antwort nun nicht mehr lauten kann, dass sie eben Wissenschaften von der Natur sind. Insofern er das Unternehmen Naturwissenschaft methodologisch ausgezeichnet sieht, nimmt die Frage die Form an, was die naturwissenschaftlichen Methoden zu naturwissenschaftlichen Methoden macht. Da es nicht die Verwendung des Wortes ›naturwissenschaftlich‹ sein kann, die eine Disziplin, eine Theorie, eine Erklärung oder ein Vokabular naturalistisch respektabel macht, müssen Kriterien genannt werden.

    Dies wird in der Wissenschaftsphilosophie durchaus versucht, doch im Kontext einer Diskussion des Scientia mensura-Naturalismus können wir die Suche nach Kriterien schnell beenden, denn es ist für diesen Naturalismus charakteristisch, dass mit Bedacht nicht gesagt wird, welche Methoden naturwissenschaftlich sind und wodurch sie sich auszeichnen. Es wird deshalb nicht gesagt, weil man die Wissenschaften nicht bevormunden möchte. Dass sich die materialen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nicht durch Begriffsanalyse oder durch reines Nachdenken vorwegnehmen lassen, sollte sich von selbst verstehen. Entsprechend hieß es bei Quine schlicht: »The world is as natural science says it is«. Für Scientia mensura-Naturalisten gilt nun dasselbe von den Methoden der Wissenschaft: Naturalisten möchten dem nicht vorgreifen, was die Wissenschaften selbst als methodologische Standards anerkennen oder entwickeln – Standards, die schließlich revidierbar seien. Das Credo des Scientia mensura-Naturalisten lautet, den Naturwissenschaften, wie sie faktisch betrieben werden, nicht vorzugreifen.4 Der Naturalist verbindet sein Schicksal also nicht mit dem einer wissenschaftlichen Theorie oder eines Forschungsprogramms, sondern erklärt seine Solidarität mit dem Gang der Wissenschaft selbst. Ich schlage für diese Haltung die Formel vor: Wherever science will lead, I will follow. Auch Quines Naturalismus richtet sich primär gegen den Apriorismus der traditionellen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie: gegen alle Versuche, Erkenntnismethoden a priori zu bestimmen, also durch Begriffsanalyse oder durch reines Nachdenken.

    Von dem Motiv, den Wissenschaften nicht ins Handwerk zu pfuschen, mag man halten, was man will; unsere Frage muss sein, ob man auf diese Weise zu einer brauchbaren, distinktiven Naturalismusdefinition kommt. Hat der Naturalist mit dem Bekenntnis zur Naturwissenschaft und dem Bevormundungsverzicht schon eine identifizierbare Position markiert? Es drängt sich eine Anschlussfrage auf: Wen genau möchte der Naturalist nicht bevormunden? Der unabsehbaren Zukunft welches Unternehmens liefert er sich aus? Als bloßer Name ist die Bezeichnung ›die Naturwissenschaften‹ ja das, was alle Namen sind: Schall und Rauch. Der Naturbegriff fällt als Erläuterungsbasis aus, denn man hatte den Ismus der Natur ja gerade durch den Ismus der Naturwissenschaften ersetzt.

    Soweit ich sehe, hat der Naturalist an dieser Stelle fünf Optionen: (1) Er könnte darangehen, die approbierten Wissenschaften methodologisch auszuzeichnen – also etwas tun, was er eigentlich nicht tun wollte. (2) Er könnte sich zu einer Leitwissenschaft bekennen, also vom allgemeinen Naturalismus etwa zum Physikalismus oder zum Biologismus übergehen. (3) Er könnte sich zum einheitswissenschaftlichen Programm oder zu einer zeitgenössischen Schrumpfform desselben bekennen. (4) Er könnte die Berufung auf die Naturwissenschaften unterlassen, den Wissenschaftsbegriff liberal handhaben und auch die Geistes- und Sozialwissenschaften zur Forschungskarawane rechnen, der er sich anschließt. (5) Er könnte das Unternehmen der Naturwissenschaft auf soziologische Weise abgrenzen.

    Die ersten drei Optionen kranken daran, dass die Wissenschaften ein Plural sind. Man sollte sich davor hüten, ein zu harmonisches Bild vom Miteinander der Einzelwissenschaften zu zeichnen. Zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen gibt es nicht nur Arbeitsteilung und Kooperation, sondern immer auch Gebietskonflikte. Zu denken ist beispielsweise an Debatten über psychologische und somatische Erklärungen psychischer Störungen oder an Debatten zwischen Milieutheoretikern und Nativisten über die relativen Einflüsse von Sozialisation und genetischer Disposition.

    Die dritte Option, das Programm der Einheitswissenschaft, krankt daran, dass die Einheit der Wissenschaft kein Faktum ist, sondern ein Projekt. Klassisch ist Jerry Fodors Verteidigung der »disunity of science« (Fodor 1974). Gemeint ist Folgendes: Generalisierungen, die in der einen Disziplin erklärungskräftig sind, sind es in der nächsten nicht oder lassen sich in deren Vokabular nicht einmal ausdrücken. Die Einzelwissenschaften kreuzklassifizieren ihre jeweiligen natürlichen Arten. Für die Biologie sind beispielsweise biologische Spezies natürliche Arten, während man mit kosmologischen Mitteln ein Lebewesen nicht einmal von seiner Umwelt abgrenzen kann. Zu den klassifikatorischen Unterschieden kommen methodologische hinzu. Wir können hier auf Dramatisierungen verzichten, denn viele erklärte Naturalisten sehen es ebenso: Die Rede von der naturwissenschaftlichen Methode lebt vom Mythos des bestimmten Artikels (vgl. Koppelberg 2000, 76). Die faktische Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften rückgängig zu machen oder wegzuinterpretieren ist nicht bloß ein wenig aussichtsreiches Unterfangen, es ist auch wider den Geist des Scientia mensura-Naturalismus. Das einheitswissenschaftliche Programm bedeutet, die Wissenschaften seiner Philosophie anzupassen statt umgekehrt, wie es aus naturalistischer Sicht richtig wäre. Das heißt aber, dass sich für den Scientia mensura-Naturalismus eine Spannung ergibt:

    »A tension which has been ignored by the proponents of naturalized philosophy of science has been introduced into their program. On the one hand, naturalism demands unified method. On the other hand, naturalism also demands that the philosophy of science be true to science as practiced, and, pace the positivists, science itself has been shown not to be unified in its method.« (Stump 1992, 457)

    Diese Spannung macht die vierte Option attraktiv, den liberalen Gebrauch des Wissenschaftsbegriffs, der auch die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften einschließt. Diese Option kann man aber vernünftigerweise nicht mehr dem naturalistischen Programm zuschlagen, sonst müsste man das Morphem ›Natur‹ in ›Naturalismus‹ ignorieren. Wenn etwas nicht nur kein Ismus der Natur mehr ist, sondern auch kein Ismus der Naturwissenschaften mehr, dann sollte man es nicht mehr Naturalismus nennen.

    Die fünfte Option ist der Rückzug auf einen soziologischen Begriff der Naturwissenschaft, dem zufolge etwa die Physik sich dadurch auszeichnet, dass sie von Physikprofessoren betrieben wird, die in entsprechend benannten Fachgesellschaften organisiert sind, in entsprechenden Fachzeitschriften publizieren und von Institutskollegen und von Forschungsförderorganisationen als Physiker akzeptiert werden. Searle hat in diesem Sinne einmal das Abgrenzungskriterium vorgeschlagen, Wissenschaft sei alles, wofür man von der National Science Foundation Geld bekommen kann. Ein soziologisches Kriterium, das den Wissenschaftscharakter zu einer Frage des Türschilds macht, ist aber nicht nur unbefriedigend, sondern im Rahmen der Debatte um eine angemessene Explikation des Scientia mensura-Naturalismus zirkulär (vgl. Keil 2008, 271–4).

    Der Scientia mensura-Naturalist muss versuchen – um noch einmal zur Option (1) zurückzukehren –, durch das weite Feld der Wissenschaften eine Trennlinie zu ziehen, die seine OK sciences, die Naturwissenschaften, einigermaßen scharf vom Rest der Wissenschaften abgrenzt. Die meisten in der Wissenschaftsphilosophie diskutierten Kandidaten haben sich aber als ungeeignet erwiesen. Sie führen zu intuitiv unplausiblen Grenzziehungen, insofern sie entweder zu restriktiv oder zu liberal sind – also entweder anerkannte Naturwissenschaften ausschließen oder aber geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen einschließen, die niemand als Leitwissenschaften des Naturalismus akzeptieren würde.

    Aus dieser Situation könnte man die Folgerung ziehen, dass der Scientia mensura-Naturalismus ein hoffnungslos vages Programm ist. Diese Einschätzung hat viel für sich, allerdings würde man mit ihr dasjenige Projekt übersehen, das in der Philosophie des Geistes als ›Naturalisierung der Intentionalität‹ bekannt ist und das ein neues Abgrenzungskriterium für den Scientia mensura-Naturalismus liefert. Das Kriterium hat die Form einer Ausschlussbedingung: Naturalistisch akzeptabel seien allein solche Wissenschaften, Erklärungen und Theorien, die nicht auf das Idiom der intentionalen Psychologie zurückgreifen.

    3. Semantischer oder analytischer Naturalismus

    Diese Überlegung führt zum analytischen oder semantischen Naturalismus, welcher seinen prägnantesten Ausdruck in einer Formel Jerry Fodors findet: Eine naturalistische Erklärung oder Analyse ist eine solche, die hinreichende Bedingungen für das Vorliegen eines intentionalen Phänomens angibt, und zwar »in nonintentional, nonsemantic, nonteleological, and, in general, non-question-begging vocabulary« (Fodor 1987, 126; vgl. 98). ›Analytisch‹ heißt dieser Naturalismus, weil es um das Analysieren von Begriffen geht, genauer: um das Weganalysieren intentionaler Begriffe. (In der Metaethik gibt es auch einen ›analytischen‹ Naturalismus, nämlich den von Moore kritisierten Versuch einer Bedeutungsanalyse des Wortes ›gut‹ in anderen Begriffen.)

    Dem analytischen Naturalismus liegt die Einschätzung zugrunde, dass das intentionale Idiom der Alltagspsychologie, also die nichtanalysierte Rede von Wünschen, Überzeugungen, Absichten und anderen propositionalen Einstellungen sowie die damit verbundene Erklärungspraxis das größte und hartnäckigste Wissenschaftshindernis darstellen. Die Naturwissenschaften, so Paul Churchland, erforschen arbeitsteilig die Welt und tragen zum systematischen Wachstum unseres empirischen Wissens bei. Allein die Alltagspsychologie »is no part of this growing synthesis. Its intentional categories stand magnificently alone«. Sie ist »a stagnant or degenerating research program, and has been for millenia« (Churchland 1981, 75). Das intentionale Idiom der belief/desire-Psychologie sei nicht anschlussfähig an naturwissenschaftliche Theorien, weil es einen Verweisungszirkel bilde, in dem jede Zuschreibung eines intentionalen Zustandes nur durch Verwendung weiterer intentionaler Begriffe erläutert und gerechtfertigt werden könne. Aufgrund ihrer mangelnden Anschlussfähigkeit an die vom intentionalen Idiom freien Wissenschaften habe die belief/desire-Psychologie nicht am wissenschaftlichen Fortschritt teil. Vom Königsweg zur Wahrheit sei sie in eine Sackgasse abgebogen.

    Fodors Verbot mentaler, semantischer und teleologischer Begriffe hat eine lange Vorgeschichte in der Philosophie des Geistes. Erklärte Naturalisten warten oft mit Charakterisierungen intentionaler Phänomene auf, die nicht unmittelbar Mentales zum Gegenstand haben, aber intentionale Präsuppositionen oder Implikationen besitzen, d. h. ihren Sinn daraus beziehen, dass an anderer Stelle noch intentionale Phänomene unanalysiert geblieben sind. Ein Indiz dafür ist die Verwendung semantischer und teleologischer Begriffe.

    Das Verbot semantischer Ausdrücke besagt, dass Begriffe wie meinen, bedeuten, bezeichnen oder repräsentieren nicht unanalysiert vorkommen dürfen. Die enge Verwandtschaft von semantischem und mentalistischem Idiom hat vor allem Quine herausgestellt. Sie beruht darauf, dass die Inhalte propositionaler Einstellungen semantische Identitätsbedingungen haben: Zwei Sprechern schreiben wir dann dieselbe Überzeugung zu, wenn die sprachlichen Ausdrücke ihrer Überzeugungen ineinander übersetzbar sind. Quine sind mentale Entitäten und Bedeutungen gleichermaßen suspekt: beide hätten unklare Identitätsbedingungen.

    Das Verbot teleologischer Ausdrücke besagt, dass Ziele, Zwecke, Absichten und Funktionen nicht unanalysiert vorkommen dürfen. Das Teleologieverbot ist ungleich umstrittener als das Semantikverbot, weil die Biologie als eine respektable Naturwissenschaft mit funktionalen Begriffen arbeitet.

    Der analytische Naturalismus formuliert also ein Kriterium der naturalistischen Akzeptabilität philosophischer Theorien und Erklärungen. Ich behaupte nun, dass dieses Abgrenzungskriterium als Präzisierung des Scientia mensura-Satzes gelten kann: Was auch immer naturwissenschaftliche Methoden oder Erklärungen sind, sie sind intentionalitätsfrei. Der Verzicht auf das intentionale Idiom und auf in diesem Idiom formulierte Erklärungen liefert das einzige einigermaßen trennscharfe Kriterium, um die Naturwissenschaften von den naturalistisch illegitimen kognitiven Unternehmen abzugrenzen, insbesondere von den Geistes- und Kulturwissenschaften und der Alltagspsychologie.

    Dieser Vorschlag mag als eine unzulässige Verengung des Scientia mensura-Naturalismus erscheinen. Deshalb erinnere ich noch einmal daran, auf welchem Weg ich zu ihm gelangt bin: Als ontologische These darüber, welche Arten von Gegenständen es gibt, ist der Naturalismus unterbestimmt; dies wird weithin zugestanden. Mit den wissenschaftstheoretischen Definitionsversuchen waren wir nur bis zu der Frage gekommen, worin genau die »scientific method« bestehen soll, oder was die guten, approbierten von den schlechten Wissenschaften unterscheiden soll. Darauf haben wir jetzt eine Antwort: Als die minderwertigen, nicht erklärungskräftigen Disziplinen gelten aus naturalistischer Sicht diejenigen, die am unanalysierten intentionalen Idiom festhalten. Solange die Naturalisierung des Intentionalen nicht gelingt, tragen sie als einzige nicht zum kohärenten, stetig anwachsenden System unseres wissenschaftlichen Wissens von der Welt bei.

    Ich hatte eingangs den fröhlichen Pluralismus der Attribut-Naturalismen kritisiert, der nicht mehr erkennen lässt, was die diversen in der theoretischen Philosophie verfolgten Naturalisierungsprogramme zusammenhält. Der analytische Naturalismus macht den metaphysischen und den Scientia mensura-Naturalismus nicht obsolet, sondern lässt sich als weitere Ausarbeitungsstufe der dort formulierten Programmatik verstehen. Das folgende Zitat zeigt diese Verbindung deutlich:

    »The challenge represented to the philosopher who wants to regard human beings and mental phenomena as part of the natural order is to explain intentional relations in natu ralistic terms.« (Stalnaker 1984, 6)

    Eben weil Naturalisten den Menschen und mentale Phänomene als »part of the natural order« verstehen wollen, ist es ihre Aufgabe »to explain intentional relations in naturalistic terms«. Wenn dies erreicht ist, ist auch dem Geist ein Ort in der natürlichen Welt verschafft. Dem Programm der Naturalisierung des Intentionalen liegt also die klassische Antithese von Geist und Natur zugrunde.

    Dies sind die drei Hauptformen des Naturalismus in der theoretischen Philosophie. Dabei sehe ich, wie gesagt, den Scientia mensura- und den semantisch-analytischen Naturalismus als Ausarbeitungen des Grundgedankens des metaphysischen Naturalismus an. Nötig werden diese Präzisierungen, wenn die Fragen aufkommen, was mit ›Natur‹, mit ›Naturwissenschaft‹ und mit ›naturwissenschaftlichen Methoden‹ jeweils gemeint ist.

    III. Naturalismus und menschliche Natur

    In jüngerer Zeit sind eine Reihe von erklärtermaßen naturalistischen Positionen vertreten worden, die sich nicht auf die Naturwissenschaft und ihre Methoden berufen, sondern auf die Natur des Menschen.5 Diese Autoren lehnen es als ›reduktiv‹ oder ›szientistisch‹ ab, den Naturalismus mithilfe eines physikalischen oder biologischen Naturbegriffs oder unter Rückgriff auf wissenschaftsphilosophische Thesen zu formulieren. An die Stelle des Bezugs auf die Naturwissenschaften tritt bei ihnen die Rede von der menschlichen Natur. Ich stelle vier dieser Positionen knapp vor: die von Peter Strawson, Jennifer Hornsby, Martha Nussbaum und John McDowell.

    (i) Peter Strawson unterscheidet in seinem Buch Skepticism and Naturalism ›two species of naturalism‹. Neben dem strengen, szientistischen Naturalismus gebe es einen zweiten, liberalen, nichtreduktiven Naturalismus der menschlichen Natur (vgl. Strawson 1985, 1–3, 10–14, 37–42, 51–53). Als Beispiel für diesen nichtreduktiven Naturalismus führt Strawson die Auffassung Humes an, dass unsere Natur uns keine Wahl lasse, ob wir an die Existenz der Körperwelt glauben wollen. Sie habe diese Überzeugung zu wichtig gefunden, als dass sie sie unseren Spekulationen anheimgestellt hätte. Es sei, so Strawson mit Hume, »simply not in our nature« (ebd., 41), bestimmte Überzeugungen, Einstellungen und Haltungen aufzugeben. Wir seien unserer Natur nach zum Realismus disponiert und nicht zur Außenweltskepsis.

    Strawson variiert den Gedanken noch einmal im Begriffsrahmen von Wittgensteins Über Gewißheit. Das Spiel des Zweifelns setzt nach Wittgenstein Gewissheit voraus, es könne nicht alles zugleich problematisch werden, jeder Zweifel finde auf einem jeweils unbefragten Hintergrund statt. Wittgenstein selbst spricht nirgends von ›Naturalismus‹, hingegen führt er verschiedentlich die ›Naturgeschichte‹ des Menschen an: »Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen« (Wittgenstein 1971, § 25). »Das Krokodil hofft nicht, der Mensch hofft«; »Die Menschen denken, die Heuschrecke nicht«; »Heuschrecken können nicht lesen und schreiben« – dies seien »naturgeschichtliche Mitteilung[en]«, welche »den Unterschied des Menschen von den Tierarten« markieren (Wittgenstein 1984, §§ 16, 23, 24 und 18).

    Der Grund für Strawson, Wittgenstein einem weichen, nichtreduktiven Naturalismus der menschlichen Natur zuzuschlagen, scheint die relative Stabilität der anthropologischen »Naturtatsachen« zu sein, die unseren Sprachspielen und Lebensformen zugrunde liegen.

    Allerdings gehört nicht, was wir nicht nach Belieben verändern können, dadurch zu unserer Naturgeschichte im Sinne einer evolutionär erworbenen biologischen Natur. Unterscheidet man zwischen Natur- und Kulturgeschichte des Menschen, so wird man den größeren Teil der von Wittgenstein angeführten artspezifischen Fähigkeiten der Letzteren zuordnen, denn sie sind in der Menschheitsgeschichte bei weitgehend unveränderter genetischer Ausstattung und physischer Beschaffenheit ausgebildet worden. Beim Hoffen, Lesen und Schreiben handelt es sich um »Geistestätigkeiten« (Wittgenstein 1984, § 14), die neben natürlichen auch soziokulturelle Voraussetzungen haben.6

    (ii) Jennifer Hornsby verteidigt eine Position in der Philosophie des Geistes, die sie ›naiven Naturalismus‹ nennt (Hornsby 1997). Ihr geht es um die Rechtfertigung der Zuschreibung von Wünschen, Absichten und Überzeugungen angesichts des von Churchland und anderen betonten Umstands, dass es für diese Konzepte keinen Platz in naturwissenschaftlichen Theorien gibt. Hornsby vertritt nun die Auffassung, dass es schlicht zur Natur des Menschen gehöre, mentale Einstellungen zu haben. Ihr naiver Naturalismus hat eine antiszientistische Stoßrichtung: Nicht nur wissenschaftliche Forschungsergebnisse, sondern auch bestimmte Annahmen des common sense müssten als etwas anerkannt werden, in dem sich die menschliche Natur widerspiegelt.

    (iii) In der Ethik beruft sich Martha Nussbaum im Rahmen ihres neoaristotelischen ›capabilities approach‹ auf Überzeugungen und festverwurzelte Selbstdeutungen des Menschen, die Teil seiner Natur seien. Über das Ergon-Argument des Aristoteles schreibt sie:

    »in appealing to a conception of our nature, it locates the depth of these beliefs more precisely. It shows them to be beliefs that are so firmly a part of our conception of ourselves that they will affect our assessment of questions of identity and persistence« (Nussbaum 2001, 366)

    Die Natürlichkeit dieser Überzeugungen und Selbstdeutungen besteht bei Nussbaum, ähnlich wie bei Strawson, in ihrer tiefen Verwurzelung und ihrer praktischen Unaufgebbarkeit für Wesen wie uns. Zwar könne man sich etwa ein Leben in völliger Einsamkeit wünschen, doch wäre dies »a life which, however admirable or godlike, could not be lived by someone identical with me« (ebd., 366).7

    (iv) Ein in jüngerer Zeit besonders intensiv diskutierter Naturalismus der menschlichen Natur ist der von John McDowell. Seinen Aufsatz »Two Sorts of Naturalism« beginnt McDowell mit der Aufforderung, eine Verengung unseres Naturbegriffs zu korrigieren (vgl. McDowell 1998, 167). Die zentrale Rolle bei dieser Korrektur spiele die Einsicht, dass die Vernunft zu unserer Artnatur gehöre. Dabei gelte:

    »Reason does not just open our eyes to our nature, as members of the animal species we belong to; it also enables and even obliges us to step back from it, in a way that puts its bearing on our practical problems into question. With the onset of reason, the nature of the species abdicates from a previously unquestionable authority over the behavior of the individual animal.« (McDowell 1998, 172)

    Die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstdistanzierung bezeuge »a deep connection between reason and freedom«: »we cannot make sense of a creature’s acquiring reason unless it has genuinely alternative possibilities of action, over which its thought can play« (ebd., 170).

    Was hat die Auffassung, dass die Vernunft uns frei macht, insofern sie uns eine gewisse Distanz von unseren natürlichen Anlagen verschafft, mit Naturalismus zu tun? McDowell bringt an dieser Stelle den Begriff der zweiten Natur ins Spiel. Unsere erste Natur identifiziert er, Kant folgend, mit dem ›Reich der Gesetze‹, zählt aber auch den Inbegriff unserer angeborenen Ausstattungen und Fähigkeiten dazu. Unsere zweite Natur sei dagegen eine gewordene oder gemachte, nämlich unser durch »Bildung« (McDowell 1994, 87) und insbesondere durch moralische Erziehung geformter Charakter (vgl. McDowell 1998, 185). Vermöge unserer zweiten Natur können wir unsere erste überschreiten, wiewohl »the innate endowment of human beings must put limits on the shapings of second nature that are possible for them« (ebd., 190). Zusammenfassend: »The concept of nature figures here, without incoherence, in two quite different ways: as ›mere‹ nature, and as something whose realization involves transcending that« (ebd., 173).

    Ein reduktiver Naturalismus der ersten Natur versucht nach McDowell, »to ground the normative connections that constitute the space of reasons, after all, within nature« (McDowell 1994, 80 Fn), und zwar in der ersten Natur. Dieser ›bald naturalism‹ verzerre die Eigenart der menschlichen Vernunft und verenge den Naturbegriff. Demgegenüber sei ein Naturalismus der erworbenen zweiten Natur, den McDowell ›aristotelisch‹ nennt, eine attraktive Option. Das Ziel dieses Naturalismus der zweiten Natur sei es, der menschlichen Vernunft »enough of a foothold in the realm of law« zu verschaffen und auf diese Weise »to reconcile reason and nature« (McDowell 1994, 84 und 86).

    IV. Naturalismus und Naturbegriff

    Man sieht schnell, dass der Naturbegriff bei Strawson, Hornsby, Nussbaum und McDowell auf andere Weise ins Spiel kommt als in den im zweiten Abschnitt behandelten Naturalismen. Wo die Rede davon ist, was in der Natur des Menschen liegt, wird Natur im Sinne von ›Wesen‹ oder ›eigentlicher Beschaffenheit‹ eines Dings verstanden. Die Rede von der menschlichen Natur gehört in den Kontext der Rede von der Natur der Sache (auch wenn Menschen keine Sachen sind).

    Im metaphysischen Naturalismus wurde ›Natur‹ als Bereichsbezeichnung verwendet. Der Bereich der Natur, der diejenigen Dinge, Wesen und Prozesse umfasst, die ohne unser Zutun da sind, lässt sich dem Bereich der téchnē oder dem der Kultur entgegensetzen: hier die Naturdinge, dort die Artefakte (im weiten Sinn von ›Artefakt‹, der Praktiken und Institutionen einschließt). Wo der Naturbegriff von etwas anderem ausgesagt wird, spricht Kant von seinem ›formalen‹ oder ›adjektivischen‹ Gebrauch. Dies ist keine Frage der Wortart; in der Rede von der ›Natur des Menschen‹ wird der Naturbegriff adjektivisch verwendet. Kant definiert:

    »Natur, adjective (formaliter) genommen, bedeutet den Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges [...]. Dagegen versteht man unter Natur substantive (materialiter) den Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermöge eines innern Princips der Kausalität durchgängig zusammenhängen. Im ersteren Verstande spricht man von der Natur der flüssigen Materie, des Feuers etc. und bedient sich dieses Wortes nur adjective; dagegen wenn man von den Dingen der Natur redet, so hat man ein bestehendes Ganzes in Gedanken.« (Kant 1904/11, 289 [B 446/A 418–9])

    Der adjektivische Naturbegriff im Sinne von ›Wesen, eigentliche Beschaffenheit‹ entspricht einer der Bedeutungsdimensionen des altgriechischen Wortes physis (φύσις). Bei Aristoteles heißt es:

    »Denn die Beschaffenheit (φύσις), die ein jedes Ding beim Abschluß seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges, sei es nun ein Mensch oder ein Pferd oder ein Haus oder was sonst immer.« (Aristoteles, Pol. I, 2, 1252b 33–34)

    Am deutlichsten hat sich der adjektivische Naturbegriff im Topos von der ›Natur der Sache‹ erhalten, der dem allgemeinen Sprachgebrauch angehört, aber auch in juridischen Kontexten eine Rolle spielt (vgl. Dreier 1984, 478–82). In nuce und etwas vergröbert: Im substantivischen Naturbegriff geht es um die Dinge der Natur, im adjektivischen um die Natur der Dinge.

    Inwiefern man nun eine Berufung auf die Natur des Menschen ›naturalistisch‹ nennen kann, ist äußerst klärungsbedürftig. Die vier angeführten Autoren tun das ganz unbefangen, wobei sie die besagte Äquivokation im Naturbegriff ausbeuten. Im Falle von McDowell stellt sich vor allem die Frage, wie die Begriffe der ersten und der zweiten Natur sich zueinander verhalten. Dies fragt auch Christoph Halbig:

    »Nature, according to McDowell, seems to comprise both first and second nature. But what holds these two parts together in a way that would justify subsuming them under the heading of ›nature‹ [...]?« (Halbig 2006, 227) McDowell beantwortet diese Frage so: »the only unity there needs to be in the idea of the natural [...] is captured by a contrast with the idea of the supernatural, the spooky or the occult« (McDowell 2000, 99).

    Diese Antwort kennen wir schon aus Verteidigungen herkömmlicher naturalistischer Positionen. Dass McDowell an dieser Stelle erneut auf sie zurückgreift, ist enttäuschend. Mit der Antithese von Natürlichem und Übernatürlichem lässt sich in der Naturalismusdebatte der Gegenwartsphilosophie keine interessante Position mehr markieren. Wenn das einzige, was den Naturalismus der ersten und den der zweiten Natur zusammenhält, die Ablehnung von Spuk und okkulten Phänomenen ist, also die Annahme, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht, trivialisiert McDowell den Naturalismusbegriff. Einem auf die Antithese von Natur und Übernatur gegründeten Naturalismus kommen alle ernstzunehmenden Opponenten abhanden, denn jeder, dem es an obskurantistischen Neigungen gebricht, müsste ihm zustimmen. Dieser Umstand spricht aber, um es zu wiederholen, nicht für den Naturalismus, sondern gegen eine Begriffsbestimmung, die diese Konsequenz hat.

    McDowell verspricht dem Leser, die Einbeziehung der zweiten Natur des Menschen verschaffe der Vernunft »enough of a foothold in the realm of law«. Es ist aber nicht zu sehen, wo und wie dieses Versprechen eingelöst würde. Als Vernunftwesen können wir nach McDowell unsere erste Natur überschreiten. Anders als die anderen Tiere könne der Mensch »contemplate alternatives; he can step back from the natural impulse and direct critical scrutiny at it« (McDowell 1998, 171); dies wiederum sei nur möglich angesichts »genuinely alternative possibilities of action, over which its thought can play« (ebd., 171).

    Aber welchen »foothold« hat der deliberative Umgang mit tatsächlich bestehenden Alternativen, also unser überlegungsabhängiges So-oder-Anderskönnen, im Reich der Naturgesetze? Hat McDowell das Problem von Freiheit und Determinismus gelöst? Hat er ein neues Argument für den Kompatibilismus gefunden? Nein, die Vermittlung des Reichs der Gesetze mit dem Reich der Vernunft im Namen der zweiten Natur wird nur behauptet, nicht argumentativ eingelöst.8

    McDowell scheint eine Ahnung davon zu haben, denn am Ende möchte er seinen Verweis auf die zweite Natur lediglich als eine nach Benutzung wegzustoßende Leiter verstanden wissen: »Once my reminder of second nature has done its work, nature can drop out of my picture« (McDowell 2002, 277). Mehr noch, er bekennt sich zu einem Wittgensteinschen Quietismus, dem zufolge wir uns von der Vorstellung befreien müssen, in der Philosophie würden Probleme gelöst: »When I invok second nature, that is meant to dislodge the background that makes such questions look pressing, the dualism of reason and nature« (McDowell 1994, 178). Man möge seinen Beitrag zur Überwindung dieses Dualismus nicht als »constructive philosophy« missverstehen (ebd., 95).

    Um eine Leiter wegzustoßen, muss man zunächst einmal hinaufgestiegen sein. Die bloße Behauptung, man sei hinaufgestiegen, genügt nicht. McDowells Aufgabenstellung war ja durchaus kantisch: Die erste Natur beschreibt er als das Reich der Naturgesetze, die zweite Natur als die Vernunftnatur des Menschen. Der Aufgabe, beide zu vermitteln, entzieht er sich jedoch durch rhetorische Gesten, und als verbindendes Element beider Naturbegriffe bietet er allein die Ablehnung des Übernatürlichen an.

    McDowells Vorgehen bestätigt meinen Verdacht, dass ein Naturalismus der zweiten Natur schlicht die besagte Äquivokation im Naturbegriff ausbeutet, ohne dass der erhobene Anspruch einer harmonischen ›Erweiterung‹ des ›verengten‹ Naturbegriffs eingelöst würde. Inwiefern man eine Berufung auf die Natur des Menschen überhaupt ›naturalistisch‹ nennen kann, ist nach wie vor ungeklärt.

    Mein Argument gegen die Verwendung des Naturalismusbegriffs durch McDowell, Strawson et alii ist sehr einfach: Unkontrovers ist der Umstand, dass auch nichtnatürliche Dinge eine Natur im Sinne einer wesentlichen Beschaffenheit haben können. Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten – das liegt in der Natur der Sachen, nämlich in der Natur des Balls und der des Fußballspiels. Dadurch werden Ball und Spiel aber nicht zu Naturgegenständen im Sinne von ›Natur‹ als Bereichsbezeichnung und schon gar nicht im Sinne des wissenschaftlichen Naturbegriffs des Scientia mensura-Naturalismus. Wenn Verweise darauf, was in der Natur einer Sache liegt, einen Naturalismus begründeten, müsste jeder Essentialist – also jeder, der bestimmten Arten von Dingen eine wesentliche Beschaffenheit zuspricht – dadurch ein Naturalist sein. So wird der Naturalismusbegriff aber allgemein nicht verwendet, und mit guten Gründen. Auch die Gegner des Essentialismus sind ja ganz andere als die des Naturalismus.

    Die fraglichen Essenzen sind Artessenzen im Sinne des aristotelischen Essentialismus, der an eine Reihe von Grundannahmen der aristotelischen Substanzontologie gebunden ist. Nichtaristoteliker können sich hier an folgende moderne Umdeutung von ›Essenz‹ halten: Die Essenz oder das Wesen eines Dinges besteht in der Gesamtheit der Eigenschaften, die dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art definieren. Beispielsweise wäre nichts ein Ball, was nicht hinreichend rund wäre. Dieser Zusammenhang lässt sich bei Bedarf auch nominalistisch interpretieren: Wir würden nichts einen Ball nennen, was nicht hinreichend rund wäre.9

    Nun ließe sich gegen meine Fußballbeispiele einwenden, dass bei Aristoteles nur natürliche Substanzen (ousiai) eine Essenz haben, da nur diese ihr Bewegungsprinzip in sich selbst tragen, nicht hingegen Artefakte oder kulturelle Praktiken. Bei einer nominalistischen oder konzeptualistischen Auffassung der Artessenzen fiele die Privilegierung der Naturdinge fort. Doch können wir dieses Problem auf sich beruhen lassen, denn in unserem Zusammenhang geht es um eine unzweifelhafte aristotelische Substanz: um den Menschen. Und wenn der Mensch nicht nur eine artspezifische physis im Sinne einer biologischen Natur besitzt, sondern noch andere wesentliche Eigenschaften – beispielsweise die, ein zôon logon echon oder ein zôon politikon zu sein –, spricht nicht viel dafür, Positionen, die die Natur des Menschen ins Feld führen, allein aus diesem Grund ›naturalistisch‹ zu nennen.

    Wie absurd die gegenteilige Auffassung wäre, wird besonders in der Philosophischen Anthropologie deutlich. Es gehört nach Arnold Gehlen zur Natur des Menschen, ein Kulturwesen zu sein – ein instinktreduziertes Mängelwesen, von der Natur stiefmütterlich ausgestattet, deshalb auf Kultur und Institutionen angewiesen. Gehlens Kompensationsthese, die schon in Platons Protagoras und bei Herder vorgebildet ist, mündet in seine Rede von der Kultur als der ›zweiten Natur‹ des Menschen.10 Die Berufung auf die zweite Natur spielt mit der besagten Mehrdeutigkeit des Naturbegriffs. Sie ist aber in der Anthropologie kein Ausdruck einer naturalistischen Orientierung. Auch wenn der Mensch als instinktreduziertes Mängelwesen von Natur aus auf Kultur angewiesen sein sollte, gehören kulturell ausgebildete Fähigkeiten nicht zu seiner natürlichen biologischen Ausstattung. Menschen können befehlen, fragen und erzählen, manche können auch Bücher schreiben, Springfluten berechnen, Schach spielen oder Gesetze verabschieden. All dies sind harte Tatsachen. Es sind aber keine biologischen Tatsachen, denn diese Fertigkeiten können nur auf der Basis von Kulturleistungen ausgebildet werden; sie erfordern die Weitergabe erworbener Fähigkeiten durch das animal symbolicum.

    Die Figur der die physische Natur überformenden zweiten Natur ist älter als die Philosophische Anthropologie im engeren Sinne und sie muss auch nicht mit dem Kulturbegriff operieren. Für Thomas von Aquin gehört zur Natur des Menschen seine vernünftige Seele, mithin sei alles, was gegen seine Vernunft ist, gegen seine Natur. Die Stoiker argumentierten ebenso. Dies macht sie aber nicht zu Naturalisten im Sinne des metaphysischen, biologischen oder semantischen Naturalismus. Vielmehr hatten die Stoiker, wie Chrysipps Rede von der ›natürlichen Vernunft‹ anzeigt, einen sehr logosnahen Begriff von ›Natur‹. Und hier schließt sich der Kreis zu McDowell: Auch bei ihm ist die Rede von der zweiten Natur ein Kunstgriff, um die Vernunft und die Freiheit ins Boot zu holen, also Phänomene, die in den klassischen Antithesen des Naturbegriffs, etwa bei Kant, dem Bereich der Natur gerade entgegengesetzt werden.

    McDowell verteidigt seinen ›angereicherten‹ Naturbegriff offensiv:

    »The natural sciences do not have exclusive rights in that notion; and the added richness comes into view, not through the operations of some mysteriously extra-natural power, but because human beings come to possess a second nature.« (McDowell 1998, 192)

    Doch die Schwächen der These einer harmonischen Anreicherung des Naturbegriffs liegen offen zutage. Tatsächlich geht es McDowell darum, den Humanspezifika der Vernunft und der Freiheit zu ihrem Recht zu verhelfen, und wie wir gesehen haben, gibt er auf Einwände hin zu, dass man den Naturbegriff dafür nicht benötigt.

    Ich fasse zusammen: Die Rede von der Natur des Menschen, sei es seine erste oder seine zweite, beruht auf dem adjektivischen Naturbegriff im Sinne von ›Wesen, Beschaffenheit‹. Es wäre aussichtslos, diesem Naturbegriff seine Legitimität zu bestreiten. Ich behaupte aber gegen Strawson, Hornsby, Nussbaum und McDowell, dass dieser Sinn des Naturbegriffs nicht auf den Begriff des Naturalismus übergreift. Ein Naturalismusbegriff, der zur Konsequenz hätte, dass jeder Essentialist automatisch ein Naturalist wäre, stiftet unnötige Verwirrung.

    Es geht mir wohlgemerkt nicht um die Frage, welche Position man vernünftigerweise vertreten sollte, sondern allein darum, was man vernünftigerweise ›Naturalismus‹ nennen sollte. Die Ziele, Dualismen zu überwinden und supranaturalistische Annahmen zu vermeiden, können in der Gegenwartsphilosophie meist mit Sympathie rechnen. Auch ziehen die meisten Philosophen ein Verständnis der menschlichen Natur, in dem Kultur, Sozialität. Intentionalität, Moral, Vernunft und Freiheit einen Platz haben, reduktiven und eliminativen Doktrinen vor. Aber warum möchte fast jeder sein Schiff unter der Flagge irgendeines Naturalismus segeln lassen? Eine Erklärung wäre die Verwechslung von ›naturalistisch‹ mit ›naturwissenschaftlich‹, also die Annahme, ein Naturalismuskritiker sei notwendig ein Wissenschaftsfeind. (Ich erinnere an Deweys Charakterisierung des Naturalisten als »one who has respect for the conclusions of natural science«.) Diese außerhalb der Philosophie häufige Verwechslung sollten Philosophen kritisieren.

    Eine andere Erklärung wäre, dass die Begriffe der Natur und der Natürlichkeit in vielen Kontexten positiv besetzt sind und dass man diese Konnotationen umstandslos auf den Naturalismusbegriff überträgt. Das ist aber kurzschlüssig, denn mit anderen Ismen verfahren wir auch nicht so. Nur weil wir alle Gefühle haben und sie nicht missen möchten, ist nicht schon der Emotivismus in der Ethik richtig; nur weil jemand den Intellekt wertschätzt, ist er nicht schon Intellektualist; nur weil Wissenschaft eine feine Sache ist, ist nicht schon der Szientismus eine feine Sache. Unter einem Ismus versteht man in der Philosophie wie außerhalb eine Doktrin, die ein Phänomen einseitig betont und auf Kosten seiner Kontrastphänomene zum Prinzip erhebt.

    V. Aristotelischer Naturalismus

    Ich habe argumentiert, dass essentialistische Positionen, die sich auf Aussagen über Essenzbesitz beschränken, nicht als ›naturalistisch‹ bezeichnet werden sollten. In der Anthropologie können sie sogar einen dezidiert antinaturalistischen Charakter annehmen, wenn nämlich als essentielle Merkmale des Menschen solche angesetzt werden, die sich im Rest der Natur nicht finden und/oder die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erforscht werden können. Die von McDowell genannten Phänomene Vernunft und Freiheit sind gute Kandidaten dafür.

    Das Bild ändert sich, wenn der Bezug auf menschliche Natur in einem normativen Kontext geschieht. Aus diesem Grund verlangt der Aristotelische Naturalismus, der allgemein als eine Variante des ethischen Naturalismus aufgefasst wird, eine gesonderte Diskussion. Im Aristotelischen Naturalismus werden nicht allein Aussagen über die menschliche Natur getroffen, also über Essenzbesitz, sondern es findet eine Berufung auf die menschliche Natur in normativ rechtfertigender Absicht statt. Der Aristotelische Naturalismus ist, so Hursthouse, »a form of ethical naturalism – broadly, the enterprise of basing ethics in some way on considerations of human nature, on what is involved in being good qua human being« (Hursthouse 1999, 192).

    Im einfachsten Fall, der bei Aristoteles nicht vorliegt, wird aus Aussagen darüber, wie der Mensch natürlicherweise beschaffen sei, geschlossen, dass bestimmtes seiner Natur entsprechendes Verhalten eben deshalb gut oder moralisch geboten sei. Dies wäre klarerweise eine Form von ethischem Naturalismus, die ebenso klarerweise dem Einwand des naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt wäre.

    Im Aristotelischen Naturalismus liegt der Fall aus mehreren Gründen komplizierter, insbesondere weil die Grundannahmen des von Aristoteles vertretenen teleologischen Essentialismus sich der in modernen Diagnosen des naturalistischen Fehlschlusses vorausgesetzten sauberen Scheidung zwischen deskriptiv-anthropologischen und normativen Aussagen entziehen. Das teleologische Moment des aristotelischen Essentialismus besteht darin, dass zur menschlichen Natur nicht nur die natürlichen Anlagen zählen, sondern auch deren bestimmungsgemäße Aktualisierung in einem guten Leben, das in der optimalen Verwirklichung der artspezifischen Fähigkeiten besteht.

    Diejenigen Aspekte des Aristotelischen Naturalismus, die für die Frage, mit welchem Recht man ihn ›naturalistisch‹ nennt, besonders relevant sind, möchte ich stellvertretend knapp anhand der Positionen von Philippa Foot und Rosalind Hursthouse referieren.

    Sowohl Foot als auch Hursthouse behandeln den Ausdruck ›gut‹, Peter Geach folgend, als attributives Adjektiv, dessen Bedeutung sich jeweils anhand des Gegenstands, den es qualifiziert, konkretisieren lässt. Foot schreibt allen Lebewesen, den Menschen eingeschlossen, eine ›natural goodness‹ zu. Dieses Gutsein sei eine ›intrinsische‹ Form des Gutseins, »in that it depends directly on the relation of an individual to the ›life form‹ of its species. [...] The way an individual should be is determined by what is needed for development, self-maintenance, and reproduction« (Foot 2001, 27 und 33). Gut ist also, was für die Mitglieder einer bestimmten Spezies jeweils lebensnotwendig ist. Der Bezug auf vitale Bedürfnisse und einen artspezifischen Gütestandard kann nach Foot erklären, warum generische Aussagen wie ›Der Löwe lebt in Rudeln‹ oder ›Kaninchen fressen Gras‹, die Foot »Aristotelian categoricals« nennt, »are able to describe norms rather than statistical normalities« (ebd., 33).11 Ein Lebewesen, das hinter der artspezifischen Gütenorm zurückbleibt, ist in dieser Hinsicht mangelhaft; das Antonym zu ›natural goodness‹ ist ›defect‹.

    Bei Hursthouse bemisst sich, ob ein Individuum als gutes Exemplar seiner Spezies gelten kann, daran, in welchem Ausmaß seine Beschaffenheit und sein Verhalten zu vier natürlich vorgegebenen Zwecken beitragen: (i) Selbsterhaltung, (ii) Arterhaltung durch Reproduktion (diese beiden Zwecke teilen wir mit Pflanzen), (iii) Lust und Freiheit von Schmerz (diese teilen wir mit den anderen Tieren). Bei sozialen Tieren kommt (iv) das gute Funktionieren der Gruppe hinzu, was Hursthouse im Sinne des förderlichen Beitrags der Gruppe zu den anderen drei Zwecken versteht (vgl. Hursthouse 1999, 201).

    Bei beiden Autorinnen kommt noch ein weiteres, humanspezifisches Merkmal hinzu, nämlich die komplexe Fähigkeit, moralische Bewertungen vorzunehmen, sich im Handeln von praktischen Überlegungen leiten zu lassen und entsprechende Tugenden auszubilden, kurz: aus Gründen verlässlich das Gute zu tun. Auch diese Fähigkeit sei in der menschlichen Natur verankert. Das moralische Bewerten und die Fähigkeit, sein Handeln an Gründen auszurichten, gehörten zur artspezifischen Lebensform des Menschen, nämlich zu seiner Natur als Vernunftwesen: »Our char acteristic way of going on, which distinguishes us from all the other species of animals, is a rational way« (ebd., 222). Die Vernunftnatur des Menschen sei ihrerseits keine optionale Zutat zu seiner anderweitigen natürlichen Ausstattung, denn nur durch die Ausrichtung an Gründen und durch die charakterliche Stabilisierung dieser Ausrichtung in Form von Tugenden könne der Mensch hinreichend verlässlich seine artspezifische Eudämonie erreichen.

    Mein Haupteinwand gegen McDowells Naturalismus der zweiten Natur lautete, dass die Inkorporation der Vernunft und der Freiheit in die ›zweite Natur‹ des Menschen nicht wie beansprucht den Naturbegriff erweitert, sondern unbewältigte theoretische Spannungen einer erklärt naturalistischen Anthropologie verdeckt. Ähnliche Spannungen lassen sich an Foots und Hursthouses Versuch aufzeigen, die Tugenden zugleich in der biologischen Natur des Menschen und in seiner Vernunft zu verankern. Unter einer ›vernünftigen‹ Weise, sein Leben zu führen, versteht Hursthouse »any way that we can rightly see as good, as something we have reason to do« (ebd., 222). Nun scheint aber, was Menschen als gute Gründe erkennen oder anerkennen, durch ihre biologische Natur und auch durch die von Hursthouse genannten vier natürlichen Zwecke stark unterbestimmt. Dasselbe gilt von den Tugenden. Menschen können beispielsweise asketische Tugenden ausbilden und ihr körperliches Wohlergehen um eines selbstgewählten anderen Zieles willen hintanstellen. Sie können sogar ihr eigenes Überleben hintanstellen, beispielsweise aus moralischen Gründen in extremen Zwangs- oder Notlagen. Kurz, sie können sich vermöge ihrer zweiten Natur als Vernunftwesen von ihrer ersten Natur, die auf Überleben, Reproduktion und Schmerzvermeidung ausgerichtet ist, distanzieren.

    Ein gutes Beispiel für diese Distanzierungsfähigkeit ist die Vielfalt der Einstellungen, die Menschen gegenüber dem vermeintlichen Gut der körperlichen Gesundheit einnehmen können. Für die Stoiker sind Krankheiten kein Übel, sondern gehören wie Armut und Reichtum zu den adiaphora, den ethisch indifferenten Dingen. Moralisch qualifizierbar sind allein Tugenden und Laster. Tugendhaft ist es etwa, eine Krankheit klaglos zu ertragen. Für ein moralisch gutes Leben ist allein ausschlaggebend, wie ein Mensch sich aus vernünftiger Einsicht zu den vermeintlichen natürlichen Gütern und Übeln verhält.

    Die durch den Gebrauch unserer Vernunft ermöglichte Distanzierung von der Autorität der vier Zwecke stellt eine große Herausforderung für den teleologischen Aspekt des aristotelischen Essentialismus dar. Nach Aristoteles ist das spezifische ergon des Menschen, das ihn von den anderen Lebewesen unterscheidet, ein tätiges Leben gemäß dem besten, nämlich dem vernunftbegabten Seelenteil (vgl. Aristoteles, NE I 6). Das Ergon-Argument mag die Vernunft in der Speziesnatur fundieren,12 nicht aber bestimmte Resultate der Ausübung der Vernunftfähigkeit. Es ist argumentiert worden, dass für Aristoteles nicht in unser Belieben gestellt sei, ob wir unser natürlich vorgegebenes ergon verwirklichen wollen, weshalb auch der Einwand des naturalistischen Fehlschlusses irrig sei.13 Diese Unverfügbarkeit beträfe aber nur die Unmöglichkeit, die uns mitgegebene Vernunftfähigkeit in den Wind zu schlagen. In der Ausübung dieser Fähigkeit können Menschen sich mit Gründen zu etwas entscheiden, was ihre biologische Bedürfnisnatur und die vier von Hursthouse genannten natürlichen Zwecke konterkariert. Kurz: Was die Vernunft gebiert, muss nicht zum Wohlergehen des sie beherbergenden Organismus beitragen. Für den Aristotelischen Naturalismus gehört unsere Vernunft ebenso zu unserer Natur wie unsere biologischen Bedürfnisse. Was aber aus moderner Sicht nicht zu unserer Natur gehört, ist eine prästabilierte Harmonie zwischen beiden.

    Hursthouse versteht unter einer vernunftgemäßen Lebensweise, wie zitiert, »any way that we can rightly see as good, as something we have reason to do«. Sie gesteht zu, dass dies eine normative und insofern unnaturalistische Charakterisierung der spezifisch menschlichen Lebensform sei, die aber gleichwohl die vier Zwecke nicht funktionslos mache:

    »So, despite relying on a normative notion of ›our characteristic way of going on‹, ethical naturalism does not cease to be naturalism; the four ends appropriate to us just in virtue of our being social animals do constrain what will pass reflective scrutiny as a candidate virtue.« (Hursthouse 1999, 226)

    So mag es sich verhalten, aber die Frage ist, ob diese constraints stark genug sind, d. h. ob sie die Ableitung auch nur einer einzigen genuin normativen Aussage darüber erlauben, was zu tun prudentiell oder moralisch geboten ist. Diese Frage verweist auf ein generelles Dilemma naturalistischer Tugendethiken, die ja, um überhaupt einen Beitrag zur normativen Ethik zu leisten, über eine bloße Auflistung oder Charakterisierung von Tugenden hinausgehen müssen. Das von verschiedenen Autoren beschriebene Dilemma besteht darin, dass es naturalistischen Tugendethiken entweder nicht gelingt, Evaluationen und normative Urteile in objektiven Naturtatsachen zu fundieren, oder dass sie den normativen Gehalt dieser Urteile unterbestimmt lassen.14 Der aristotelische Essentialismus liefert im besten Fall wahre Aussagen über die menschliche Natur, die die Vernunftbegabung und die Fähigkeit zu Evaluationen einschließen, weitere Aussagen über das der spezifisch menschlichen Lebensform Zuträgliche abzuleiten erlauben und bei der Charakterisierung passender Tugenden helfen. Mit keiner dieser Ableitungen wird ein naturalistischer Fehlschluss begangen – weil präskriptive Aussagen über das, was zu tun moralisch geboten ist, nicht getroffen werden. Das Dilemma von Objektivität und Unterbestimmtheit wird nicht aufgelöst, die Fundierung des Zuträglichen und der Tugenden in der menschlichen Natur wird um den Preis der Unterbestimmung des moralisch Gebotenen erreicht.

    Dass Foot und Hursthouse ein seine ›natürlichen‹ Zwecke tugendhaft verfolgendes Wesen als gutes Exemplar seiner Spezies qualifizieren, ändert an diesem Befund nichts, denn diese Einstufung hat nicht aus sich heraus empfehlenden Charakter. Man kann dies das ›open question argument‹ gegen die Lehre von der ›natural goodness‹ nennen, sofern sie mit ethischen Ambitionen auftritt: ›Wenn ich mein Leben nach x ausrichte, gelte ich als ein gutes Exemplar meiner Spezies. So weit, so gut. Aber warum soll ich ein gutes Exemplar meiner Spezies sein wollen?‹ Die Antwort ›Weil es deiner Natur entspricht‹ käme einem naturalistischen Fehlschluss gleich.

    Unser eigentliches Interesse galt den Fragen, ob, mit welchem Recht und in welchem Sinn man den Aristotelischen Naturalismus ›naturalistisch‹ nennen kann. Hierzu steht noch eine Bilanz aus.

    Ich schließe mich nicht der in der Literatur verbreiteten Argumentationslinie an, dass der Aristotelische Naturalismus deshalb nicht als naturalistisch gelten könne, weil er sich auf empirieferne ›naturgeschichtliche‹, allenfalls proto-biologische Aussagen über die menschliche Natur stützt, die Befunde der empirischen Humanwissenschaften ignoriert und mit einigen dieser Befunde auch unvereinbar ist. Der deskriptive Charakter von Aussagen über die menschliche Natur ist nicht davon abhängig, ob sie durch naturwissenschaftliche Forschung gewonnen wurden. Ebenso irrelevant ist der Einwand, dass zentrale Annahmen der aristotelischen Biologie durch Darwins Evolutionstheorie überholt seien oder dass die Evolution keineswegs durchgehend moralische Tugenden prämiere. Für die Einstufung einer ethischen Theorie als naturalistisch ist ausschlaggebend, ob sie sich auf Aussagen über die menschliche Natur stützt, nicht, ob diese alle wahr sind.

    Die im dritten und vierten Abschnitt diskutierten Naturalismen der menschlichen Natur in der theoretischen Philosophie hatte ich dafür kritisiert, dass sie die Ambiguität des Naturbegriffs ausbeuten, um essentialistische Positionen als naturalistisch auszugeben. Vom Ausbeuten einer Ambiguität kann beim Aristotelischen Naturalismus nicht die Rede sein, vielmehr wird ausdrücklich und ausschließlich mit dem ›adjektivischen‹ Begriff der Natur als der wesentlichen Beschaffenheit einer Sache operiert. Es ist auch schwer zu sehen, wie ›Natur‹ als Bereichsbezeichnung, erst recht in der ausgedünnten Form ›das, was Gegenstand der Naturwissenschaft ist‹, Anknüpfungspunkte für einen ethischen Naturalismus bieten sollte, als dessen Spielart der Aristotelische Naturalismus gilt.

    Allerdings hat sich diese Einstufung aus mehreren Gründen als problematisch erwiesen: Die Grundannahmen des von Aristoteles vertretenen teleologischen Essentialismus entziehen sich der klaren Scheidung zwischen deskriptiven und normativen Aussagen, die in modernen Diagnosen des naturalistischen Fehlschlusses vorausgesetzt ist. Wenn aristotelische Naturalisten sich auf die menschliche Natur berufen, wird weder aus klarerweise deskriptiven Prämissen noch auf klarerweise normative Konklusionen geschlossen, noch ist klar, ob es sich überhaupt um einen Schluss handelt.

    Der Aristotelische Naturalismus, so heißt es, operiere von vornherein mit einem normativ gehaltvollen Begriff der menschlichen Natur. Diese Diagnose wird auch als Argument dagegen angeführt, dass der Aristotelische Naturalismus ein Naturalismus sei: »Some say they [sc. Aristotelian naturalists] are not trying to offer naturalism at all, because they avowedly employ a moralized conception of human nature« (Hursthouse 2013, 3571). Ähnlich Lenman: »But to understand ethical facts as grounded in facts about human nature where the facts about human nature are understood in a way that is already pervasively and substantively moralized no longer looks much like a form of naturalism« (Lenman 2014, § 4.1).

    Seltener wird der Umstand bemerkt, dass auch der normative Output des Aristotelischen Naturalismus nicht diejenige Form hat, die den – insofern anachronistischen – Einwand des naturalistischen Fehlschlusses auf den Plan ruft. Der Aristotelische Naturalismus reagiert nicht auf die Kantische Frage ›Was sollen wir tun?‹, weil ihm ein anderer Ethiktyp zugrunde liegt, nämlich ein tugendethischer.15 Aussagen darüber, welche Tugenden es gibt, welche für Menschen überlebensdienlich sind oder was zu einem unserer Speziesnatur gemäßen Leben gehört, sind keine Imperative oder moralischen Präskriptionen. Sie lassen sich durchaus als deskriptive Aussagen rekonstruieren, anders als die ›ought‹-Aussagen, die nach Hume und Kant nicht aus Tatsachenfeststellungen ableitbar sind. Ähnliches gilt für Aristoteles selbst. Der Ertrag seiner ethischen Schriften ist nicht im engeren Sinn normativ, er besteht nicht in präskriptiven Aussagen darüber, was wir moralischerweise tun sollen, sondern in einer komplexen These darüber, auf welche Weise Menschen Eudämonie erreichen.16

    Der Aristotelische Naturalismus ist kein klares Beispiel eines ethischen Naturalismus im Sinn der modernen Metaethik. Er ist aber auch kein klares Beispiel eines theoretischen Naturalismus, etwa des metaphysischen, weil der anthropologische Essentialismus, also die Auffassung, dass der Mensch sich durch artzugehörigkeitsdefinierende Merkmale und Fähigkeiten auszeichnet, sich verlustfrei ohne Verwendung des Naturbegriffs und erst recht ohne Bezug auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse ausdrücken lässt. Der Aristotelische Naturalismus nimmt eine eigentümliche Zwischenstellung ein, er verbindet deskriptive Aussagen zur menschlichen Natur auf eine so idiosynkratische Weise mit normativen, dass es nicht erhellend ist, ihn als ›naturalistisch‹ zu klassifizieren.

    Dies gilt umso mehr, als zur Essenz des Menschen insbesondere der vernünftige Seelenteil gehört, »der ja das eigentliche Selbst des Menschen ist« (Aristoteles, NE IX 4, 1166a 17–18) und der ihn von allen anderen Tieren unterscheidet. Aristoteles selbst bleibt bei dieser anthropologischen Behauptung nicht stehen, sondern prvilegiert zusätzlich eine bestimmte Lebensform, den bios theoretikos, wofür er ein normatives Brückenprinzip benötigt:

    »Die berühmte Auszeichnung der theoretischen Lebensform ergibt sich für Aristoteles [...] nicht allein aus der Natur des Menschen [...], sondern nur mithilfe eines Brückenprinzips, das da lautet, man solle nach dem Besten in sich selbst leben.« (Rapp 2010, 28)

    Dieses Prinzip wird selbst nicht noch einmal normativ gerechtfertigt.

    Unabhängig davon erzeugt die Berufung des Aristotelischen Naturalismus auf die Vernunftnatur des Menschen Spannungen zu seinen anderen Theoriestücken. Wer die anthropologische Differenz über die Vernunftbegabung bestimmt, muss stets damit rechnen, dass die Ergebnisse der Ausübung der Vernunfttätigkeit dem, was Neoaristoteliker als menschliches telos ausgeben – etwa ein an den von Hursthouse genannten vier Zwecken ausgerichtetes Leben – nicht entsprechen. Wer Elemente seines angeblichen natürlichen telos zugunsten anderer Ziele hintanstellt, ist für Hursthouse und Foot kein ›guter‹ Vertreter seiner Spezies, aber es dürfte ihnen schwer fallen zu zeigen, dass man so etwas niemals aus guten Gründen tun kann.

    Wer sich die Vernunft ins Haus holt, muss unter Bedingungen der Moderne mit ihrem autonomen Gebrauch rechnen. Für den Aristotelischen Naturalismus ist die Vernunft deshalb ein trojanisches Pferd.17


    1 Dieser Abschnitt ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus meinem Beitrag Keil 2007. Eine ausführlichere Darstellung der drei beschriebenen Arten von Naturalismus findet sich in Keil 2008.

    2 In zwei einschlägigen Arbeiten werden zum Beispiel die folgenden Naturalismen unterschieden: aposteriorischer, eingeschränkter, eliminativer, expansiver, gemäßigter, integrativer, kooperativer, metaphysischer, methodologischer, ontologischer, radikaler, reduktiver, reformistischer, revolutionärer, wissenschaftlicher, szientistischer und uneingeschränkter Naturalismus. Vgl. Haack 1993 sowie Koppelberg 1996.

    3 Das vollständige Zitat lautet: »The world is as natural science says it is, insofar as natural science is right«. Der Nachsatz bringt einen fallibilistischen Vorbehalt zum Ausdruck, durch den Quine sich vom ideologischen Szientismus unterscheidet. Wissenschaft ist nach Quine nicht eine Menge wahrer Aussagen oder Theorien, sondern das unabschließbare und selbstkorrigierende Unternehmen der methodischen Wahrheitssuche.

    4 Diese Haltung findet sich beispielhaft bei Stephen Stich und Arthur Fine. Vgl. dazu Keil 2003, 265–7.

    5 Die Abschnitte III. und IV. sind eine Ausarbeitung der knapperen Überlegungen in meinem Aufsatz Keil 2005, hier: 87–90.

    6 Glock bilanziert deshalb: »Wittgensteins Naturalismus ist [...] eher anthropologisch als biologisch« (Glock 2000, 201), Strawson schlägt die Bezeichnung »social naturalism« vor (Strawson 1985, 25).

    7 Nussbaum beruft sich hier auf Passagen der Nikomachischen Ethik (1159a und 1166a).

    8 So auch Halbig: »The foothold of human reason in the realm of law that McDowell had promised us still remains elusive« (Halbig 2006, 229).

    9 Diese nominalistische Sicht der Artessenzen entspricht der ›linguistic doctrine of necessity‹, die im Logischen Empirismus vertreten wurde. Dieser Auffassung nach sind alle Aussagen über wesentliche Eigenschaften analytisch.

    10 Worin die zweite Natur des Menschen besteht, haben verschiedene Philosophen unterschiedlich bestimmt. Bei McDowell ist es unser durch Vernunft geformter Charakter, bei Gehlen die Kultur, bei Cicero, Thomas von Aquin und Hegel die Gewohnheit.

    11 Michael Thompson, auf den Foot sich hier beruft, nennt solche Aussagen ›natural-historical judgments‹. Die Gesamtheit der wahren naturgeschichtlichen Aussagen über eine Spezies beschreibe deren ›life-form‹. Vgl. Thompson (2008), 63–82.

    12 Pointiert: »we are biologically so constituted that we cannot but develop and exercise the capacity for rational normative activity« (Rabbås 2015, 107).

    13 »The source of error is to think as if we had a choice whether to perform the human ergon or not, that is, be rational (a zōon logikon). Although it is true that humans are special in that they perform their ergon intentionally, this does not mean that what they intentionally do is to opt for (enter, take up) the human ergon [...]« (Rabbås 2015, 107).

    14 Vgl. etwa Watson 1990, bes. 462–4; Woodcock 2015.

    15 Vgl. etwa Watson 1990, bes. 462–4; Woodcock 2015.

    16 Ob Aristoteles selbst ein Tugendethiker avant la lettre war, möchte ich mit Christof Rapp bezweifeln. Die Nikomachische Ethik enthält einen kommentierten Katalog von Tugenden, aber Ethiken wie die aristotelische, die die Eudämonie als höchstes Gut auszeichnen und dann Mittel zur Erreichung desselben bestimmen, nannte man früher aus gutem Grund ›teleologisch‹ (vgl. Rapp 2010, 28). Ebenso zweifelhaft ist, ob Aristoteles ein aristotelischer Naturalist im Sinne von Foot und Hursthouse war. Rapp bilanziert: »Im Vergleich zu solchen Positionen bilden die expliziten Berufungen auf die Natur des Menschen bei Aristoteles einen methodisch begrenzten Beitrag und geben zudem nur einen allgemeinen Rahmen vor. Aristoteles ist außerdem – anders als zum Beispiel Nussbaum oder Hursthouse – nirgendwo in seinen ethischen Schriften darum bemüht, die Bedürfnisse des menschlichen Lebens auszubuchstabieren.« (Rapp 2010, 30).

    17 »Aristoteles’ These lautet also: Wenn wir das, was den Menschen ausmacht, seine Vernunftbegabung [...], betätigen, und zwar auf vortreffliche Weise (das heißt im Sinne der Tugend des Charakters und der Tugend des Verstandes), dann sind wir glücklich« (Primavesi/Rapp 2016, 97).

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